Die mu­si­ka­li­schen Be­zie­hun­gen zwi­schen La­tein­ame­ri­ka und Eu­r­o­pa als The­ma von drei Kon­fe­ren­zen im Jahr 2023

von Christina Richter-Ibáñez und Daniela Fugellie | Die Autorinnen dieses Berichts gründeten im Jahr 2014 mit weiteren Forschenden das internationale Netzwerk „Trayectorias. Musik zwischen Lateinamerika und Europa“, das sich zum Ziel gesetzt hatte, den musikwissenschaftlichen Austausch zwischen beiden geografischen Räumen zu fördern und zu verstärken (www.trayectorias.org). Damals nahmen wir wahr, dass sich nur wenige Musikwissenschaftler*innen den musikalischen Prozessen zwischen Lateinamerika und Europa widmeten, so dass es notwendig erschien, die einzelnen Ansätze zusammenzuführen und den Austausch von Ideen und Wissen zu verbessern – insbesondere zwischen Forschenden, die verschiedenen akademischen Kulturen auf beiden Seiten des Atlantiks angehörten. Fast ein Jahrzehnt später hatten wir nun im Jahr 2023 die Freude, in Europa gleich an drei Konferenzen teilzunehmen, die genau diese transatlantischen Prozesse in den Mittelpunkt stellten. Sie zeigen, dass diese Thematik heute auf der Agenda der europäischen und lateinamerikanischen Musikwissenschaft steht, wobei insbesondere Konzepte wie Transkulturalität, Hybridisierung und Übersetzung in Prozessen der iberoamerikanischen, transnationalen und globalen Musikzirkulation als theoretische Zugänge dienen.

Der Tagungsreigen begann in Paris. Vera Wolkowicz organisierte die Konferenz Music, Cultural Politics, and Identities: Transatlantic Encounters between European and Latin American Music and Musicians an der EHESS vom 25. bis 28. September 2023. Ursprünglich war die Tagung nur für zwei Tage geplant, doch aufgrund der vielen Referatsvorschläge, die auf den Call for Papers eingingen, entschied die Organisatorin die Veranstaltung auf vier Tage auszuweiten. Der CfP formulierte das Ziel der Konferenz sehr offen: Die verschiedenen Verbindungen zwischen europäischen und lateinamerikanischen Akteur*innen des Musiklebens im Hinblick auf Produktion, Interpretation und Ausbildung sollten thematisiert werden. Dabei war keine zeitliche oder sonstige Einschränkung gegeben; Vorschläge reichten von der Mobilität der Interpret*innen über die Musikpädagogik, Analyse, Wissenschaftsgeschichte, Kulturpolitik bis zur Musikindustrie.

Mehr als 50 Teilnehmende aus Lateinamerika, den USA und Europa nahmen an der Tagung in Präsenz oder virtuell teil, wobei die meisten Vorträge auf Spanisch gehalten wurden. Da es keine parallelen Sitzungen gab, war es möglich alle Vorträge anzuhören und in einen wirklichen Austausch mit allen Beteiligten zu gelangen. Die thematischen Referate erstreckten sich über verschiedene Epochen und von lateinamerikanischer Oper bis zu transatlantischem Rock und Pop, thematisiert wurden reisende Musikerinnen, politischen Hintergründe und Einflüsse Osteuropas sowie jüdischer und arabischer Traditionen in Südamerika. Die Mobilität der Musiker*innen, die Netzwerke und die Zirkulation des Repertoires waren wiederkehrende Aspekte nicht nur in den freien Referaten, sondern auch bei den Diskussionsrunden. Als Keynote Speaker war Alejandro Madrid eingeladen, der sich ergänzend einem ganz anderen Thema widmete: den in Archiven aufbewahrten Klangobjekten und ihren Geschichten. Madrid präsentierte das Kapitel „Listening through the Colonial Noise: Things, Sound Objects, and Legacy between Mexico and the Berliner Phonogramm-Archiv“ seines bald erscheinenden Buches über Soundarchive. Die Vorführung des Films L’escale von Antoine Sextier, der das lateinamerikanische Musikleben rund um die gleichnamige Bar im Quartier Latin seit den 1950er Jahren zusammenfasst, war ein besonderer Höhepunkt mit Paris-Bezug im Programm.

Viele der in Paris anwesenden Personen trafen sich einen Monat später an der Universität von Oviedo in Spanien wieder. Dort organisierte die Arbeitsgruppe „Musik und amerikanische Studien“ (MUSAM) der spanischen Gesellschaft für Musikwissenschaft (SEdeM) ihren in zweijährigem Turnus veranstalteten Kongress vom 26. bis 28. Oktober 2023. Das Thema lautete „Authentizität, Hybridität, Transkulturalität. Gemeinsame Schnittstellen und Diskurse in den Musiken Iberoamerikas“. Das historische Hauptgebäude der Universität Oviedo bot Raum für Vorträge in drei parallelen Sälen, Buchpräsentationen und Konzerte. Auch hier hatte ein Call for Papers dazu eingeladen, die Zirkulation, Rezeption, Aneignung und Umdeutung von Praktiken, Repertoires, Gattungen, Instrumenten sowie musikalischen und choreografischen Techniken zu betrachten und Wege, Überschneidungen und Hybridisierungen zwischen portugiesisch-brasilianischen und spanisch-amerikanischen Welten in den Blick zu nehmen. Authentizität, Originalität, Mischungen, Intertextualität, Einflüsse, Zitate, Aneignungen, Kontrafakturen, Varianten, Versionen und Cover, Dynamiken, Technologien und digitale Bedingungen benannte der CfP als mögliche Schwerpunkte. Die Konferenz wurde von den aktuellen Direktoren der Gruppe MUSAM, Javier Marín-López und Julio Ogas Jofré, eröffnet, an der Organisation war Belén Vega Pichaco als Vorstandsmitglied von MUSAM entscheidend beteiligt.

Die Keynote hielt hier die uruguayische Musikwissenschaftlerin Marita Fornaro. Ihr Vortrag betonte die Bedeutung des Exils als Generator von Netzwerken im Bereich der uruguayischen und lateinamerikanischen populären Musik. Die anderen 20 thematischen Sitzungen und Panels befassten sich mit verschiedenen Ansätzen, Musikstilen und Methoden, mit denen die musikalische Zirkulation zwischen Spanien und Lateinamerika von der Kolonialzeit bis zum 21. Jahrhundert untersucht wurde, einschließlich der Zirkulation von Menschen und Musikstilen, aber auch von Prozessen der Aneignung, Übersetzung und Transformation. So widmeten sich die Panels u. a. dem Musiktheater, der populären urbanen Musik, der akademischen Musik aus verschiedenen Epochen und Musikfestivals. Bemerkenswert war, dass sich mehrere Beiträge auf hybride Repertoires wie den chilenischen Flamenco oder Zarzuelas mit lateinamerikanischen Sujets konzentrierten. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Untersuchung der Rolle der Medien wie Radio, Presse und Musikzeitschriften. Mit diesen Ansätzen bot die Konferenz ein Panorama, das sich für soziale Prozesse, für die Migration von Menschen, Repertoires und Ideen interessierte und sich kritisch mit den Diskursen der Authentizität und ihren historischen Legitimationen auseinandersetzte.

Von dieser Konferenz wird es voraussichtlich einen Kongressbericht geben. Die Veröffentlichung der vorausgegangenen MUSAM-Konferenz in Santiago de Compostela 2021 unter dem Titel Músicas iberoamericanas interconectadas: caminos, circuitos y redes, herausgegeben von Javier Marín, Montserrat Capelán und Paulo Castagna (2023), wurde in Oviedo präsentiert.

Eine Woche später traf sich eine andere Arbeitsgruppe der SEdeM mit dem Titel „Musik und Presse“ (MUSPRES) an der Universität von La Rioja (Spanien). Vom 2. bis 4. November widmete sich auch MUSPRES den transatlantischen Beziehungen und tagte in Verbindung mit dem VII. Symposium über Musik und Kritik der Bundesuniversität Pelotas (Brasilien). Die Organisation lag in den Händen von Belén Vega Pichaco für MUSPRES und dem brasilianischen Kollegen Guilherme Goldberg. Obwohl die transatlantischen Kulturnetzwerke und die Verbreitung des musikalischen und darstellerischen Repertoires ebenfalls im Mittelpunkt standen, lag der Schwerpunkt auf dem Einfluss der Musikpresse und der transatlantischen Produktion, Distribution und Rezeption von Musikzeitschriften. Die Konferenz umfasste rund 40 Vorträge und fand am dritten Tag im historischen Kloster Yuso in San Millán de la Cogolla statt. Im Eröffnungsvortrag widmete sich Daniela Fugellie der Revista Musical Chilena als Raum der transatlantischen Kulturbeziehungen, wobei sie sich insbesondere auf die Netzwerke zwischen Spanien und Lateinamerika konzentrierte, die in der Zeitschrift während der Zeit der Herausgeberschaft vom spanischen Exilanten Vicente Salas Viu im Mittelpunkt standen.

Aufgrund der Zusammenarbeit zwischen spanischen und brasilianischen Organisatoren war diese Konferenz stärker portugiesisch-brasilianisch geprägt als die beiden vorangegangenen Konferenzen. So gab es einen runden Tisch der ARLAC/IMS-Arbeitsgruppe „Musik und Periodika“, der von Maria Alice Volpe koordiniert wurde, und ein thematisches Panel, das ausschließlich der brasilianischen Presse gewidmet war. Weitere Themen waren u. a. intellektuelle Netzwerke, Kulturdiplomatie und die Rekonstruktion von Migrant*innenbiografien durch die Presse. Der runde Tisch „Herausforderungen und Möglichkeiten der Digitalisierung und des Einsatzes von künstlicher Intelligenz im Bereich Sprache und Musik“ befasste sich mit den Herausforderungen der aktuellen Technologien; unter anderem wurde das Projekt „Lexikon in Spanisch und Ontologie der Musik“ von María Palacios Nieto vorgestellt.

Die Anzahl und die thematische Breite der Vorträge auf den drei Konferenzen machten deutlich, dass transatlantische Themen Forscher*innen aus vielen Ländern zusammenbringen und damit die Musikwissenschaft stärker als in den vergangenen Jahrzehnten vernetzen. Weitere Entwicklungen sind zu erwarten: Die nächsten Konferenzen zu diesem Thema sind bereits für 2024 und 2025 geplant.