In­ter­dis­zi­pli­näre Ta­gung „Schlaf­mu­sik / Sleep Mu­sic“

Regensburg, 02.-04.05.2024

Von Emily Martin – 01.07.2024 | „Schlafmusik“ lautete das übergeordnete Thema der interdisziplinären Tagung, zu der Katelijne Schiltz und Franziska Weigert vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Regensburg eingeladen hatten. Vom 2. bis 4. Mai 2024 kamen Wissenschaftler*innen aus mehreren Ländern in Regensburg zusammen, um sich über Disziplingrenzen hinweg mit den Zusammenhängen von Musik und Schlaf auszutauschen. In den Vorträgen wurden sowohl großangelegte Forschungsverbünde als auch kleinere Projekte vorgestellt, wobei historische Aspekte und systematische Ansätze gleichermaßen berücksichtigt wurden. Da für die Tagung bewusst keine zeitlichen, stilistischen oder thematischen Grenzen vorgegeben wurden, konnten verschiedene Blickwinkel verfolgt und methodische Akzente gesetzt werden.

Wie wichtig Schlaf für Körper und Geist des Menschen ist, wurde den Teilnehmenden der Tagung im Grundsatzreferat von Eckart Altenmüller (Hannover) ins Bewusstsein gerufen. Altenmüller erklärte anschaulich, welche Prozesse während des Schlafens im menschlichen Körper ablaufen. Neben Auswirkungen auf Gehirn, Herz, Stoffwechsel und Immunsystem hob er die Rolle des Schlafs bei der Festigung des unter dem Tag Erlernten und damit die besondere Bedeutung für Musiker*innen hervor. Darüber hinaus erklärte er, wie Musik anstelle von Medikamenten wirksam gegen Schlafstörungen eingesetzt werden kann.

Musik wird seit hunderten von Jahren genutzt, um den Übergang vom Wachzustand in den Schlaf zu begleiten. Die unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen von Wiegenliedern wurden im Rahmen der Tagung sowohl aus neurologischer als auch historischer Perspektive beleuchtet. In den verschiedenen Vorträgen konnte gezeigt werden, dass Musik nicht nur auf Kinder, sondern auch auf Erwachsene und Tiere eine schlaffördernde Wirkung hat. Franziska Degé gab im Rahmen ihres unter der Frage What do we know about Singing Lullabies to Infants and Children? stehenden Vortrags einen Überblick zum aktuellen Forschungsstand. Degés Recherche hat offengelegt, dass die bisherigen Studien zu Wiegenliedern auf bestimmte Aspekte – wie beispielsweise Eingrenzung auf singende Mütter, Durchführung im klinischen Rahmen, Verwendung von Aufnahmen – beschränkt sind und das Thema dadurch überwiegend einseitig beleuchten.

Die Tagung diente auch der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse. Camila Bruder stellte in ihrem Vortrag mit dem Titel The Unique Vocal Quality of Lullabies die neuesten Erkenntnisse ihrer zuletzt durchgeführten Studie vor. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war die Vermutung, dass insbesondere die Art der Darbietung entscheidend dafür ist, ob ein Stück – unabhängig von kompositorischen Charakteristika – als Wiegenlied wahrgenommen wird. Im Rahmen ihrer Studie ließ Bruder dieselbe Melodie in drei unterschiedlichen Gesangsstilen – als Wiegenlied, Popsong und Opernarie – singen und in zwei an unterschiedliche Adressaten – Erwachsene und Kinder – gerichteten Arten sprechen. Im Anschluss daran führte sie akustische Analysen der Singstimme durch, um die einzigartige stimmliche Qualität beim Vortrag eines Wiegenlieds belegen zu können. Ihre Untersuchungen konnten zeigen, dass das Singen von Wiegenliedern fest mit einem besonderen akustischen Profil verbunden ist, das auf bestimmte messbare, stimmliche Eigenschaften zurückgeführt werden kann.

Obwohl Brahms’ Wiegenlied eines der bekanntesten Wiegenlieder der Musikgeschichte ist, stellten Karen Leistra-Jones’ Ausführungen keine Wiederholung bereits bekannten Wissens zu diesem populären Stück dar. Vielmehr eröffnete Leistra-Jones’ Vortrag einen neuen Blick auf dieses gleichermaßen als Kunstlied wie als funktionale Musik zu verstehende Wiegenlied. Sie wies nicht nur auf neuentdeckte intertextuelle Referenzen hin, sondern warf durch die Einordnung des Wiegenlieds in geschlechtsspezifische Diskurse über Mutterschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts auch neues Licht auf Brahms’ Werk. Denn mit der Verlagerung des Forschungsschwerpunkts vom Kind zur Mutter lassen sich Rückschlüsse über die Erfahrung von Müttern während der Zeit nach der Geburt nachvollziehen. Sie erläuterte, dass das Singen von Wiegenliedern nicht allein dazu diente, das Kind in den Schlaf zu wiegen, sondern darüber hinaus eine wichtige subjektive Funktion für die Mutter erfüllte, indem es ihr im Umgang mit der neuen Situation helfen konnte.

Mit Max Regers Mariä Wiegenlied, das im Vortrag von Claudia Seidl beleuchtet wurde, stand ein weiteres bekanntes Wiegenlied auf dem Programm der Tagung. Es liegt in zahlreichen Bearbeitungen, sowohl durch Reger selbst als auch durch andere Komponisten, vor. Seidl nahm diesen Umstand zum Anlass für einen Vergleich verschiedener Bearbeitungen, von denen manche durch eine für ein Wiegenlied ungewöhnliche Besetzung – beispielsweise für Militärkapelle – auffallen.

Dass unter dem Thema „Schlafmusik“ mehr zu verstehen ist als Wiegenlieder, wurde von Anna Belinszky deutlich gemacht, in deren Vortrag ein weiteres Mal das Schaffen Brahms’ im Zentrum der Analyse stand. Belinszky zeigte anhand ausgewählter Beispiele auf, wie Bilder von Tod, Schlaf und Traum in Brahms’ Werken auf verschiedene Weise miteinander in Verbindung gesetzt werden. Sie ging zunächst auf die musikalische Gestaltung dreier Lieder (Der Tod, das ist die kühle Nacht, Feldeinsamkeit und Immer leiser wird mein Schlummer) ein, die das Verhältnis von Traum und Tod aus drei unterschiedlichen Gesichtspunkten beleuchten und für die der Komponist dennoch auf ähnliche musikalische Mittel zurückgriff. Im Anschluss daran stellte Belinszky anhand ausgewählter Klavier- und Kammermusikwerke vor, wie Brahms die in den Liedern für die Darstellung der assoziativen Verbindung von Traum und Tod gewählten musikalischen Ausdrucksmittel auf reine Instrumentalmusik übertrug.

In den Gothic Plays, die ab den 1770er/80er Jahren in England aufkamen, hat die Nacht durch eine bedrohliche und unheimliche Inszenierung jegliche beruhigende Wirkung verloren. Anna Ricke stellte fest, dass die Nacht, die in jener besonderen Form des englischen Schauspiels zu einer Zeit des Schreckens, der Albträume und der Schlaflosigkeit wurde, oftmals in Zusammenhang mit bestimmten Geräuscheffekten beschrieben ist. Im Rahmen ihrer aktuellen Forschung untersucht Ricke die unterschiedlichen, während der Nacht in Gothic Plays um 1800 geschilderten Klänge. Obwohl es sich dabei überwiegend um Geräusche aus dem Schloss oder dem Wald handelt, können auch Schlaflieder gelegentlich in diesen Werken zu Gehör kommen. Anstatt ihre konventionelle Funktion zu erfüllen und eine beruhigende Wirkung zu entfalten, verfolgen die als unheimliche Klänge des Übernatürlichen eingesetzten Schlaflieder die Absicht, die Hörenden in Schrecken zu versetzen und vom Schlafen abzuhalten.

Erfahrung mit schlaflosen Nächten machte auch der Komponist Steve Potter nach der Geburt seines Kindes. Seine Komposition Music for the Sleepy (2013/14) stellt eine psychologische Beschreibung jener Phase der Nacht dar, in der junge Eltern, von ihrem schreienden Baby geweckt, mit Schlaflosigkeit und Orientierungslosigkeit zu kämpfen haben. Den während der Wachphase durchlebten Zustand versuchte Potter in seiner Komposition nachvollziehbar zu machen, indem er aufgenommene Schreie eines Babys mit drei akustischen Instrumenten und Geräuschen, die mithilfe von Kissen, Milchflaschen und einem Ventilator erzeugt wurden, kombinierte. Zwischen diese Klänge integrierte Potter mehrmals Zitate von Brahms, die als kurze Momente der Klarheit innerhalb des Stücks besonders hervortreten. Nach einer knappen Erläuterung der Entstehungshintergründe und der musikalischen Gestaltung durch Potter konnte die Komposition in einer Aufnahme angehört werden.

Der für den Menschen essenzielle Schlaf wurde im Laufe der Musikgeschichte oft und in unterschiedlichen Kontexten thematisiert. Besonders im Musiktheater stellt der Schlaf ein häufig wiederkehrendes Thema dar. Schlafszenen erfreuten sich seit dem 17. Jahrhundert besonderer Beliebtheit und entwickelten sich zu einem eigenen Szenentypus. Nastasia Heckendorff zeigte in ihrem Vortrag die historische Entwicklung der Schlafszene in der Oper auf. Sie veranschaulichte die große Bandbreite an Schlummerarien und die vielfältigen Funktionen, welche Schlafszenen innerhalb der Oper oder des Oratoriums des 17. Jahrhunderts annehmen können. Damit stützte sie ihre These, dass die Schlafszene insbesondere aufgrund ihrer dramaturgischen Flexibilität derartige Popularität innerhalb von Musiktheaterwerken erlangen konnte.

Auch im Vortrag von Hanna Walsdorf und Elizabeth Dobbins, die aus dem aktuellen, groß angelegten SNF-Forschungsprojekt The Night Side of Music. Towards a New Historiography of Musicking in Europe, 1500-1800 berichteten, stand mit der bekannten Schlafszene aus Lullys Tragédie Lyrique Atys ein musikdramatisches Werk des 17. Jahrhundert im Mittelpunkt. Ausgehend von der zuletzt durch die Forschung festgestellten Erkenntnis darüber, dass der Mensch in der frühen Neuzeit biphasisch schlief, regte Walsdorf dazu an, die gewohnte Praxis, im Musiktheater gezeigte Schlafszenen zwangsläufig in der Nacht zu verorten, kritisch zu reflektieren. Insbesondere wenn die Ursache des Schlafens, wie in Atys, nicht in physischer oder emotionaler Erschöpfung begründet liegt, sondern durch Magie verursacht wird, hält Walsdorf es für naheliegend, dass die Schlafszene während des Tages und nicht – wie lange Zeit angenommen – in der Nacht spielt.

Während sich unter den Schlafszenen von Musiktheaterwerken aus dem 17. Jahrhundert einige musikalische Gemeinsamkeiten feststellen lassen, bedarf es bei der Analyse solcher Szenen in Opern aus dem 20. Jahrhundert anderer Herangehensweisen. Joy H. Calico erläuterte in ihrem Vortrag The Sommeil as Scene Type in Opera since ‚Salome‘, dass die starke musikalische Diversifizierung in der Oper seit Salome nach einer Aufstellung von Szenentypen verlangt, die unabhängig von der musikalischen Sprache stehen. Sie schlug vor, bei der Analyse von Schlafszenen die Frage danach, was in der Zeit, in der die Charaktere schlafen, passiert, in den Mittelpunkt zu stellen und die Schlafszene ausgehend von dieser Frage verschiedenen Subtypen zuzuordnen, wobei sie Kategorien wie „sick sleep“, „comic sleep“ oder „fake sleep“ als mögliche Beispiele nennt.

Patrick Mertens erweiterte die Thematik des Schlafens im Musiktheater mit seinem Vortrag über Traumballette im Musical. Die sogenannten „Dream Ballets“, die im Zentrum von Mertens’ Vortrag standen, stellen eine Sonderform der Traumsequenz im Musical dar. Ausgehend von dem Traumballett in Oklahoma!, dem Schlüsselwerk hinsichtlich der weiteren Rezeption des „Dream Ballets“, gab Mertens einen Überblick über die historische Entwicklung dieses Szenentyps. Da die szenisch dargestellten Traumwelten den Komponist*innen mehr Freiheiten bieten als andere Szenen eines Musicals, werden „Dream Ballets“ oft als musikalische Experimentierfelder genutzt, in denen musikalisches Material des Stücks kunstvoll verarbeitet wird.

Ein wichtiger Beitrag zur Erweiterung der thematischen Bandbreite der Tagung wurde durch Martin Ullrich geleistet, der sich in seiner Forschung mit dem Einfluss von Musik auf Tiere beschäftigt. Ullrich fasste in seinem Vortrag die wichtigsten Erkenntnisse von Studien über die Wirkung von Musik auf den Schlaf von Tieren zusammen. Im Anschluss daran wies er auf problematische Aspekte dieser Untersuchungen hin, indem er darlegte, welchen starken Einfluss historisch gewachsene Vorstellungen von der Beeinflussung von Tieren durch menschliche Musik – wie es beispielsweise im Orpheus-Mythos der Fall ist – auf die durchgeführten Studien nahmen. Da Musikwissenschaftler*innen bei der bisherigen Forschung nur in geringem Maß beteiligt waren, fehlen darüber hinaus entscheidende Informationen über die in den Studien verwendete Musik. Ullrich betonte daher bei seiner Forderung einer Durchführung neuer empirischer Studien die Notwendigkeit einer stärkeren Beteiligung von Musikwissenschaftler*innen.

Dass Musikwissenschaftler*innen bei den Untersuchungen der Effekte von Musik auf Schlaf von psychologischer oder neurowissenschaftlicher Seite bislang kaum miteingebunden wurden und der in den Studien verwendeten Musik selbst demnach kaum bis keine Beachtung geschenkt wurde, stellt ein von musikwissenschaftlicher Seite erkanntes Defizit dar, dem inzwischen jedoch bereits entgegengewirkt wird. In dem Forschungsprojekt Lullabyte, das im Rahmen der Tagung durch Miriam Akkermann vorgestellt wurde, werden derzeit die Effekte von Musik und Sound auf Schlaf in einer interdisziplinären Zusammenarbeit aus Musikwissenschaft, Neurowissenschaft, Psychologie und Datascience untersucht. Im Anschluss an eine Erläuterung der Ziele, Ansätze und Methoden von Lullabyte durch Akkermann, stellte Uǧur Can Akkaya einen Teil seines Forschungsprojekts über den Einfluss von speziell zur Unterstützung besseren Schlafs komponierter Musik auf die individuelle Schlafqualität vor. Akkaya schilderte zunächst den Aufbau und die Durchführung seiner Studie, in der er subjektive und objektive Einflüsse gleichermaßen berücksichtigen möchte. Daraufhin präsentierte er die mithilfe qualitativer und quantitativer Messtechniken ermittelten und bereits analysierten Daten und stellte erste Ergebnisse vor.

Zur Verbesserung des Schlafs soll neben Musik auch sogenannter „white noise“ beitragen. Raphael Börger sprach in seinem Vortrag über die gegenwärtig populäre Praxis des Rauschen-Hörens. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse seiner ethnographischen Untersuchungen und mit dem Rückgriff auf musiksoziologische Ansätze, erläuterte er, inwiefern das Rauschen-Hören über die Funktion als Einschlafmittel hinaus, als soziale und ästhetische Hörpraxis innerhalb der Gesellschaft fungiert.

Wenn das Streben der Menschen nach erholsamem Schlaf mit dem Hören allein nicht mehr erfüllt werden kann, müssen andere Lösungsansätze gefunden werden. Bei physiologisch bedingten Schlafstörungen, wie beispielsweise der durch das steigende Übergewicht in der Bevölkerung stark zunehmenden obstruktiven Schlafapnoe, kann das Spielen eines Instruments zur Verringerung des Risikos nächtlicher Atempausen beitragen. Der Mediziner Valentin Günzler klärte in seinem Vortrag über die aktuellen Forschungsergebnisse bezüglich der positiven Effekte des Musizierens bei der Verringerung des Risikos von obstruktiver Schlafapnoe auf. Anhand ausgewählter Studien stellte Günzler vor, wie das regelmäßige Spielen von Blasinstrumenten das Auftreten nächtlicher Atempausen verringern und somit als ergänzender Therapieansatz in Bezug auf obstruktive Schlafapnoe empfohlen werden kann.

Im Verlauf der Schlafmusik-Tagung konnte ganz unterschiedlichen Ansätzen nachgegangen werden, die einen vielseitigen Blick auf die Zusammenhänge von Musik und Schlaf ermöglichten. Das im Rahmen der Tagung organisierte Konzert mit Liedern und Klavierstücken vom 19. bis zum 21. Jahrhundert griff das Thema und seine Vielfalt passend auf. In einem eigens für diesen Anlass durch das Lied-Duo, bestehend aus der Sopranistin Anna Graf und der Pianistin Anastasia Grishutina, konzipierten Programm wurde die bereits im Verlauf der Tagung vorherrschende Idee eines möglichst breiten Blicks auf das Thema Schlafmusik treffend umgesetzt. In verschiedenen Themenblöcken, die Franziska Weigert harmonisch mit kurzen Impulsen und Gedanken verband, wurde das Publikum durch den Abend geführt. Eingeleitet von Kompositionen über die Nacht erklangen Stücke über den Mond, gefolgt von Liedern und Klavierwerken über Träume und Albträume, bevor der Konzertabend mit Wiegenliedern seinen Ausklang fand.