Li­ge­ti Raum In­ter­pre­ta­ti­on

Berlin, 14.–15.02.2023

Von Gesine Schröder, Leipzig/Wien – 01.03.2023 | Das von Simone Hohmaier und Heinz von Loesch konzipierte und hybrid, mit auch online zugeschalteten Teilnehmer:innen durchgeführte zweitägige Symposium am Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin (SIM) war thematisch zweigeteilt: Sechs von musiktheoretischer und -ästhetischer Seite kommenden Vorträgen zum Aspekt ‚Raum‘ in Ligetis Musik und Musikdenken folgten elf Vorträge über die musikalische Interpretation seiner Werke. Musiktheorie und Interpretationsforschung gehören zu den zentralen Arbeitsschwerpunkten des SIM. Hier war das Anfang der 1970er Jahre von Carl Dahlhaus angeregte und in den ‚roten Bänden‘ realisierte Projekt zur Geschichte der Musiktheorie angesiedelt, das unter der Ägide der neuen SIM-Direktorin Rebecca Wolf mit einem Projekt in nicht mehr linearer Historiographie über die Musiktheorie der letzten hundert Jahre erweitert und modifiziert fortgesetzt werden soll. Den Schwerpunkt ‚Interpretation‘, zu dem das SIM aktuell vier Bände über deren Geschichte im 19. und 20. Jahrhunderts herausgibt, vertiefte das Ligeti-Symposium durch Konzentration auf die Interpretation von Musik eines einzelnen Komponisten und weitete ihn zugleich bis in die Gegenwart aus.

Passend zu seinem Musiktheorie-Schwerpunkt hatte das SIM für den ‚Raum‘-Teil des Symposiums die Musiktheoretiker Volker Helbing (Hannover/Berlin), Ullrich Scheideler (Berlin), Christian Utz (Graz) und Emmanouil Vlitakis (Berlin) eingeladen. Mit Blick auf spätere Raum-Konzepte auch anderer Komponisten handelte Utz Ligetis Komponieren von und im Raum sowie sein verbal geäußertes Musikdenken über ‚Raum‘ enzyklopädisch ab. Analysen diffiziler Notentexte trugen sowohl Vlitakis mit der Darstellung von Ligetis orchestratorischer Konstruktion von Klangkörpern in Klangräumen als auch Scheideler vor, der das geplante Scheitern intrikater Texturen vor allem anhand von Klavieretüden des ersten Bandes nachvollziehbar machte. Wie ertragreich das intensive Studium von Ligetis Skizzen und Entwürfen sein kann, wurde bei Helbings Ausführungen zum mehrschichtigen Entstehungsprozess von Ligetis Violinkonzert deutlich. Über paradoxe Erfahrungen beim Hören von Ligetis Musik und ihr Potenzial zur Erweiterung von Geschichte, die stets eine Illusion sei, sprach die Ligeti-Spezialistin Amy Bauer (Irvine, CA). Friedemann Sallis (Calgary) unternahm den Versuch verständlich zu machen, warum Ligeti bei seinem spätestens in den 1980er Jahren unzeitgemäß gewordenen Aufschreibesystem blieb und die mit seinen mikropolyphonen Werken der 1960er Jahre eröffneten Klangräume nicht in den realen akustischen Raum überführte, wie es mit Computermusik möglich wurde.

Beim zweiten Symposiums-Schwerpunkt, der ‚musikalischen Interpretation‘ von Ligetis Werken, konzentrierte sich ein Interview mit einer Interpretin auf Sologesang. Vorgetragen wurden außerdem je eine Untersuchung zur Interpretation von Ligetis Musik für Ensemble, für Orgel und für Cello, zwei Untersuchungen über die musikalische Interpretation von Chorkompositionen und drei über die von Klavierstücken. Den ersten Symposiumstag beendete ein Gespräch von Ulrich Mosch (Genf) mit der Mezzosopranistin Katalin Károlyi (Budapest), beinahe wirklich ein Gastmahl, denn sie berichtete davon, wie Ligeti sich von ihr zu einem seiner letzten Werke hatte anregen lassen, dem von Károlyi auch uraufgeführten und ihr sowie dem Amadinda-Ensemble gewidmeten Zyklus Síppal, dobbal, nádihegedűvel / Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen für Gesang und vier Percussionist:innen. Einen Eindruck von den wundersamen Musiksorten, die Ligeti im Vorfeld der Komposition des Zyklus von Károlyi zu hören bekam und die ihn eine verloren geglaubte eigene musikalische Welt (wieder-)finden ließen, gab ein spontan von ihr gesungenes ostkarpatisches Lied. Fühlbar wurde, warum der Zyklus nur in ungarischer Sprache komponiert werden konnte, und staunend hörte man, wie akribisch Ligeti nach jenen sonderbaren Timbres fahndete, die seine Auswahl der von den Percussionist:innen zu traktierenden Instrumente bestimmten.

Anhand etlicher Aufnahmen filterte von Loesch (Berlin), methodisch von Messungen ausgehend, Tendenzen der Interpretation des Cellokonzerts während der seit seiner Entstehung vergangenen gut 50 Jahre heraus. Insbesondere der Anfang des Konzerts mache deutlich, dass der dynamische Grad sowie die Dauer unterschiedlich wahrgenommen werden, denn Theatralisches kann hineinspielen: Wer die erst lange nach dem notierten Beginn hörbar werdenden Aktionen der Musiker:innen auf dem Podium sieht, also im Konzertsaal sitzt oder ein Video anschaut, nimmt anders und anderes wahr, als wer sich das Konzert von Schallplatte mit Knistern und Rauschen anhört, jenen sich vordrängenden Zutaten des Mediums. Wohl kaum messbar ist auch, ob Spieler:innen oder Hörer:innen bemerken, dass Ligetis Cellokonzert im Solopart mit demselben Ton anfängt wie das von Schumann, dem eingestrichenen e – eine Referenz auf das romantische Celloidiom. Hatten Komponisten sich früher gescheut, ein Konzert für ein Soloinstrument zu schreiben, das leicht vom Orchester übertönt wird und schwer herauszuhören ist, so erfand Ligeti fürs Cello extra unhörbare Passagen. Methodisch ähnlich gelagert begannen die Untersuchungen des Musiktechnologen Timour Klouche (Berlin). Von der Intention her rein maschinell und ohne Hinzutat menschlichen Wissens und Empfindens erzeugte Analysen von Aufnahmen der ersten Klavieretüde Désordre zeigten bei der Wahl von Dynamik, der Fülle der jeweiligen Register und des Tempos Möglichkeiten (aber eher keine Tendenzen) des Ligeti-Spiels und seiner Aufnahmesettings in den gut 30 Jahren, aus denen die Aufnahmen stammten. Methodisch ganz anders ging Mosch vor. Mit Rekursen auf in den 1960er Jahren entstandene Werke Ligetis führte er in die Phänomenologie des Musikmachens nach Alfred Schütz ein, um zu zeigen, was es für das musikalische Interpretieren von Ligetis Musik bedeutet, wenn ein Spieler sich darauf einstellt und antizipiert, wie schnell, wie laut, mit welcher Artikulation etc. eine Mitspielerin ihren nächsten Einsatz wohl spielen wird. Der erfahrungsgesättigte und empathische gemeinsame Vollzug von Musik bewirke bestenfalls, dass die Interpretation Zusammenhang stifte.

Wer Ligetis Musik spielt, bringt ihren auskomponierten in einen realen Raum, der nie in seinem Hier und Jetzt und als genau dieser mitkomponiert wurde. Womöglich wird Ligetis Musik allein dadurch musikalisch interpretiert, dass man sie radikal texttreu exekutiert. Denn sogar wenn Ligetis Notentexte von Musiker:innen (und nicht von Maschinen und Musikautomaten) reproduziert werden, kann sich Interpretation einfach nur einstellen, vielleicht unfreiwillig: als Ausdruck von körperlicher und mentaler Überforderung. Ligetis Musik treibt Musiker:innen, die ihre Notentexte genau nehmen, über die Grenze des Spielbaren hinaus.

Das Symposium profitierte davon, dass fast alle Redner:innen auf den in der Paul Sacher Stiftung Basel verwahrten Nachlass des Komponisten rekurrierten. Deren Direktor Florian Besthorn (Basel) trug material- und gedankenreich über Ligetis Verhältnis zu Conlon Nancarrow vor, um die Frage zu erörtern, wie jene Etüden, an deren Einrichtung für Player Piano Ligeti selbst mitgewirkt hatte, adäquat vorzuführen und zu hören seien. Auch Clara Maria Bauer (Wien) stützte sich auf Material der Sacher Stiftung. Sie gab einen Überblick über Ligetis vielfältige Schreibarten für Chor, doch wollte sie Ligetis Vorstellungen von deren Umsetzung nicht als präskriptiv für heutiges Interpretieren seiner Chorwerke gelten lassen. Durch einen Glücksfall erhalten gebliebene Quellen zur Ausformulierung und Interpretation der Chorstimmen in Ligetis Requiem wertete Michael Kube (Tübingen/Würzburg) aus. Dieser Vortrag zeigte wiederum, wie ertragreich es bei der Untersuchung noch ganz feiner kompositorischer Details sein kann, genau zu ermitteln, wie die Interpret:innen und der Komponist kooperierten. Genutzt werden konnte von Gundula Wilscher (Krems) das Kremser „Archiv der Zeitgenossen“: Friedrich Cerhas (damals noch) Vorlass enthält Material unter anderem zur Einstudierung von Stücken Ligetis durch das von ihm geleitete Ensemble „die reihe“. Dass neben der Auswertung von Dokumenten wie Probenmitschnitten und Briefen die Zeitzeugenbefragung ergiebig sein kann (und alsbald geschehen sollte), zeigte das anschließende Gespräch mit den Zuhörer:innen. Wiederum anhand reicher Quellen vollzog der vom Instrument, hier der Orgel, herkommende Forscher Markus Rathey (New Haven, CT) nach, wie eng Ligeti mit Organisten zusammengearbeitet hatte. Diese wurden zu Mitautoren der Orgelwerke, die Grenze zwischen Interpret und Autor wurde diffus. Auch Volker Rülke (Dortmund/Falkensee) zog Archivmaterial heran, diesmal zu der riskant und ruppig, dann wieder im düsteren Cantabile spielenden Pianistin Erika Haase. Mit ihr hatte Ligeti ähnlich intensiv zusammengearbeitet wie mit Pierre-Laurent Aimard, dessen gleißende Ligeti-Interpretationen im Zentrum von Tobias Bleeks (Essen) Vortrag standen. Er konnte dabei reiches Material der von ihm entwickelten digitalen Plattform www.explorethescore.org des Klavier-Festivals Ruhr heranziehen.

In diesem Frühling jährt sich Ligetis Geburtstag zum hundertsten Mal, und so haben die Berliner Philharmoniker ihrer Biennale 2023, gewidmet der „Musik der 1950er und 1960er Jahre“, einen Ligeti-Schwerpunkt gegeben. Von der Heimstätte des SIM führt eine selten geöffnete Verbindungstür direkt ins Foyer der Berliner Philharmonie, das die Teilnehmer:innen des zum Rahmenprogramm der Biennale gehörigen Ligeti-Symposiums vor dem Abschlusskonzert für eine Stunde aufsuchen durften. Ausgestellt sind dort (kuratiert vom SIM und der Paul Sacher Stiftung Basel) wenig bekannte Fotos von Aufführungen und Einstudierungen von Ligetis Musik. Das Symposium endete mit einem Konzert. Vorgestellt wurden die Ergebnisse zweier Masterclasses, gegeben von Ueli Wiget, dem Pianisten des Ensemble Modern, und Stefan Dohr, dem Solohornisten der Berliner Philharmoniker: Klavier- und Kammermusik Ligetis, von Studierenden der beiden Berliner Musikhochschulen (UdK und HfM Hanns Eisler) mutig, frech und manchmal schön theatralisch interpretiert.

Auf die Publikation des Symposiumsberichts darf man gespannt sein.