Zwi­schen Olym­pia und Frei­schütz. Oper in Ber­lin im ers­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts.

Repertoire – Realisierung – Rezeption

Berlin, 05.-07.05.2022

Von Lukas Michaelis, Frankfurt am Main - 20.09.2022 | Das ursprünglich für 2021 geplante Symposion nahm das 200jährige Jubiläum der Berliner Uraufführungen von Carl Maria von Webers Freischütz (18. Juni 1821) und der deutschsprachigen zweiten Fassung von Gaspare Spontinis Olimpie (14. Mai 1821) zum Anlass, die Operngeschichte der preußischen Haupt- und Residenzstadt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus neu zu beleuchten und zu kontextualisieren. Pandemiebedingt musste die Tagung auf 2022 verschoben werden, und so war es immerhin der Übersetzer der deutschen Fassung der Olimpie, E.T.A. Hoffmann (1776–1822), zu dessen Gedenkjahr man mit der Tagung beitragen konnte. Als Veranstaltung im Rahmen des von Fabian Kolb geleiteten Frankfurter DFG-Projekts „Wahrnehmungs- und Wirkungsformen der Oper, Berlin ca. 1815–1828“ wurde die Konferenz von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz ausgerichtet, man traf sich im Festsaal der HU in der Luisenstraße und im Musikwissenschaftlichen Seminar Am Kupfergraben. Das hybride Format ermöglichte überdies eine Teilnahme via Internet.

Spontinis Situation in Berlin war hochgradig ambivalent. Von einem Teil der Öffentlichkeit und namentlich den städtischen Funktionseliten, von der nationalpatriotisch gestimmten Musikkritik sowieso wurde nicht geschätzt, dass ein gebürtiger Italiener, der in Paris Karriere gemacht hatte, zum Generalmusikdirektor der Königlichen Oper Berlins ernannt wurde – noch dazu ein Italiener, der Opern im französischen Stil des Empire komponierte. Aufgrund der Gunst des Königs Friedrich Wilhelm III. und seiner Führungsrolle an den Hoftheatern hatte er allen Anfeindungen zum Trotz jedoch entscheidenden Einfluss auf die Berliner Musiklandschaft. Dass man Weber mit der von ihm ausgelösten Freischütz-Euphorie umgehend und mit langem Nachhall zum Antipoden Spontinis stilisierte, lag da geradezu auf der Hand und ließ andere Aspekte des Berliner Opernlebens eher in den Schatten treten.

Nach Begrüßung und inhaltlicher Einführung von Fabian Kolb (Frankfurt) sowie einem Grußwort von Arne Stollberg (Berlin) eröffnete Michael Walter, der per Videokonferenz aus Graz zugeschaltet war, die Konferenz mit einem institutionengeschichtlich ausgerichteten Vortrag über die höfischen Opern in Berlin. Die Berliner Königlichen Schauspiele, die 1811 aus der Zusammenlegung von Hofoper und Nationaltheater hervorgingen, erfuhren durch zunehmende Kommerzialisierung eine grundlegende Wandlung ihrer öffentlichen Funktion. Aus einem ehemals kostenfrei zugänglichen Raum wurde ein teurer Ort für Privilegierte, in dem sich in geradezu paradoxer Weise Ansprüche höfischer Repräsentation mit dem Finanzierungsmodell kommerzieller Theater mischten.

Eine Ursache für die Veränderung der Hofoper war schließlich auch die Konkurrenz zum privat geführten Königstädtischen Theater am heutigen Alexanderplatz, das 1824 eröffnet wurde. Über dieses Konkurrenzverhältnis referierte Jasmin Seib (Frankfurt) mit Fokus auf die Spielplangestaltung der beiden Häuser. Der Wettbewerb zwischen diesen Bühnen wurde nicht auf Augenhöhe geführt, da die höfische Bühne durch königliche Erlasse viele Privilegien genoss. Bezeichnend war etwa die Regelung, dass das Königstädtische Theater keine Werke aufführen durfte, die bereits in den letzten zwei Jahren auf der höfischen Bühne gegeben wurden, was zu der Absurdität führte, dass einige Vorstellungen nur gegeben wurden, um das exklusive Aufführungsrecht des Werks beizubehalten.

Neben Spontini und Weber war auch Gioachino Rossini immer wieder ein zentrales Thema der Tagung – wie sollte es auch anders sein, wenn es um Operngeschichte im frühen 19. Jahrhundert geht. Dass Berlin um 1820 eher ein Nebenschauplatz der Operngeschichte gewesen sei und, gesamteuropäisch betrachtet, Spontini und Weber mit der Popularität eines Rossini nicht mithalten konnten, war Ausgangspunkt des Vortrags von Arnold Jacobshagen (Köln), in dem es um die Haltung der zeitgenössischen Berliner Musikkritik, speziell Ludwig Rellstabs und Adolf Bernhard Marx’, zu Rossini ging, aber auch um die durchaus anders gelagerte Rossini-Rezeption Georg Friedrich Wilhelm Hegels, Arthur Schopenhauers und Heinrich Heines. Die Berliner Musikkritik habe sich zunehmend nationalpatriotisch abgekapselt und mit Feindseligkeit auf alles reagiert, was man auf Berliner Opernbühnen als italienischen oder französischen Einfluss wahrnehmen konnte. Speziell gegen Spontini und Rossini – der gleichwohl im Berliner Publikum einer der populärsten Opernkomponisten war – richteten sich die Spitzen. Besondere Aufmerksamkeit wurde Rellstab im Vortrag von Sabine Henze-Döhring (Marburg) zuteil: Unter dem bezeichnenden Motto „Feind des Fremden, Freund der Nation“ wurde hier sein aggressiver und obsessiver kulturpolitischer Feldzug gegen Rossini, Spontini, Meyerbeer, sprich gegen alle Opernproduktion, die aus seiner national gestimmten Perspektive nicht deutsch war, dargestellt.

Dass die „Doppelpremiere“ der Olimpie und des Freischütz zwar durchaus als Schlüsselereignis in der deutschen Operngeschichte gelten könne, es in der daraus erneut entfachten historischen Debatte um die deutsche Nationaloper allerdings selten um diese Opernwerke an sich ging, veranschaulichte Sieghart Döhring (Thurnau) in seinem kompositions- und gattungsgeschichtlich angelegten Vortrag, der die wegweisenden Impulse beider Stücke aus den Traditionen einerseits des französischen und andererseits des deutschsprachigen Musiktheaters heraus beleuchtete und im Folgenden auch einen Einfluss von Rossinis Musik auf Spontini und Weber aufzeigte. Dieser Einfluss trete zwar nicht immer offen in musikalischen „Rossinismen“ zu Tage, müsse aber dennoch als relevant erachtet werden.

Die heute eher getrennt von anderen musikalischen Gattungen wahrgenommene Oper war in der historischen Wirklichkeit ästhetisch wie institutionell mit allen möglichen Erscheinungsformen von Musik und Theater aufs engste verwoben – bis hin zur Ununterscheidbarkeit. In der Tagung wurde dies unter Anderem durch das naheliegende Beispiel der Berliner Schauspielmusik deutlich, über die Ursula Kramer (Mainz) am Beispiel des heute weitgehend vergessenen Bernhard Anselm Weber referierte. Seine Musik zu Deodata ist ein Paradebeispiel für ein Werk, in dem die Grenzen zwischen Opern- und Schauspielmusik verschwimmen. Christoph Henzel (Würzburg) sah in Spontinis Berliner Wirken sogar eine Annäherung von Oper und geistlicher Musik – so leitete Spontini ab 1826 auch die geistliche Konzertreihe der Concerts spirituels. Ebenso könne der „Nonnenchor“ aus seiner Oper Agnes von Hohenstaufen als Versuch einer neuartigen religiösen Musik verstanden werden, die nicht mehr auf den kirchlichen Rahmen beschränkt bleibe.

Spontinis meistgespielte Oper in Berlin war keineswegs die Olimpie, sondern die Die Vestalin, deren feste Verankerung im Berliner Repertoire von Fabian Kolb (Frankfurt) aufgearbeitet wurde. Die Vestalin wurde am Königlichen Opernhaus von 1811 bis in die späten 1840er Jahre weit über 100-mal gespielt – und zwar in weitgehend stabiler Gestalt und seit Spontinis Berliner Amtsantritt auch mit möglichst konstanter Besetzung. Nicht zuletzt war es ihre Funktion als höfisches Repräsentationsstück, das als zentraler identitätsstiftender Teil einer preußischen ‚Erinnerungskultur‘ seit den Befreiungskriegen an den Sieg über das napoleonische Frankreich erinnerte, weshalb sie mit spektakulären Inszenierungen immer wieder an Festtagen und zu wichtigen staatspolitischen Ereignissen gegeben wurde. Zugleich etablierte sie sich auch im Konzertrepertoire mit Aufführungen etwa der Ouvertüre und von Gesangsnummern, ebenso überdies auch im Bereich virtuoser Salonmusik, der hausmusikalischen Verlagsprodukte und der Militärmusik. Tina Hartmann (Bayreuth) trug über die historisch realen Vestalinnen (zur Keuschheit verpflichtete Priesterinnen der römischen Antike) aus kunstgeschichtlicher und Genderperspektive vor und konnte so das Libretto zu Spontinis Oper in neuartiger Weise beleuchten. 

Mehrere Vorträge widmeten sich gründlichen Quellenstudien. Matthias Brzoska (Essen), der online aus Texas zugeschaltet war, referierte über die erstmals näher in Augenschein genommenen Pariser Quellen zu E.T.A. Hoffmanns und Spontinis zweiter Fassung der Olimpie, die schließlich in einer dritten Fassung ins Französische zurückübertragen wurde. Klaus Pietschmann (Mainz) präsentierte lange verschollen geglaubte Quellen insbesondere zur vierten Fassung von Spontinis Fernand Cortez (Berlin 1832 und Dresden 1833), anhand derer er den intensiven Überarbeitungsprozess dieser Oper nachzeichnete. Thomas Seedorf (Karlsruhe) zeigte unter Verwendung von Johann Wenzel Lemberts Taschenbuch für Schauspieler und Schauspielfreunde anhand einzelner Nummern (und ihrer Einrichtung beziehungsweise Bearbeitung), dass Weber den Freischütz weniger speziell für das Ensemble der Berliner Königlichen Schauspiele komponiert habe als vielmehr bewusst für die auf deutschen Bühnen üblichen Rollenfächer allgemein. Zwei Vorträge kreisten um Webers Euryanthe: Joachim Veit (Detmold/Paderborn), der auch über das schlechte Klima in der Berliner Opernszene um 1825 und speziell zwischen Spontini und Weber berichtete, analysierte mit detailliertem philologischem Blick die erhaltenen Quellen den Kompositionsprozess des Stücks. Solveig Schreiter (Berlin) gab hierzu Einblicke in die komplexe Quellenlage zum Libretto der Euryanthe, das noch nach der Uraufführung zahlreichen auktorialen Änderungen unterzogen wurde.

Computergestützte Quellenforschung und Datenanalyse bot Peter Stadler (Detmold/Paderborn) von der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe. Historische Pressetexte über Opern von Weber wurden hier anhand der Häufigkeit vorkommender Wörter in Beziehung gesetzt, in Nähe oder Distanz gebracht. Adrian Rüdiger und Sebastian Herold (beide Mainz) berichteten über Entstehung und Potenziale der Aufführungsdatenbank „Oper in Berlin 1810–1830“, die im Rahmen des von Fabian Kolb initiierten DFG-Projekts zur Berliner Operngeschichte aufgebaut wurde und nun online auf musiconn.performance zugänglich gemacht wird.

Axel Beer (Mainz) wandte den Blick auf die Geschichte von Opernderivaten. So scheinen im Zeitraum 1810–1820 Sammlungen von Klaviermusik-Stücken, wie sie ein Laie um diese Zeit im Handel erwerben konnte, rund zur Hälfte aus Bearbeitungen von Stücken der Opern- bzw. Theaterbühnen zu bestehen. Da dieses Musiziergut für Laien aber selten erfasst und katalogisiert wurde und auch die Musikwissenschaft sich lange nicht um diese vermeintlich „niederen“ Musikalien scherte, ist die Quellenlage sehr lückenhaft – ein Missverhältnis zur offensichtlich zentralen Stellung und hohen Popularität von Opernderivaten im Musikleben der Zeit. Beer sprach sich ausdrücklich für mehr Forschung auf diesem Gebiet aus – und der anschließende Vortrag von Lavinia Hantelmann (Frankfurt) konnte diese Forderung sogleich einlösen. Am Beispiel von Webers Freischütz machte sie die Wichtigkeit des Opernderivats als Rezeptionszeugnis augenfällig: Allein in Berliner Musikverlagen konnten über 70 Bearbeitungen im Zeitraum 1821–1828 ermittelt werden, größtenteils Variationswerke und Tänze. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass diese Bearbeitungen keineswegs, wie es dem Klischee entspricht, lediglich von wohlsituierten Töchtern laienhaft im Privaten gespielt wurden, sondern durchaus auch in der Öffentlichkeit von professionellen Musikern, nicht zuletzt im Rahmen der florierenden Tanzkultur.

Der Vortrag von Anselm Gerhard (Bern) „Hie Romantiker, hie Klassizist? Überlegungen zum ‚Romantischen‘ bei Spontini und zum ‚Klassischen‘ bei Weber“ war ursprünglich für das Berliner Symposion geplant, musste jedoch verschoben werden und fand schließlich als Gastvortrag an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main am 29. Juni 2022 statt. Sein Beitrag wird jedoch in dem für 2023 geplanten Tagungsband enthalten sein.