Er­sun­ge­ner Rausch: Trink­lie­der von der An­ti­ke bis zur Ge­gen­wart

Essen, 23.-25.05.2024

Von Philipp Lojak, Essen – 06.07.2024 | Der Konsum von Alkohol gehört ebenso wie das gemeinschaftliche Singen seit Jahrtausenden zum menschlichen Leben. Die Tagung „Ersungener Rausch“, die am 23. bis 25. Mai 2024 an der Folkwang Universität der Künste in Essen in Kooperation mit der Universität Leipzig stattfand, beschäftigte sich mit jenen Phänomenen, bei denen beide (Kultur-)Praktiken zusammen­fallen: Trinklieder von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei sollen Situativität und Kollektivität betrachtet, aber auch Fragen der Identität und Körperlichkeit untersucht werden.

Aus dem Füllhorn an Themen stellten die Organisatoren fünf Themenblöcke zusammen: Politik, (maskuline) Gemeinschafts­bildung, Religion, Kritik und (Über-)Regionalität bildeten die Eckpfeiler der Tagung, wobei drei Vorträge zwecks fachlichen „Vorglühens“ die Bandbreite des Tagungsthemas einleitend beleuchteten.

Literaturwissenschaftlerin Andrea Polaschegg (Universität Bonn) machte mit einem Vortrag über Klabunds (alias Alfred Heschke) Das trunkene Lied. Die schönsten Sauf- und Trinklieder der Weltliteratur einen literaturwissenschaftlichen Aufschlag. Dabei analysierte sie nicht nur einen Standpunkt des beginnenden 20. Jahrhunderts, der das Trinklied zur Gattung weltliterarischen Ranges erhob und dessen Textauswahl für jene Anthologie eine ideologische Vereinnahmung verrät. Es eröffnete auch einen ersten Blick auf das Panoptikon alkoholhaltiger Lyrik weltweit.

Die Präsentation Friedrich Geigers (HMT München) hingegen ging geschichtlich weit zurück; er referierte über den neusten Stand in der Erforschung antiker, griechisch-römischer Musik. Die Lyrik des im 6. Jahrhundert v. Chr. wirkenden Anakreon war zu dessen Lebzeiten bereits kanonisch und wurde später von Horaz, aber auch ab dem 18. Jahrhundert umfassend rezipiert. Dabei kann anhand von Vasenabbildungen vermutet werden, dass diese Texte (von Anakreon selbst) gesungen und instrumental begleitet wurden.  Mit der Beschreibung des „Skolion“ beleuchtete Geiger eine spielerische, wetteifernde Komponente antiken Gesangs: Bei Symposien der Antike wurden diese Stehgreif- bzw. „Krummgesänge“ als Geschicklichkeits- und Trinkspiel praktiziert.

Nino Ghambashidze (Staatliches Wano-Saradschischwili-Konservatorium, Tiflis) versuchte eine erste regionale Studie und umspannte dabei mehrere Jahrtausende: Georgien ist nicht nur eine der ältesten Weinanbauregionen weltweit, sondern verfügt auch über eine distinktive Bankett- und Trinklied­tradition. Bemerkenswert ist hierbei die Überschneidung mit kirchlicher Musik.

Politik: Ist das Trinklied inhärent politisch?

Da es sich bei Trinkliedern um Praktiken handelt, die stark von einem Kollektiv abhängig und deshalb entsprechend konzipiert sind, kann anhand dieser Lieder auf jenes Kollektiv rückgeschlossen werden. Einen Anfang dafür machte Silvia Bier, die anhand einer Mikrostudie der Airs à boire von Jean Regnault, herausgegeben in den Receuil d’airs serieux et à boire von Christophe Ballard, den urbanen und höfischen Aufführungs- und Rezeptions­kontext herausarbeitete.

Wenn das Trinken und das begleitende Singen in der Öffentlichkeit stattfinden, ergibt sich daraus eine potenziell politische Konstellation. Anglist Felix Sprang (Universität Siegen) untersuchte die Öffentlichkeit (Habermas) in sogenannten alehouses im (nach-)elisabethanischen England. Die überlieferten Lieder, von den königlichen Zensoren nicht angetastet, zeugen von politischen Positionierungen der englischen Bevölkerung zu ihrer Obrigkeit.

Zum Ende des ersten Tages bot Ann Tlusty, Emerita der Bucknell University, den wohl umfassendsten Versuch der Tagung, das Trinklied phänomenologisch und in seinem politischen Potenzial zu erfassen: Das Trinklied ist inhärent politisch, so ihre These. Das gemeinsame Trinken erschafft eine soziale Bindung mit den Saufkumpanen, schließt aber auch Außenstehende aus. Dabei situiert sie ihre These in der Kultur der frühen Neuzeit. Wer sich dem Rausch hingab, exponierte eine Verwundbarkeit, was Abhängigkeit erzeugte, gleichzeitig aber auch Ungehorsam und Souveränität zum Ausdruck brachte. So sei das Trinklied, wenn auch nicht immer explizit, aber im Effekt immer politisch.

(Maskuline) Gemeinschaftsbildung

Claudius Hille (Universität Tübingen) referierte am zweiten Tag über eine gesellschaftliche Gruppe, die verhältnismäßig oft mit ritualisiertem Alkoholkonsum in Verbindung gebracht wird: Studenten. Dabei verdeutlichen Beispiele aus der frühen Neuzeit, wie mit von Liedern begleiteten Trinkritualen soziale Eingliederung und Disktinktion erreicht wird.

Seine Forschungsergebnisse zu H. I. F. Bibers Unterhaltungsstück Battalia für zehn Instrumente von 1673 trug Charles E. Brewer, Emeritus der Florida State University, vor. Er ordnete die von Biber verwendeten Melodien, von denen eine als G. H. Schreibers Nachschöszlinge mit dem Text „Ecce frisch Bier“ zu identifizieren ist, in den zeitgenössischen Kontext ein. Dabei ging er auf die Umstände von Bibers Komposition, den Dreißigjährigen Krieg und dessen Söldnerheere sowie das damalige Verständnis von Nationalität ein.

Anschließend präsentierte Tobias Bulang (Universität Heidelberg) einen philologischen Blickwinkel zur karnevalesken Literatur. Festgelage und Völlerei sind ein Kernmotiv der Rabelais’schen Welt, insbesondere in dessen Werk Gargantua, das in der Übersetzung von Johann Fischart (1575 und 1590) durch eine umfassende Einarbeitung von Trinkliedern ergänzt wird. Bulang analysierte dabei die sprachlichen Anspielungen als „Klanginstallation“ innerhalb des Romans.

Religion: Von der geistlichen Trunkenheit

Alkoholische Getränke und ihr Konsum sind mitnichten nur der weltlichen Sphäre zuzurechnen. Wie Sonja Tröster (Universität Wien) zeigte, sind im 16. Jahrhundert mehrstimmige Chorsätze zu finden, die Kirche sowie Ess- und Trinkkultur durch doppelt kodierte Wörter bzw. Melodien gleichsam bedienten. Besondere Berücksichtigung fand hierbei der Scherzkanon „Al vol“ und die Martinslieder von Georg Forster.

Michael Fischer (Zentrum für populäre Kultur und Musik Freiburg) untersuchte in seinem Vortrag die Implikationen von Abendmahlsliedern in der frühen Neuzeit, die in erster Linie die reinigende Funktion des Weintrinken in der Eucharistie affirmierten. Im Unterschied zu vielen anderen Beispielen der Tagung ist hier der Aspekt der Körperdisziplin bemerkenswert: Zwar wurde die Transzendenz der „geistlichen Trunkenheit“ geschätzt, doch gleichzeitig war ein Kontrollverlust nicht hinnehmbar.

Mit einem äußerst amüsanten Konzertprogramm mit Stücken aus dem Trinklied-Spektrum leitete das Folkwang VOKALENSEMBLE (Leitung Jörg Breiding) über zu einem Themenblock, der sich unter anderem mit Alkohol-Kritik, Anti-Trinkliedern sozusagen, auseinandersetzte.

Kritik: „Drinking with Jesus“

Mit der Kirche gibt es eine scharfe Kritikerin des Alkoholrausches und seinen Nebenwirkungen. Chanda VanderHart, Pianistin und Musikwissenschaftlerin (mdw Wien), untersuchte in ihrem Vortrag die Beziehung zum Alkohol in der US-amerikanischen Musik im 20. Jahrhundert. Diese Verbindung ist geprägt von einer Instrumentalisierung im Zusammenhang mit der Prohibition sowie von imaginierten Sauferlebnissen mit dem Allmächtigen als Ausdruck von Unzufriedenheit: „Drinking with Jesus.“

Auch die auf Alte Musik spezialisierte Musikwissenschaftlerin Nicole Schwindt analysierte nicht Lieder, die Trunkenheit zum Ziel haben, sondern im Gegenteil dagegen opponieren. Umfassend legte sie den flächendeckenden Abusus von Alkohol in den studentischen Milieus des beginnenden 16. Jahrhunderts dar und argumentierte anschließend für eine satirische, ermahnende bis diabolisierende Funktion von Alkohol-Bezugnahmen im deutschen polyphonen Lied dieser Zeit.

Überregionale Aspekte

Katharina Hottmann, als neu ernannte Professorin für Historische Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste Gastgeberin der Tagung, widmete sich in ihrem Referat dem Rätsel der „liederlosen Zeit“ in Deutschland 1680 bis 1730. Da Trinklieder sozial stärker eingebettet sind und somit mehr von ihrem gesellschaftlichen Umfeld verraten als andere Gattungen, könnten sie einen Hinweis geben, warum zu dieser Zeit in Deutschland im Vergleich zu England oder Frankreich nur wenige Lieder publiziert wurden. Während finale Schlussfolgerungen verfrüht sind, könnte ein Ansatzpunkt die Praxis der Mehrfachverwendung bekannter „Tunes“ sein, was in Deutschland weniger üblich war.

Dem englischen Trinklied 1580-1650, sogenannten catches, widmete sich Katherine Butler (University of Northumbria). Sie beschrieb damit gleichsam auch allgemeine Funktionsweisen des Trinkliedes. Ausführlich ging sie auf diese monodischen Lieder im Kontext des alehouse ein: Mit dem Singen absurder Texte und Zungenbrecher wurde die Trinkfestigkeit bewiesen und somit Status signalisiert, womit eine Stärkung der Gemeinschaft erreicht wurde.

Regionale Aspekte

Wienerlied und Operette: „I bin a stiller Zecher“ – Mit dem Wienerlied wurde bei dieser Tagung ein regionaler Schwerpunkt auf die österreichische Hauptstadt gesetzt. Wolfgang Fuhrmann, Professor für Musiksoziologie und Musikphilosophie an der Universität Leipzig und Ko-Organisator der Tagung, stellte in seinem Vortrag fest, dass im Wienerlied die Steigerung der Lebensintensität als identifikatorisches Moment genutzt wird. Gleichzeitig ist dies Folie von nationalkonservativen Aggressionen gegen modernistische Störungen.

Aus der US-amerikanischen Perspektive betrachtete Barbara Dietlinger (University of North Texas) das Wienerlied in ihrer Präsentation über Hermann Leopoldi. Anhand der Einzelstudie von „I bin a stiller Zecher“ ließen sich die interkulturellen Austauschprozesse zwischen der deutsch-österreichischen Migranten-Community in den USA im Kontext der Feierkultur während des zweiten Weltkriegs beobachten.

Wiebke Rademacher von der MUK in Wien stellte in ihrem Beitrag fest, dass Alkohol – rein quantitativ – in den Opern und Operetten der 1920er und 1930er eine zunehmende Rolle spielte. In der Analyse insbesondere von Adrienne von Walter Wilhelm Goetze (1926) und Die lockende Flamme von Eduard Künneke (1933) konstatierte sie neben den Effekten auf die wahrgenommene Kollektivität eine enge Verbindung zwischen Alkohol und Lokalkolorit, Exotismus, Realitätsflucht und körperlicher Liebe.

Deutschland: „Der Schlager hat ein Alkoholproblem“

Zum Ende der Tagung fokussierten sich schließlich zwei Vorträge auf populäre Trinklieder in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei präsentierte der Musikhistoriker Dietrich Helms (Universität Osnabrück) die äußerst aufschlussreichen Ergebnisse einer von ihm durchgeführten quantitativen Studie über den deutschen Schlager in Westdeutschland 1945-1989. Helms quantifizierte die Nennungen von Alkohol in den Liedtexten und konstatierte: „Der Schlager hat ein Alkoholproblem.“ Er stellte fest, dass die Hochs der Nennungen von Alkohol mit den Hochs des Alkoholkonsums in den späten 1970ern und einer zunehmend hedonistischen Lebensweise koinzidierten.

Dies ist auch die Zeit, der sich Knut Holtsträter (Universität Freiburg) widmete. Er kontextualisierte James Lasts Studioalben in die Feier- und Trinkkultur der 1970er und ging dabei auf die Dramaturgie und das Umfeld heimischer Partys ein, insbesondere auf das bemerkenswerte Phänomen des „Partykellers“.

Epilog

In einer Abschlussdiskussion wurden Argumente über die mögliche Perspektive und Desiderata eines Tagungsbandes oder eines Handbuches ausgetauscht. Es stellt sich die zentrale Frage, inwiefern es sich beim Trinklied um eine Gattung handelt und wie diese zu definieren sei. Definiert sich das Trinklied durch die Verwendung innerhalb einer kulturellen Trinkpraxis oder über das Sujet und den Text? Wie verhält sich das Trinklied zur Trinkpraxis süd- und nordeuropäischer Länder? Tatsächlich fanden sich auf dieser Tagung Lieder, die zum Trinken animieren wie solche, die dem ablehnend gegenüberstehen. Wie ist das Verhältnis aus Weltflucht, Identität und Katharsis? Welche Beziehung besteht zum Tanz? Ein Desideratum ist sicherlich das studentische Trinklied im 19. Jahrhundert wie auch die weitere Elaboration des Verhältnisses zum Nationalismus. Auch das Trinklied im Musiktheater konnte auf dieser Tagung nur peripher behandelt werden. Diese vielen Fragen, Ausweis der Mannigfaltigkeit des Themas „Trinklied“, müssen einstweilen unbeantwortet bleiben, doch ein erster Schritt in Richtung einer systematischen Auseinandersetzung mit der Verbindung von Musik und Alkohol ist getan.