Socialist Realism in Music, Globally
Leipzig, 01.07.2022
Von Noomi J. Bacher, Leipzig – 20.12.2022 | Die Eröffnungskonferenz des internationalen Forschungsnetzwerks „Socialist Realism in Music, Globally“ fand digital und zeitzonenübergreifend statt. Dies ermöglichte Referierenden aus Deutschland und England, Tschechien, Bulgarien und Rumänien ebenso wie Vortragenden aus Brasilien, den USA, der Volksrepulbik China und Taiwan die Teilnahme und in diesem Zuge die Demonstration der internationalen Relevanz des Themas. Das breite Interesse spiegelte sich in den über 50 zugeschalteten Teilnehmenden wider.
In fünf Themenbereiche unterteilt, fanden neben der Keynote „The Planned Economy of Socialist Realism“ durch Marina Frolova-Walker (University of Cambridge) weitere 15 Vorträge statt. Sie setzten sich aus verschiedenen Perspektiven mit Ebenen und Formen des Sozialistischen Realismus auseinander und machten damit die Vielzahl möglicher Ansatzpunkte deutlich. So widmete sich beispielsweise Yilin Liu (München) der Frage, inwiefern Aspekte des musikalischen Materials in politischen Liedern in der DDR und in der an Mao Zedong orientierten VR China vergleichbar sind, die beide stark von der Sowjetunion und dem von dort adaptierten Sozialistischen Realismus beeinflusst waren. Liu demonstrierte, dass gleiche musikalische Ausdrucksformen in China und der DDR zu unterschiedlichen politischen Deutungen führen konnten, und dass Kompositionstechniken in beiden Ländern eher Teil einer ideologischen als einer kreativen Praxis waren.
Auch Ya-Chen Lee (Dalin) widmete sich China. Sie untersuchte, wie sich die politischen Entwicklungen dort auch in der Musik widerspiegeln und zeigte dies anhand einer Analyse von vier Versionen der Ode an das (sozialistische) Vaterland (Gechang Zuguo). 1950 von Wang Xin komponiert, erfuhr das Lied bis 2008 verschiedene Transformationen und wurde so immer wieder an die aktuell geltenden ideologischen Ansprüche angepasst. Je nach erwünschter Wirkung mal nationalistisch, mal beschwichtigend international ausgerichtet wurden die Aussagen des Liedes musikalisch verschieden untermalt und teils der Text verändert. Auch heute ist die Ode an das Vaterland ein wichtiges ideologisches Lied der Kommunistischen Partei Chinas, das sich jedoch seit den Olympischen Spielen 2008 nicht länger als kämpferisch, marschartiges Lied präsentiert, sondern viel ruhiger ist und sich und seine Idee harmonischer zu präsentieren versucht.
Neben dem politischen Lied wurde während der Tagung auch die Operette immer wieder als wichtiges Genre in der Sowjetunion beschrieben, die ein utopisches Moment präsentiert und propagiert hat. So beschrieb auch Vojtěch Frank (Prag) die Operette durch ihre erinnerbaren Texte und Melodien als einfaches Instrument der Propaganda, wobei die Grenzen zwischen dem präsentierten Traumland und der Propaganda auf der Bühne immer wieder gesucht werden müssen, da sich der propagandistische Aspekt oftmals erst in der Rezeption definieren lässt. Ähnlich gilt dies wohl für die zahlreichen Opern im Rundfunk. Elizaveta Willert (Paderborn) stellte ihre Untersuchungen zu Geschlechterrollen in der sowjetischen Radiooper vor, wonach diese ein wichtiger Teil der musikalischen Bildung und der Propaganda war.
Neben Ergebnissen zu den osteuropäischen Staaten, Brasilien und der VR China gab es während der Tagung auch Einblicke in die London Labour Choral Union durch Maria Kilaldi (London), die ihren Fokus dabei auf den stark von Hanns Eisler beeinflussten Alan Bush und seine Arbeiten legte. Mit Sonia McCall-Labelles (Bonn) Vortrag zum maoistisch geprägten Cornelius Cardew, seinem Piano Album 1973 und der Idee des transnationalen Sozialistischen Realismus war auch Irland vertreten.
Der Fall Rumänien bekam während der Tagung eine eigene Sektion, in der Valentina Sandu-Dediu (Bukarest) über die junge Generation von Komponist:innen berichtete, die sich für die Weltavantgarde interessierten, während sie in Rumänien der 1970er Jahre das Spannungsfeld von Sozialistischem Realismus und kommunistischem Nationalismus erlebten. Mioara Anton (Bukarest) widmete sich dem Versuch der Autoritäten den Kontakt zu westlichen Einflüssen während des Ceauşescu-Regimes zu verhindern und Otilia Badea (Bukarest) behandelte in ihren Untersuchungen die stalinistische Ära Rumäniens, wobei sie die Folklore in den Vordergrund stellte.
Marina Frolova-Walker widmete sich in ihrer Keynote den Maßnahmen zur Umsetzung eines Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion, wobei sie gleich zu Beginn die Schwierigkeit einer Definition im Kontext von Musik darstellte. Oftmals können differente Prozesse zu ähnlichen Resultaten führen, die Charakterisierung als sozialistisch-realistisch aber bewerte demnach weniger das jeweilige ästhetische Resultat als die vorangegangenen Prozesse – eine Feststellung, die während der Tagung in verschiedenen Kontexten immer wieder getroffen wurde. Die Idee einer sozialistisch-realistischen Musik trete so eher in institutionellen Formationen hervor als in einer spezifischen Ästhetik. Diese Prozesse – letztlich der Planwirtschaft – untersuchte Frolova-Walker und stellte jene Maßnahmen vor, die die Rolle von Komponist:innen sowie die Bedeutung der Aufführungspraxis, von Gattungen und Institutionen neu definierten. Auf beeindruckende Weise wurde so die strukturelle Ebene deutlich, die letztlich die Basis des Sozialistischen Realismus bildete, indem der Alltag von Komponist:innen im Sinne des (zweckgebundenen) kollektiven Organisierens umstrukturiert wurde. Die Keynote hat noch einmal deutlich gemacht, dass der Blick der Forschenden mehr in Richtung jener ökonomischen und sozialen Bedingungen zu richten ist, die den Sozialistischen Realismus erst möglich machten.
Der Frage, welches Objekt der Sozialistische Realismus in der Musik als Forschungsgegenstand sein kann, widmete sich auch Daniel Elphick (London), der die historischen Aspekte und die soziale Rolle der Musik hervorhob. Weitere Vorträge zur Diskursebene hielten Natália Braga und Edite Rocha (Belo Horizonte), die die Rezeption der sowjetischen Ästhetik im sozialen, politischen und kulturellen Bereich in Brasilien zu verstehen und zu kontextualisieren versuchten, indem sie die Debatten in verschiedenen Zeitungen untersuchten. Zur brasilianischen Erfahrung mit dem Sozialistischen Realismus referierte auch Ernesto Hartmann (Rio de Janeiro), der drei Klavierstücke Claudio Santoros analysierte und in ihren entsprechenden Kontext setzte. Allgemeiner thematisierte Milena Bozhikova (Sofia) den Wandel im Diskurs über den Sozialistischen Realismus und brachte dabei Mark Fishers Begriff eines „kapitalistischen Realismus“ mit in die Debatte.
Die Forschung muss sich, das wurde während der Tagung deutlich, in der Zukunft darum bemühen, die diversen Umgangsweisen des Komponierens im Kontext des Sozialistischen Realismus zu erkennen und aufzuarbeiten, um daraus differenziertere Ergebnisse zu ermöglichen, als es sie bisher gegeben hat. Diesen Aspekt thematisierte unter anderem Cindy Bylander (Fort Collins, CO) in ihrem Vortrag zu den polnischen Komponisten Artur Malawski und Witold Rudziński im Spannungsfeld zwischen kompositorischer Unabhängigkeit und ideologischer Gebundenheit.
Eine wiederkehrende Frage der Tagung betraf die Zuschreibung eines sentimentalen und (klein-)bürgerlichen Charakters, der in verschiedenen Kontexten immer wieder als Kritik an der Musik formuliert wurde. Eine tiefergehende Begründung oder Erläuterung bleibt jedoch noch zu klären. Auch die (Re-)Organisation der Komponistenverbände der verschiedenen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg war, ob in Brasilien oder Bulgarien, ein Thema, dessen weitergehende Untersuchung sinnvoll scheint. Auch inwiefern die Unterschiede in den Systemen sich weltweit in der Kunst reflektieren, bleibt eine interessante Frage. Sicherlich hat die vergangene Tagung gezeigt, wie sinnvoll hierbei ein internationaler Austausch zwischen den Forschenden ist. Rückblickend kann die Tagung als erfolgreiche und motivierende Eröffnung eben jenes internationalen Forschungsfeldes betrachtet werden, dessen zukünftige Erkenntnisse mit Interesse zu beobachten bleiben.