„Nie ge­hör­te, nie ge­ahn­de­te Wun­der-Ge­heim­nis­se der hei­li­gen Kunst“

Internationale Konferenz zum 200. Jubiläum von Beethovens Akademien im Mai 1824

Bonn, 4.-6. Mai 2024

von Francesca-Maria Raffler, Wien – 23.08.2024 | Der Aufwand hinter der Organisation dieser Tagung stand wohl jenem um nichts nach, den Beethoven zur Gestaltung seiner letzten beiden musikalischen Akademien am 7. Mai 1824(mit der Uraufführung der Neunten Symphonie) und mit leicht verändertem Programm am 23. Mai 1824 aufbrachte: Die internationale Elite der rezenten Beethovenforschung kam im Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses zusammen, um in einer gelungenen Konzeption aus thematisch breit gestreuten Panels und Roundtables wesentliche neue Forschungserkenntnisse und laufende Projekte vorzustellen und zu diskutieren. 

Absicht war, sich in der Auseinandersetzung mit den von Beethoven organisierten Akademien nicht ausschließlich auf die Uraufführung der Neunten zu fokussieren, sondern das Gesamtkonzept aus der Ouvertüre zu Die Weihe des Hauses sowie Kyrie, Credo und AgnusDei aus der Missa Solemnis in Zusammenspiel mit der 9. Symphonie zu betrachten. Die neu gewonnenen Forschungserkenntnisse flossen – exakt 200 Jahre nach Aufführung des Akademie-Programmes vom 7. Mai 1824 – in die rekonstruierte Fassung des Konzertes in der Historischen Stadthalle Wuppertal ein, ein Höhepunkt für alle Teilnehmenden. Es musiziertendas Orchester Wiener Akademie und der WDR Rundfunkchor, unter Leitung von Martin Haselböck.

Nach einer Begrüßung durch Malte Boecker und Ulrich Konrad sowie einer kurzen thematischen Einführung durch die Organisatorinnen der Tagung, Birgit Lodes und Christine Siegert, referierte im Themenblock „Krieg und Frieden, Erde und Himmel und das junge österreichische Kaiserreich“ Axel Körner (Leipzig) zur Rezeption von Beethovens Werken und Wirken in den italienischen Provinzen der Habsburgermonarchie. Christine Siegert (Bonn) sprach zur Programmgestaltung der Beethoven’schen Akademien im Kontext der Zeit, wobei sie eine Parallelführung mit Fidelio, in dessen Finale bereits Schiller vertont worden war, vollzog und generell den Bezug des Programms, insbesondere der Neunten Symphonie, zur Oper betonte. Dieser ist, sowohl auf räumlicher als auch auf sängerischer Ebene, essenziell für die Betrachtung des Konzertlebens im frühen 19. Jahrhundert, da laut Andrea Lindmayr-Brandl (Salzburg) Opernmusik ein Drittel des damaligen Konzertrepertoires stellte.Anna Sanda (Leipzig) rückte die Missa Solemnis als Spielball zwischen sakraler Sphäre und Profanem in den Fokus und sprach unter dem Titel „…himmelwärts emporgehoben‘?“ überden Aspekt des Rituals als transformativen Prozess am Beispiel der performativen Identitätsstiftung für die Habsburgermonarchie. Da die Gattung der Missa pars pro toto einer Messfeier entsprach, war eine Umbenennung der einzelnen Messteile in „Hymnen“ nötig, um sie im profanen Kontext zur Aufführung bringen zu können. Eine Ausnahme bildete der Typus des Concert spirituel, eine Form öffentlicher Generalproben für die Kirche, u.a. thematisiert von David Wyn Jones (Cardiff). Die Verbindung von Kirche, Theater und Konzertsaal sowie Zensurbestimmungen wurden intensiv diskutiert. 

Der zweite Konferenztag startete mit einem Panel zu Beethovens Akademien im kulturhistorischen Kontext. Esteban Buch (Paris) referierte zur Geschichte der Neunten als einer „sequence of community-building events“ und der Idee der Erschaffung von imagined communities, hier konkret durch die vieldiskutierte Anekdote des Umgedrehtwerdens von Beethoven durch Caroline Unger. Buch kontextualisierte und problematisierte die politischen Interpretationen von Beethovens Werken und die Narrative zu Freiheit und Europa, wobei er den eurozentristischen Charakter der angepriesenen Universalität wie auch den emotionalen Topos der kollektiven Freude besonders herausstrich. Daniel Chua (Hong Kong) leitete aus dem Zusammenhang zwischen dem Göttlichen, repräsentiert durch die Missa, den Menschen, dargestellt durch die Neunte, und der Kunst, entsprechend der Weihe des Hauses, dieFunktion der Akademien als Verbindungsglied von „Christianity, Civil Society und Culture“ab. Metaphorisch setzte er dazu Beethovens Schreibtischrequisiten mit Elementen aus der Neunten gleich. Birgit Lodes (Wien) analysierte öffentliche Ehrungen Beethovens, u.a. die durch Louis XVIII. verliehene Medaille und deren Hochstilisierung, zum Beispiel anhand einer lithografischen Darstellung in der Wiener Allgemeinen Musikzeitung. Relevant war dabei, wie beim Publikum schon vor den Akademien Erwartungshaltungen durch Selbst- und Fremddarstellung erzeugt wurden. Der sich selbst inszenierende Beethoven arbeitete an seiner eigenen Glorifizierung zu Lebzeiten aktiv mit. Wie durch die Analyse der während der zweiten Akademie verteilten, von Lodes wiederentdeckten „Ode a Lodovico“ deutlich wurde, fanden darin Topoi der Herrscherpanegyrik Anwendung. David Wyn Jones analysierte repräsentative Konzerte in Wien um 1820, wobei er zwischen einzelnen Subtypen und deren jeweiligem Bezug zu Örtlichkeit, Programm und Bezeichnung differenzierte. 

Nach einem Empfang durch den Henle-Verlag (Norbert Gertsch, München) wurde das an der Universität Wien und der TU Berlin angesiedelte FWF/WEAVE-Projekt „Concert Life in Vienna 1780–1830“ präsentiert. Im musikhistorischen Team der Universität Wien unter der Leitung von John D. Wilson befassen sich Cheston Humphries, Mary Kirchdorfer und Francesca-Maria Raffler mit der Erfassung, Standardisierung und Korrektur sämtlicher historischer Daten zu musikalischen Aufführungen im Wiener Konzertleben um 1800 und deren Ergänzung aus bisher unerforschten Quellen. Sämtliche Akteur*innen des Wiener Konzertlebens, das gespielte Repertoire, Aufführungsorte und Konzertereignisse werden mit den Methoden der Digital Humanities in einer multimedialen Datenbank erschlossen, die auch eine direkte Verlinkung zur Gemeinsamen Normdatei (GND) sowie zu Quellen und Literatur bietet. Das Berliner Team führte in die Methodik hinter den im Webauftritt integrierten raumakustischen 3D-Modellen zu den ca. 50 verschiedenen Spielstätten ein (Meret Lu Stellbrink, Berlin). Das Kartographie-Team (vertreten durch Melissa Ernstberger und Natalie O’Dell, beide Erasmus Mundus) stellte die innovative interaktive historische Karte Wiens vor.

Im anschließenden Roundtable, geleitet von John D. Wilson, wurde aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert, ob bzw. inwiefern es sich um eine „Ausnahmeakademie“ handelte. Beate Angelika Kraus (Bonn) brach dabei unter dem Schlagwort „Beethovens Team 1824“ das verklärte Bild des Genies auf und verdeutlichte detailliert die Leistung und Arbeitsumstände seiner Mitwirkenden und insbesondere der Kopisten. Theodore Albrechts Beitrag (Kent, USA) zu den ersten Proben sowie zu einzelnen beteiligten Individuen und deren Verhältnis zu Beethoven wurde verlesen. Den historischen Umbruch hin zu ersten raumakustischen Überlegungen bei der Auswahl von Konzertsälen führte Stefan Weinzierl (Berlin) aus. Neben akustischen Traktaten zeigte er mit einem Vergleich der Nachhallzeit zwischen dem ungewöhnlich trockenen Kärntnertortheater und dem halligen Großen Redoutensaal deutliche akustische Unterschiede auf, die er mit der Reaktion und Präferenz in zeitgenössischen Rezensionen zu Beethovens Akademien verglich. Andrea Lindmayr-Brandl referierte zum Phänomen des Komponistenkonzerts und der Lokalisation von Beethovens Akademien innerhalb dieses Genres. Dabei betrachtete sie neben der Raumauswahl auch die Eintrittspreise und legte erneut einen Fokus auf den Programmaufbau in Abwechslung zwischen Vokalem und großen symphonischen Klängen. Fragen der Akustik und der Orchesterstärke sowie der Besucheranzahl im Raum wurden intensiv diskutiert, dazu auch die bisher unerforschten Netzwerke um Beethoven, insbesondere die Mittler in Anbetracht seines Hörverlusts, und sein Vertrauen in konkrete Musiker bei der Ausarbeitung spieltechnisch komplexer Einzelstimmen. Im Roundtable fanden neben Beethovens Wirken in Wien vor den Akademien auch praktische und sozialhistorisch relevante Aspekte wie die Miete eines Saals, der Kampf mit Verwaltung, Zensur, Verlegern, die Auswahl von Raum, Orchester, Solisten, und die Bewerbung der Konzerte Berücksichtigung. 

Am letzten Konferenztag stand zunächst die Frage nach Existenz und Eigenart eines (symphonischen) Spätstils bei Beethoven im Zentrum. Moderiert von Tobias Janz (Bonn) philosophierte William Kinderman (Los Angeles) über das Chorfinale in Beethovens neunter Symphonie („A Process of Becoming to the ‘Blick nach oben’“). Er erinnerte daran, dass Schillers „Ode an die Freude“, später als Volksgedicht verklärt, bereits vor Beethoven mehrfach vertont worden war und stellte Verbindungen zum Heiligenstädter Testament her, im Hintergrund schwingen Elemente antiker, christlicher, freimaurerischer und altägyptischer Motive der Sehnsucht nach einem Tag der Freude mit. Paul Ellison (San José) sprach im Sinne der Tonartencharakteristik über „Topical Associations and Affective Vignettes“, die diedrei zur Aufführung gebrachten orchestralen Spätwerke Beethovens verbinden. Hans-Joachim Hinrichsen (Zürich) reflektierte über die unkonventionelle Verwendung der Pauke, bei der derKomponist offenbar einen bestimmten Musiker im Hinterkopf hatte, sowie über dieungewöhnliche Stimmung des Instruments. Diese neue Stufe des Raffinements schätzte er als Zeichen des Spätstils ein, sei es nun in der militärisch anmutenden Ouvertüre, derEffektbetonung des ersten Schlags in der Missa Solemnis oder dem Einsatz im „Dona nobis pacem“ als Klang des Kriegs, der vom Frieden abgelöst wird. Das Phänomen des Tanzes im Hintergrund von Beethovens symphonischem Schaffen stand bei Erica Buurman (San José) im Zentrum. Lisa Rosendahl (Bonn) beschäftigte sich mit frühen Bearbeitungen der Ouvertüre zu Die Weihe des Hauses, insbesondere Beethoven Distanzierung von dem von Karl Wilhelm Henning verfassten Klavierauszug, und illustrierte dabei den Streit um Publikationsrechte und Verlagspolitik.

Das letzte Panel widmete sich der weltweiten Rezeptions- und Aufführungsgeschichte von Missa solemnis und Neunter Symphonie. Moderiert von David B. Levy sprach Larissa Kirillina (Moskau), per Zoom zugeschaltet, über die Rezeption der Missa solemnis in Russland bzw. der UdSSR. Im folgenden Roundtable wurde die Aufführungsgeschichtebeider Werke in einigen nicht-europäischen Ländern bis etwa 1970 kartiert. Daniela Fugellie (Santiago de Chile) stellte die frühe Rezeption in Lateinamerika vor, insbesondere auch die Erstinterpretation durch Ethel Leginska und Maria Munoz de Quevedo in Kuba, die als erste Frauen die Neunte dirigierten. Jürgen May (Bonn) referierte unter dem Titel „Streng geteilt: Südafrikas Beethoven“ zur Hemmung der Rezeption durch Apartheid, auch wenn die Neunteals gemeinschaftsbildend und als Emblem der westlichen Kultur in quasi-sakraler Überhöhung gelte. Die Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte in den USA stellte Gregor Herzfeld (Regensburg) mit Fokus auf die Big Five Orchestras bis zum Zweiten Weltkrieg ins Zentrum, wobei er auch die Verarbeitung in der amerikanischen Popkultur von den Peanutsüber Clockwork Orange bis hin zum Rock betrachtete. Nancy November (Auckland, NZ) sprach (eher außergewöhnlich: nach einem Maori-Gebet) unter dem Titel „Placing Beethoven’s Ninth in New Zealand: Politics, Pandemics, and Performance Canon“ über den Import der britischen Musikkultur. Miki Kaneda (New York) stellte die ersten Aufführungen der Neunten in Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Zeichen der Etablierung der westlichen klassischen Musik in Japan vor. So wurde z.B. 1918 die Ouvertüre zu Die Weihe des Hauses zur Eröffnung der ersten Konzerthalle Japans eingesetzt. Die „Ode an die Freude“ sei seit 1947 Teil des offiziellen japanischen Unterrichtsprogramms und wird als Teil der Nationalkultur definiert. Das Resümee dieses Panel war die Erkenntnis, wie ähnlich die Motive in der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte weltweit sind und waren. Aneignungsprozesse (etwa Übersetzungen in die jeweilige Nationalsprache) fanden im 19. Jahrhundert allerorten statt. Insgesamt sind die Aufführungen von Beethovens anspruchsvollen späten Orchesterwerken ein hervorragender Indikator für die musikalische Ausbildung und Entwicklung eines klassischen Konzertwesens. 

Ergänzung fanden Konferenz und Konzert durch den 2. Bonner Beethoventag mit über hundert Musiker*innen und Interviews, gestaltet von den „Bürgern für Beethoven“ auf dem Bonner Marktplatz. Zudem wurden verschiedene filmische Auseinandersetzungen mit der Neunten rezipiert und diskutiert: Bereits am Vorabend der Konferenz fand die Europa-Premiere von Larry Weinsteins Film Beethovens Neun. Ode an die Menschlichkeit in Anwesenheit des Regisseurs statt. Am zweiten Konferenztag konnten die Anwesenden die Erstausstrahlung von Barbara Weissenbecks Film Beethovens Neunte und das Kärntnertortheater per Livestream verfolgen, der u. a. von den Tagungsteilnehmer*innen Birgit Lodes, John D. Wilson und Stefan Weinzierl mitgestaltet worden war. Zum Abschluss wurde im Rahmen der „Bürger für Beethoven“ der Film Following the Ninth in Anwesenheit des Regisseurs Kerry Candaele und zweier Protagonist*innen gezeigt, der im Anschluss mit dem Regisseur, Christine Siegert und Stephan Eisel, dem Vorsitzenden der Bürger für Beethoven, intensiv diskutiert wurde. 

Die Neunte Symphonie, die, wie Nancy November erinnerte, in die Liste der größten Errungenschaften des 19. Jahrhunderts neben Röntgenstrahlung und Darwins Theorien aufgenommen ist, drängte sich während der Tagung durchaus wiederholt in den Vordergrund. Besonders die ideologische Debatte zwischen der Idee eines universellen Inhalts versus einer Projektionsfläche politischer Agitation zog sich durch viele Diskussionen. Durch die Kontextualisierung mit den von Beethoven unmittelbar zuvor komponierten späten Orchesterwerken gewann dieses vermeintlich allbekannte, in jedem Fall viel besprochene Werk aber zahlreiche neue und unerwartet frische Perspektiven. In einem Tagungsbericht, der im Verlag des Beethoven-Hauses Bonn erscheinen wird, wird zeitnah mehr darüber zu lesen sein.