Rollen und Funktionen von Musik in der digitalen Ära
Koblenz, 09.-11.06.2022
Von Shirley Wick, Koblenz – 20.12. 2022 | 33 Referent:innen sowie bis zu 64 Gäste (in Präsenz und online) diskutierten am Campus Koblenz über Musik in der digitalen Ära. Organisiert von Corinna Herr, Wolfgang Fuhrmann und Veronika Keller fand die Tagung in Kooperation des Instituts für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität in Koblenz mit der Universität Leipzig und der Fachgruppe Soziologie und Sozialgeschichte der Musik in der Gesellschaft für Musikforschung statt. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf den (geänderten) Rollen und Funktionen der klassischen Musik, da hier der Forschungsbedarf noch erheblich ist.
Drei Keynotes umrahmten eine große Bandbreite von historischen, soziologischen, ethnologischen, ästhetischen und technikgeschichtlichen Vorträgen. Julia Haferkorn nahm in einer Keynote mit der Präsentation ihrer Studie über Livestreaming seit der Pandemie eine aktuelle Lagebestimmung des klassischen Konzertlebens vor. Daran schlossen sich Fragen nach der Zukunft des Konzertlebens an, nach dessen Ausweitung auf den digitalen Raum und die Generierung von Publikumsnachwuchs, die im Panel zu Musikvermittlung ausgeführt wurden. Anna Philips lotete in ihrer Fallstudie des Konzerthauses Berlin auf der Gamingplattform Twitch das Vermittlungspotential klassischer Musik über typische Social Media-Formate wie Spiele, Challenges, Behind the Scenes-Einblicke und Live-Chats aus. Anhand fangefertigter digitaler Opernführer zeichnete Hendrikje Mautner-Obst die Bestrebungen euphorischer Anhänger:innen nach, Wissen über ihre Leidenschaft Oper zu teilen.
Volker Kalisch befragte und kritisierte in seiner Keynote Paradigmen des Fachs Musikwissenschaft und stellte eine unbearbeitete Lücke zwischen Geschichtserzählung und Theorie fest. Weniger grundlegend, aber nicht minder kritisch betrachteten die Beiträge des Panels zum Thema Selbstreflexion musikwissenschaftliches Forschen im digitalen Zeitalter. Hier ging Mit-Organisator Wolfgang Fuhrmann der Frage nach, wie Erfahrungen von Raum und Zeit durch die Digitalisierung geformt werden. Einen Überblick musikwissenschaftlicher Herangehensweisen und Herausforderungen in der digitalen Welt lieferte Patrick Becker-Naydenov, methodische und ethische Implikationen der Beforschung digitaler Räume diskutierte Benjamin Sturm.
Gastgeberin Corinna Herr stellte Ergebnisse ihres DFG-Projekts zur Präsentation und Rezeption klassischer Musiker:innen auf YouTube vor. Neue Performancepraktiken der digitalen Ära wurden unter Aspekten wie Selbstrepräsentation, Konstruktion von Authentizität und der Rezeption in Form von User:innen-Kommentaren untersucht und an den folgenden Tagen vielfach aufgegriffen. Robert Abels arbeitete bei seiner Rezeptionsanalyse ebenfalls mit dem Material von Musikvideos und Kommentaren auf YouTube, um zu beleuchten, ob die provokanten Punk-Hits der Ärzte ironisch verstanden werden und welche in den Videos angelegte Botschaften beim Publikum ankommen. Inwiefern sich Kommentare in Livestreams von geteilten Videos unterscheiden, zeigte Charles Wiffen an Instagram-Streams während der Pandemie. Ein starkes Authentizitätsgefühl beim Publikum durch das Fehlen hochwertiger Aufnahmetechnik und die Evokation von räumlicher Unmittelbarkeit machte er als Erfolgsfaktoren dieser Performances aus, die eine wichtige Form von Interaktion in einer Zeit der Isolation boten. Tal Soker illustrierte am Beispiel des politisch aktiven Pianisten Igor Levit, welche Funktionen soziale Medien im Musikbetrieb allgemein und insbesondere seit der Pandemie für die Sichtbarkeit von Musiker:innen erfüllen.
Wie das Konzept der „Customer Journey“ zugunsten der Selbstdarstellung und -vermarktung von Musiker:innen eingesetzt werden kann, erörterte Rüdiger Weißbach in einem Transfer aus der Marketingforschung. Weitere ökonomische Faktoren digitalisierter Märkte besprach Moritz Gottschalk am Beispiel der 30-Sekunden-Untergrenze von Spotify, an welcher der abstrakte philosophische Streit um den Wert von Musik erneut aufflammt, der in konkrete künstlerische Positionierungen entlang dieser monetären Grenze mündet.
Den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsalltag von Musikschaffenden wie -forschenden widmeten sich gleich mehrere Vorträge, in denen Valentin Ris die Potentiale von Digital Audio Workstations referierte, Andreas Möllenkamp den Wandel digitalen Musizierens skizzierte und Carsten Wernicke die Interaktion von Interfaces und Musiker:innen thematisierte. L. Roman Duffner nahm phänomenologisch das Gestenrepertoire menschlicher Akteur:innen im Umgang mit technischen Akteuren unter die Lupe, denen er als kooperierenden und reaktiven Parts eigene Kreativität bescheinigt.
Die Digitalisierung bringt einen Wandel der Kommunikation aller Handelnden mit sich. Über den digitalen Raum finden eine Vielzahl von Musikproduzent:innen, -rezipient:innen und Prosumer:innen (ihrer Hybridform) zueinander. Musikfans werden selbst künstlerisch produktiv, wie Stephen Malinowski und Andy Fillebrown, deren immersive Visualisierungen klassischer Stücke Julia Freund genauer betrachtete. Die Kommunikation von Opernfans vor und seit der Digitalisierung umriss Nicolò Palazzetti. Dass digitale Kommunikation in der populären Musik längst Teil der Distributionsprozesses ist und auch die akademische Musik diese Vermittlungswege zunehmend nutzt, argumentierten Natalia Nowak, Melissa-Lili Arendt und Luisa Jedwillat mit der virtuellen Berühmtheit Eric Whitacre oder dem „third content“ um die Vocaloid-Figur Hatsune Miku. Das Internet als glokalisierten Raum der Identitätsstiftung thematisierte Lena Dražić in ihrer Skizzierung der in der Praxis des Turbo-Folk zusammenfindenden ex-jugoslawischen Diaspora, während Sean Prieske die Musikpraktiken von Menschen auf der Flucht untersuchte. Communitybuilding über inner- und außermusikalischen Humor stellte Veronika Keller am Beispiel des erfolgreichen Kanals TwoSet Violin vor, während Ulrike Heydts den Virtuositätsdiskurs auf YouTube unter intersektionalen Strukturkategorien betrachtete.
Einblicke in die inhaltlich-künstlerische Auseinandersetzung mit Fragen des Digitalen gaben Beiträge über zwei Werke des zeitgenössischen Musiktheaters, die sich aus psychologischer wie politischer Perspektive mit den Konsequenzen und Komplikationen der Technologie des mind uploadings, also des Speicherns menschlichen Geistes in der virtuellen Cloud beschäftigten. Ob sich von einer „Screenification“ der Oper sprechen lässt oder die plurimediale Kunstform Digitalisierung integriert und wie diese Aushandlungen komponiert werden, fragte Elisabeth van Treeck in Bezug auf Michael van der Aas Filmoper Upload. In einem „Artist Talk“ diskutierten der Komponist Hauke Berheide und die Librettistin Amy Stebbins mit der Dramaturgin Ann-Christine Mecke über „Opera’s Material Ontology“ im digitalen Zeitalter.
In der abschließenden Keynote von Shara Rambarran wurden die Schnittstellen von Musik und Digitalität in einem bunten Fächer von Musik in Videogames über technische Möglichkeiten in der Musikproduktion und -performance bis zu Rezeptionsphänomenen aufgezeigt und rekapituliert.
Neben Reflexionen des eigenen Tuns als Musikwissenschaftler:innen in der digitalen Ära und grundsätzlichen Überlegungen zu Forschungsansätzen wurden Fragen von Vergemeinschaftung in ephemeren Kontexten, aber auch von Vermittlung, Kommunikation, von ‚Liveness‘ und der Konstruktion von Authentizität in virtuellen Medien behandelt. Es ging mit kritischem Blick unter Anderem um die Relevanz von digitalen (sozialen) Medien für Musikpräsentation, -interpretation und -rezeption, um die technischen und menschlichen Aktant:innen, um Märkte, Wert und um Vermittlung. Gerade die Verschränkung von Analogem mit Digitalem erwies sich als ein zentrales Merkmal für eine Ontologie von Musik in der digitalen Ära. Für das Fach grundlegende Fragen nach dem Außermusikalischen, aber auch nach (neuen) Kanonisierungstendenzen durch anderes Nutzerverhalten in digitalen Medien zogen sich durch die drei Tage.