Mu­sik-Dis­kur­se nach 1970

Bern, 23.–25.03.2023

Von Michelle Ziegler, Basel – 16.09.2023 | Das von Thomas Gartmann und seinem Forschungsteam konzipierte Symposium an der Hochschule der Künste Bern thematisierte Musik-Diskurse ab 1970 und verband Diskursanalyse mit historischen Einzelproben aus einer Zeit, in der in einem „Boom zeitgenössischer Musik“ (Programm-Booklet) neue Festivals entstanden, Ensembles gegründet und Konzertreihen lanciert wurden. In der Halbzeit des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekts „Im Brennpunkt der Entwicklungen – Der Schweizerische Tonkünstlerverein 1975–2017“ zeitlich sinnvoll positioniert, zielte die Tagung in Bern mit Beiträgen in Präsenz und einigen online zugeschalteten Vorträgen zunächst darauf ab, die schweizerischen Perspektiven in einen internationalen Kontext zu setzen und die Bedeutung von Berufs- und Interessensverbänden zu untersuchen. Mit 27 Vorträgen, einer Lecture mit anschließender Performance, zwei Konzerten und einem Abschlusspodium gelang indes viel mehr: Vier inhaltliche Schwerpunkte zu unterschiedlichen Aspekten der Musikgeschichte seit 1970 und eine beachtliche geografische Öffnung führten zu thematischen Verdichtungen bei gleichzeitiger Breite der Ansätze und Beispiele. Damit praktizierte die Tagung die in der Abschlussdiskussion proklamierte Musikgeschichtsschreibung in Geflechten, Mappings und Transfers bis zu einem gewissen Grad gleich selbst: eine Historiographie, die multiperspektivisch ist, Vernetzungen aufzeigt, Diskurselemente zwischen Erzählsträngen aktiviert, neben der Partituranalyse das Hören aufwertet und auf der Basis von „starken Informationen und Identitäten“ gleichwohl nicht zu einem Grau-in-Grau gerät. 

Im ersten Schwerpunkt zu „Aesthetic discourses“ trat hervor, wie stark ästhetische Positionierungen ideologisch geprägt sind und sich dies in unterschiedlichen Ländern in eigenen, durch Individuen, Institutionen, Politik und Machtstrukturen verfestigten Konstellationen artikuliert. Pascal Decroupet (Nizza) stellte zunächst die unterschiedlichen Akteure um 1970 in Paris vor – die von Pierre Schaeffer und dem Rundfunk ausgehende Groupe de recherche musicales (GRM), das Kollektiv L’Itinéraire und die von Pierre Boulez gegründeten Initiativen Domaine Musical und IRCAM – und steckte ein Netzwerk an Kompositionsansätzen ab, in deren Zentrum der formbildende Einsatz der Klangfarbe stand. Überzeugend war die Argumentation einerseits aufgrund der Darstellung von Verwandtschaften und auch Alleinstellungsmerkmalen der Positionen, andererseits durch eine abschließende historische Kontextualisierung in den technologischen Entwicklungen der Zeit: Die Klanganalyse und -synthese durch den Computer machte klangliche Feinheiten nicht nur benennbar, sondern auch kontrollierbar. Jörn Peter Hiekels (Dresden) Diskursanalyse war daraufhin besonders in der Bundesrepublik Deutschland verhaftet: Er ging von einer Absetzung Theodor W. Adornos als Hauptstimme in der Prägung der Musikdiskurse aus und ersetzte dessen Denkmuster insbesondere durch die Gesellschaftskritik und Musikbegriffe Helmut Lachenmanns. Joachim Lucchesi beleuchtete die wechselnden Konflikte und musikpraktischen Konsequenzen der unterschiedlichen „tonangebenden“ Komponisten und Institutionen in der DDR und Rūta Stanevičiūtė situierte das Aufkommen einer sowjetischen litauischen Musik innerhalb von Festivals und Komponistenverbänden, aber auch eines internationalen Austauschs mit wichtigen Plattformen zeitgenössischer Musik in anderen sowjetischen Ländern. 

Wie dabei gesellschaftspolitische und institutionelle Mechanismen mit den Aktivitäten von Einzelpersonen in Kulturpolitik und Musikschaffen zusammenspielen, zeigte sich auch in Beiträgen zu den Situationen in einzelnen Ländern. Doris Lanz (Bern) beleuchtete das Kräftemessen zwischen unterschiedlichen Vertretern der Schweizer Musikszene (wie dem Schweizerischen Tonkünstlerverein (STV) mit seinen Präsidenten Julien-François Zbinden und Klaus Huber sowie dem Berner Ensemble Neue Horizonte) in der Frage, was „traditionsverbunden“ und „avantgardistisch“ war und wie wichtig das Präsentieren von Vielfalt in den Momenten öffentlicher Wahrnehmung war. Parallelen eröffneten sich zu den von Roddy Hawkins präsentierten britischen Entwicklungen: der Institutionalisierung der Avantgarde in der Society for the Promotion of New Music und den Aufspaltungen im Rahmen des Composers Weekend 1981. Lena van der Hoven (Bern) führte schließlich aus, wie auch in den neuen Kompositionen von Opern in den 1990er Jahren in Südafrika im Zuge ideologischer Ausdeutungen der Vision einer Rainbow-Culture ein „new Africanism“ bemerkbar wurde, der im Fall von Hendrik Hofmeyrs Oper Sara Baartman (2022) auch bedenkliche Umdeutungen in der Erinnerungskultur mit sich brachte.

Der zweite Schwerpunkt „New music and television“ untersuchte das künstlerisch durchaus produktive Missverhältnis der Konfrontation einer kleinen Szene mit einem großen Verbreitungsradius: Im Massenmedium Fernsehen hatte sich die üblicherweise auf kleine Bühnen zugeschnittene Neue Musik auf die potenziell große Zahl von Rezipienten des Fernsehpublikums einzulassen. Künstlerisches Potenzial bot dabei auch das Verhältnis von Bild und Ton. Das bisher wenig beachtete Zusammenwirken von Fernsehen, Musikinstitutionen und Kunstschaffenden in der Schweiz wurde dabei aus drei Perspektiven unterschiedlich gewichtet. Mathias Knauer (Zürich) verknüpfte einen persönlichen Erfahrungsbericht mit der Analyse des schwindenden künstlerischen Ertrags aufgrund der Ausgrenzung der Künstler*innen in den Produktionsabläufen beim Fernsehen und der dadurch vertanen Chance für experimentelle Musikfilme. Gabrielle Weber (Bern) zeigte in ihrer kulturpolitischen und medienkritischen Analyse von zwei Musikfilm-Serien des (West-)Schweizer Fernsehens auf, wie schon um 1970 die Vermittlung und gesellschaftliche Wirkung etwa in Dirigierkursen mit Kindern wertgeschätzt wurde, während 2001 in zehn Filmen von Jan Schmidt-Garre die bildstarke und durch einfache Assoziationen ansprechende nationale Imagekampagne im Zentrum stand. Thomas Meyer (Mettmenstetten/Zürich) stellte schließlich die Zusammenarbeit des Dirigenten und Medienschaffenden Armin Brunner mit dem argentinisch-deutschen Komponisten Mauricio Kagel beim Deutschschweizer Fernsehen vor und öffnete damit ein wenig beleuchtetes Kapitel der Schweizer Musikgeschichte.

Erstaunlicher- und erfreulicherweise am meisten Gewicht über die drei Tage hinweg hatte der dritte Schwerpunkt „Improvisation as a catalyst“. Die starke Präsenz der Improvisation als Thema der Geschichtsschreibung, aber auch als Feld eines vielfältigen aktuellen Musikschaffens regte hier eine Neuausrichtung im aktuellen Diskurs über die Musik der letzten fünfzig Jahre an: Angesichts der in der heutigen experimentellen Musik allgegenwärtigen Verbindung zwischen Komposition und Improvisation, angesichts der damit einhergehenden aufgelösten Hierarchien zwischen (nicht nur vor-schreibenden) Komponist*innen und (nicht nur nach-schaffenden Musiker*innen) und angesichts der durch heutige Technologien vereinfachten Zusammenarbeit zwischen Menschen ist eine Trennung von Komposition und Improvisation in der Geschichtsschreibung und Musikkritik lange nicht mehr adäquat. Nina Polaschegg (Wien) fächerte am Beispiel der experimentellen Musikszene in Wien und Österreich eindrücklich auf, wie vielfältig das Komponieren für Improvisatoren oder die Improvisation als Inspiration für Komposition sein kann, und zeigte auch im Netzwerk von Akteur*innen wie dem Journalisten, Komponisten und Kurator Lothar Knessl, der Kuratorin Ingrid Karl und dem Jazztrompeter Franz Koglmann prägende persönliche Verbindungslinien auf. Eine aufschlussreiche Gegenüberstellung ergab sich dazu in den personell und politisch anders gelagerten Mechanismen in Ungarn in den 1970er Jahren im Beitrag von Anna Dalos (Budapest). Roman Stolyar (Berlin) griff die theoretische Auseinandersetzung auf, indem er die Schriften von Derek Bailey, Karlheinz Stockhausen und Anthony Braxton auf ihr Potenzial für strukturelle Theorien über Freie Improvisation abklopfte. Auf einer wiederum anderen Ebene der Diskursanalyse verschaffte sich Michael Kunkel (Basel) in seiner Interpretation der Debatten zur Freien Improvisation in der Schweiz Distanz, indem er seine Analyse in die Zukunft versetzte und im Rückblick verspielt-treffsicher über die „diskursbildende Energie“ der improvisatorischen Praktiken berichtete. Dass Gräben zwischen improvisierter und komponierter Musik ästhetisch konstruiert und in historischem Kontext zu verstehen sind – dass also in kuratorischen Praktiken durchaus Spielraum für Gegenbilder besteht, belegte Peter Krauts (Bern) Rückblick zu den Veranstaltungen von TAKTLOS BERN und TONART BERN.

Durch die drei Tage hindurch und insbesondere im abschließenden vierten Schwerpunkt „Socio-political controversies“ waren verschiedene Anknüpfungspunkte von zuvor aufgegriffenen Themen bemerkbar. Thomas Gartmanns (Bern) Erörterungen zur Anbahnung des Endes des STV über Jahrzehnte hinweg ergänzten die historischen Analysen des kulturpolitischen Seilziehens zwischen unterschiedlichen Interessensvertreter*innen; Stefan Sandmeier (Zürich) und Tatiana Eichenberger (Zürich) rundeten den Schwerpunkt zum Fernsehen durch das Aufzeigen von personellen Überschneidungen zwischen SRG und STV ab. An Decroupets Beitrag zu Verbindungen zwischen kompositorischem Schaffen und technologischen Entwicklungen knüpften erstens Alain Savouret (Paris) mit seiner durch fabelhafte Illustrationen ergänzten persönlichen Einschätzung des elektroakustischen Komponierens der 1960er Jahre in Paris und zweitens Maria Sappho (Huddersfield) in ihrer Vorstellung der Bereiche zwischen Virtuellem und Körperlichem in der transhumanen künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI an. Anna Vermeulen (Leuven/Berlin) schließlich verwies auf die unterschiedlich eingesetzten Aufzeichnungen in dokumentarischen Praktiken zeitgenössischer radiophoner Kompositionen, die etwa in der Radiokunst von Aurélie Nyirabikali Lierman ein Engagement für post- und dekoloniales Denken ermöglicht. Der Einsatz für Diversität und Sozialkritik blieb sonst eher auf den Rahmen von Einzelbeiträgen wie jenem von Raphaël Sudan (Bern) und Jessie Cox (New York) beschränkt und war nicht in allen Vorträgen selbstverständliche Praktik einer fokussierten, aber vielfältigen Geschichtsschreibung.

Das Potenzial einer Geschichtsschreibung in Geflechten, Mappings und Transfers bestätigte sich schließlich in den zwei Konzerten. In einer „Impronacht“ spielten angereiste Vortragende und lokale Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern, Generationen und künstlerischen Schwerpunkten miteinander. In der „Hommage an die Zurückgewiesenen“ stellten Studierende der Hochschule Kompositionen von Gérard Zinsstag, Francesco Hoch, Franz Furrer-Münch und Jürg Wyttenbach vor, die vom STV für die öffentlichkeitswirksamen Tonkünstlerfeste abgelehnt worden waren – und in ihrer Verankerung in der europäischen Avantgarde einen eigenen Weg durch die 1970er bis 1990er Jahre absteckten.