Brüderische Gemeinschaft als universales Lebensmodell? Die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Uniformität und Pluralität
Hamburg, 27.–28.07.2023
Von Paloma León-Villagrá (Hamburg) – 14.09.2023 | Am 27. und 28. Juli 2023 fand die Tagung Brüderische Gemeinschaft als universales Lebensmodell? Die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Uniformität und Pluralität unter der Leitung von Maryam Haiawi und Maximilian Rose am Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg statt. Die Tagung stieß zahlreiche neue Überlegungen zur Relation übergreifender sowie spezifischer Aspekte der Brüdergemeine an: Zwar prägte die herrnhutische Identität in zunehmend normierter, vereinheitlichter Form alle Bereiche des Lebensalltags, dennoch lässt sich – so verdeutlichten die verschiedenen Sprecher:innen insbesondere anhand von Transferprozessen durch Medien wie der Musik, Literatur und Kunst – eine vielgestaltige Verflechtung der internationalen Niederlassungen mit der Außenwelt verfolgen.
Wolfgang Breul (Mainz) eröffnete das erste Panel (Nähe und Abgrenzung zu anderen religiösen Gemeinschaften) mit einem Einblick in die Diasporaarbeit der Gemeine: Nach außen war diese durch festgelegte transkonfessionelle Arbeitsgrundsätze geöffnet, nach innen durch kommunikative, religiöse und organisatorische Gemeinschaftsformen verbunden. Wie stark externe Positionen in Bezug auf Herrnhut divergieren konnten, exemplifizierte Benedikt Brunner (Mainz) anhand von Zeugnissen dreier Württemberger Pietisten. Er zog unter anderem Johann Albrecht Bengels Abriß der so genannten Brüdergemeine (1751) heran, der Zinzendorfs Exegese kritisierte, die Gemeinestruktur kritisch bis hin zum Vorwurf eines kopierten römisch-katholischen Systems in Frage stellte, jedoch auch Praktiken wie den Gesang als nachahmenswert heraushob. Lucie Kaennel (Zürich) widmete sich Zinzendorfs Auffassung der Judenmission und betonte dabei seine Bemühung um interreligiöse Toleranz. Unter anderem wurden an Gemeinorten, in denen vom Judentum zum Christentum konvertierte Brüder lebten, jüdische Bräuche weiterhin gepflegt. Beispielsweise wurde der Schabbat als wöchentlicher Feiertag mit dem Sonntag als Arbeitstag für den Herrn verbunden.
Im Rahmen des zweiten Panels (Netzwerke und multiple Zugehörigkeiten) untersuchte Ruth Albrecht (Hamburg) die Herrnhuter Präsenz im protestantischen Hamburger Mäzenatentum des 19. Jahrhunderts. Infolge des Bevölkerungswachstums und der Industrialisierung wurden neue Orte religiösen Lebens errichtet, an denen beispielsweise Konferenzen der evangelischen Allianz mit Herrnhuter Gästen stattfinden konnten. Trotz der zahlreichen Konfessionsgemeinschaften und des Rechts zur uneingeschränkten Religionsausübung ab 1860, so exemplifizierte sie auf Basis des Hamburgischen Staatskalenders, war das Luthertum weiter maßgeblich prägend. Lubina Mahling (Bautzen) ging der Frage nach, welches Ausmaß nationalen Identitätsempfindens in der Mitte des 18. Jahrhunderts – einer beginnenden ‚nationalen Sattelzeit‘ – vonseiten der Brüdergemeine zulässig und erwünscht war. Obwohl das Ideal einer Gemeinschaft vor Gott jenseits von Landes- oder Familienbanden vorherrschte, wurde diese weitere Zugehörigkeit durchaus akzeptiert und sogar von Zinzendorf selbst bestärkt, wie Mahling neben anderen Beispielen mit einer von ihm überlieferten Predigt im sorbischen Zentrum Kleinwelka nahe bei Herrnhut verdeutlichte.
Das umfangreiche dritte Panel (Musik als Medium der Identitätsbewahrung und des kulturellen Austausches) begannen Kerstin Roth und Marleen Schindler (Dresden) mit einem Beitrag zur verbindenden, identitätsstiftenden Funktion von herrnhutischen Liedern in der sorbischen Diasporaarbeit. Sie betonten die Zugänglichkeit der Lieder unabhängig von Lese- und Schreibkompetenz und deren Rolle als kulturelle – besonders sprachliche – Gedächtnisträger. Innerhalb der Gemeine entstanden zahlreiche Lieddichtungen, darunter einige von Frauen, die Zinzendorf explizit zu dieser Tätigkeit ermutigte. Bestimmte Lexeme wurden in sorbischen Übersetzungen weitergetragen und tauchen zentral in den Liedern auf, wie Roth und Schindler unter anderem mithilfe des Bildes der Seitenwunde Jesu – im Diminutiv als ‚Höhlchen‘ ein metaphorischer Ort der seelischen Geborgenheit – veranschaulichten.
Bei dem schon um 1760 in Herrnhut benannten „Posaunenchor“ handelt es sich vermutlich nicht – so verdeutlichte Ryoto Akiyama (Kyoto/Göttingen) – um eine Urform des heutigen evangelischen Posaunenchors, vielmehr stehen beide Traditionen in einem überwiegend geteilten und zunehmend reziproken Verhältnis. Akiyama beschrieb die Gründung von Bläsergruppen an den Missionsorten zur Unterstützung des christlichen Choralgesangs. Diese Ensembleform konnte sich angesichts des handhabbaren und portablen Instrumentariums gut ausbreiten und wurde so beispielsweise im 19. Jahrhundert in den südafrikanischen Niederlassungen aufgenommen.
Christopher Ogburn (Winston-Salem, NC) gewährte einen Einblick in das Collegium Musicum als Identitätsstifter für nordamerikanische Gemeinorte. Der Rekurs auf deutsche Traditionen – beispielhaft verfolgbar anhand der Komponisten Georg Friedrich Händel, Carl Maria von Weber oder Heinrich Schütz – festigte dort einen neuen deutschen kulturellen Identitätssinn, bestärkte allerdings auch die im 18. und 19. Jahrhundert aufkommenden national-kulturellen Narrative. Er erörterte, inwieweit die Gemeinemitglieder auswärtig geschaffene Musik rezipierten, sich mit Neuerungen wie der wohltemperierten Stimmung auseinandersetzten und durch gemeinsames Singen unabhängig von theologischen oder sprachlichen Differenzen mit Gästen in Kontakt traten.
Christoph Siems (Halle-Wittenberg) untersuchte die Rolle der Musik als zentrales Element der norwegischen Missionsarbeit und herrnhutischen Identitätsbewahrung. In den Siedlungsgebieten wurden besonders Kirchenlieder weitergegeben, die man mittels des Solfeggios übertrug. Siems konnte eine Rezeption der Musik Johann Sebastian Bachs in Norwegen, aber auch in den madagassischen Niederlassungen nachverfolgen: Besonders das erste norwegische Choralbuch – 1838 von Ole Andreas Lindeman, einem Enkelschüler Johann Philipp Kirnbergers, herausgegeben – greift in harmonischer Hinsicht Bachs Kompositionsstil auf.
Jürgen May (Stellenbosch/Bonn) untersuchte die im späten 18. Jahrhundert einsetzende musikalische Arbeit der Herrnhuter Missionsstation in Genadendal (Südafrika). Unter anderem wurde dort wie in Herrnhut Posaunenmusik gepflegt, nachdem man schon früh christliche Lieder etabliert hatte. Er ging der Frage nach, weshalb sich die Missions- und Musikarbeit aus Sicht der Herrnhuter besonders erfolgreich gestaltete: Während lokale Khoisan-Musik und lokaler Khoisan-Tanz als heidnisch angesehen wurden, ermöglichte die Präexistenz polyphonen Gesangs eine besonders rasche Überführung europäischer Musik durch Vor- und Nachsingen sowie Tonic sol-fa.
Inge Engelbrecht (Stellenbosch) beleuchtete mit Ezechiel Weber die Stimme eines von den Herrnhutern unterrichteten Khoisan. Sie konnte sein Selbstzeugnis vor dem Hintergrund kolonialer Mechanismen fruchtbar machen: Webers merklich bescheidene Selbstbeschreibung, die zudem seine Unterordnung unter den Gemeinwillen durchblicken lässt, entspricht übergreifenden Prozessen der Identitätsbildung in Bezug auf eine kolonialisierende Leitkultur.
Den Abschluss sowohl des ersten Tags als auch des musikalischen Panels bildete ein Gesprächskonzert. Maryam Haiawi führte mit künstlerischer Leitung, Moderation und Dirigat durch ein mehr als außergewöhnliches Konzertprogramm aus herrnhutischen Parodieübertragungen geistlicher sowie weltlicher Kompositionen (Oper, Oratorium, Messe, Lied) von Johann Adolph Hasse, Carl Heinrich Graun, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven. Die Bearbeitungen für vier- bis fünfstimmigen Chor und Streichquartett waren aufführungstechnisch durchaus herausfordernd, basierten sie doch zum Teil auf bekannten und komplexen Stücken mit Orchesterbegleitung wie Mozarts Così fan tutte und Die Zauberflöte. Sowohl das Streichensemble als auch die Sängerinnen und Sänger konnten das einzigartige Repertoire wirkungsvoll neu beleben. Haiawi führte als Herrnhut-Forscherin in die Stücke ein und erklärte dabei insbesondere zugrundeliegende Auswahl- und Bearbeitungsprinzipien.
Der zweite Tag begann mit dem Themenschwerpunkt Globale Ausbreitung als soziale, wirtschaftliche und moralische Herausforderung (Panel 4). Michael Leemann (Frankfurt a.M.) beleuchtete die Kirchenzucht als Aspekt der Herrnhuter Vergemeinschaftung in den dänisch-westindischen Plantagen des 18. Jahrhunderts. Er erklärte, dass Gehorsam als Zugehörigkeitsbedingung der Versklavten zur christlichen Gemeinschaft gepredigt und Ungehorsam mit dem Ausschluss vom Gottesdienst bestraft wurde. Trotz des Ideals der Gleichheit innerhalb der Brüdergemeine war Kirchenzucht hier Bestandteil der Sozialdisziplinierung innerhalb der kolonialen Struktur. Menja Holtz (Braunschweig) untersuchte den gegenseitigen Einfluss zwischen Herrnhuter Gemeinschaft und heimischen Lenape vor dem Hintergrund der Subsistenzwirtschaft in Fairfield (Ontario) ab dem 18. Jahrhundert. Der Weizen- und Maisanbau schuf zwischen beiden Gruppen Gemeinsamkeiten des Lebensalltags und Dialogmöglichkeiten vor dem Hintergrund der sich verschärfenden kolonial-industriellen Bedingungen des 19. Jahrhunderts: Holtz belegte, dass sowohl Herrnhuter als auch Lenape an den Jahreszyklus angepasst waren, im Zuge der Subsistenz mit Mangel zurechtkommen mussten und einen gegenseitigen Einfluss in Wirtschaft wie Gemeinschaft zuließen. Christina Petterson (Nuuk) stellte die biographischen Berichte im englischen Fulneck als Anhaltspunkte für auffällige Standortspezifika vor. In den englischsprachigen und häufig stellvertretend durch Angehörige verfassten Texten ist neben der präsenteren Ich-Form häufiger die Rede von konfessionellen Zugehörigkeiten und seltener von Berufsbezeichnungen. Sie kontextualisierte die Berichte vor dem Hintergrund des englischen Frühkapitalismus, der zu Agrikulturreformen, Jagdverboten und Räumungen sowie zu Landflucht führte. Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels wurden, so Petterson, neue religiöse Gruppierungen gesucht, die eine Alternative zur hergebrachten Lebenswelt boten. Diese präexistenten Strukturen mussten die Herrnhuter allem Anschein nach übernehmen und gegebene Modelle auf sie einpassen.
Peter Vogt (Herrnhut) begann das fünfte und letzte Panel (Kunstschaffen zwischen Kollektivität und Individualität) mit einem Einblick in die Stammtafeln der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert als Medien einer Ikonographie der globalen Zusammengehörigkeit im Sinne der ‚imagined community‘. Diese Bilder illustrieren die Ausbreitung der Brüdergemeine und bieten eine imaginative Zusammenschau aller Orte. Er stellte zwei Formen der visuellen Darstellung vor: das ungeregelt wachsende Senfkorn (Typ eins) sowie den Weinstock (Typ drei) als geordneteren Stammbaum, der nach Johannes 15,5 ein Hervorgehen der Herrnhuter Brüder und Schwestern aus der gemeinsamen Verbundenheit mit Christus visualisiert. Inwieweit Johann Georg Ziesenis’ Lebenswelt als Porträtmaler mit weltlich-adligen Auftraggeber:innen von den Anforderungen eines Diaspora-Herrnhuters geprägt war, beleuchtete Karin Schrader (Bad Nauheim). Ziesenis nahm immer wieder Gemeinemitglieder auf der Durchreise auf, unterhielt mit ihnen Briefwechsel, leistete nach Bedarf auch finanzielle Unterstützung und beschäftigte ausschließlich Herrnhuter als Gehilfen. Darüber hinaus fertigte er, wie Schrader offenlegte, schlicht gehaltene Bildnisse von Mitgliedern als unbezahlte Freundschaftsgaben an. Durch den seriellen Charakter stellte sie die Frage zur Debatte, ob eine formale Stereotypie oder ein kollektives Denkmal im Sinne einer Porträtgalerie vorliege. Jens Kremb (Bad Honnef)untersuchte die Spannungen und Annäherungen zwischen der berühmten Kaufmannsfamilie Roentgen und der Herrnhuter Brüdergemeine in Neuwied am Rhein. Zu Konflikten führten unter anderem die finanzielle Unterstützung durch die Gemeine bei einer von ihnen als zu kostbar wahrgenommenen Haushaltsführung sowie der geschäftstüchtige Sohn David, der nicht den herrnhutischen Erwartungen entsprach. Weltlich-ökonomische Anforderungen kollidierten dabei mit asketisch-gemeinschaftlichen Ansprüchen.
Die abschließende Diskussion ließ noch einmal das zuvor offengelegte reiche künstlerisch-personelle Beziehungsgeflecht der Herrnhuter erkennbar werden und eröffnete zudem zahlreiche thematische Erweiterungsmöglichkeiten: Die schwindende weibliche Präsenz nach Zinzendorf wurde ebenso aufgegriffen wie die sehr divergierenden Aktivitäten der Brüdergemeine in kolonisierten Gebieten zwischen Unterstützung und Konflikt.