Erinnerungskulturen in der Ethnomusikologie
Berlin, 08.-09.10.2021
Von Dorit Klebe, Berlin – 19.12.2022 | Die Generalversammlung und die Jahrestagung des Nationalkomitees Deutschland im International Council for Traditional Music (ICTM) 2021 fanden auf Einladung von Maurice Mengel, dem Leiter der Abteilung Medien am Ethnologischen Museum und dem Museum für Asiatische Kunst in Berlin statt. Veranstaltungsort war die „Klangwerkstatt“ im Humboldt Forum Berlin, es gab jedoch auch die Möglichkeit der digitalen Teilnahme. Das Symposiumsthema wurde wie üblich in Abstimmung mit der einladenden Institution ausgewählt und berücksichtigte Aufgaben und Ziele der neu eröffneten Abteilung des Ethnologischen Museums am Humboldt Forum Berlin, einem neuen Standort für Kunst und Wissenschaft im historischen Zentrum Berlins. Der Schwerpunkt des Tagungsthemas lag auf verschiedenen Tradierungsformen von Sprache und Musik, dem lebendigen musikalischen Kulturerbe, beleuchtete das Erinnern und Vergessen von Kulturen, berührte Problemfelder im Hinblick auf die Rückführung von Tondokumenten, betrachtete Transformationsprozesse in unterschiedlichen Graden, berücksichtigte Folgen der Musikverwertung im Zusammenhang mit Versklavung und Vertreibung und öffnete den Blick für neue Entwicklungen und Ansätze.
Zur Eröffnung des Symposiums begrüßten Dorit Klebe und Maurice Mengel die Teilnehmenden. Die Keynote Speech hielt Andreas Meyer (Folkwang Universität der Künste Essen) zum Thema „Einrichtungen der Erinnerungskultur und Umwertung der Musik“.
In den nachfolgenden acht Sektionen wurden an beiden Tagen fünfzehn Referate präsentiert, inklusive eines Freien Berichtes. Die erste Sektion Musikalische Erinnerungskulturen: Formen der Überlieferung eröffnete Mariano González (Universität Utrecht) mit seinem Beitrag „Die Dùndún und Bàtá Trommeln der Yoruba aus Nigeria: Zum Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben in einer Trommelsprache“. González hatte ein Regelwerk für die sprachlich-musikalische Kunstform der Trommelsprache dieser beiden Instrumententypen entwickelt und demonstrierte dieses Sprechen der Trommel sehr anschaulich in situ. Anschließend berichtete Thomas Manhart (Athanor Akademie für Schauspiel, Passau) in seinem Referat „Fanumba Golu – gesanglich überlieferte ,Adat- Gebrauchsanweisungen‘. Von der Erinnerungskultur zur Schrift-/Medienkultur in Nord-Sumatra“ über das Adat-Regelwerk und dessen Weitergabe. Danach erörterte Gertrud Maria Huber (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) in ihrem Referat „Entwicklung von innen oder außen“ – Erinnerungskulturen im Zitherspiel“ den Einfluss der aural/oralen Tradierung und deren Verschriftlichung auf die heutige Musizier- und Unterrichtspraxis der Zither, ergänzt durch einen Ausblick auf neue Formationen in einer global-vernetzten Internetgeneration.
In der zweiten Sektion Musikalische Mnemotechniken: Makâm-basierte Musizierpraxis untersuchte Dorit Klebe (Berlin) in ihrem Beitrag „Die Bedeutung mnemotechnischer Tradierungsstrukturen für raumzeitliche Organisationen in Makâm-basierter Musizierpraxis – am Beispiel von Peşrev und Şarkı“, mithilfe welcher Merkmale die Musizierenden auf ein im Gedächtnis gespeichertes Repertoire zurückgreifen und aufgrund welcher eingeprägter Traditionsstrukturen diese Memorierungen zustande kommen können. Die dritte Sektion Musikalisches Kulturerbe und lebendige Praxis eröffnete Tiago de Oliveira Pinto (Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar/Friedrich-Schiller-Universität Jena) mit dem Referat „Musik als immaterielles Kulturerbe: Erinnerungskultur und lebendige Praxis“. Gegenüber einer materiellen Erhaltung durch Konservierung oder Musealisierung musikalischer Phänomene schrieb er der Lebendigkeit durch musikalische Darbietungen einen hohen Stellenwert zu und skizzierte neue große Herausforderungen für die Wissenschaft. Linyuying Chen (ebenfalls Weimar/Jena) differenzierte in ihrem Referat „Das musikalische Kulturerbe der Minorität der Hani (Provinz Yunnan, China) und der Minorität der Bunun (Taiwan) am Beispiel von mehrstimmiger Musik – Eine vergleichende Studie“ Ähnlichkeiten und Unterschiede von teils auf mehrstimmigen Strukturen aufbauende Vokalkonzepten an je einem Gebetslied. Im letzten Beitrag der dritten Sektion betrachtete Mitra Behpoori (Weimar/Jena) unter dem Titel „Erinnerungskultur oder Kultur der Erinnerungen. Musik als kulturelle Repräsentation bei den Ritualen und Festen im Iran“ das Instrumentenpaar Sorna–Dohol (Schalmei–Trommel) und seinen Einsatz beim Neujahrsfest Nouruz als einen Teil der Erinnerungskultur. Die letzten Präsentationen am ersten Tag des Symposiums veranschaulichten die lebendige Praxis des musikalischen Kulturerbes durch Darbietungen von Gertrud Maria Huber, Mitra Behpoori und Luka Mukhavele.
Am folgenden Tag wurden weitere acht Referate präsentiert. In der vierten Sektion Freier Bericht hinterfragte Rainer Polak (Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik Frankfurt am Main) in seinem Referat „Darbietung und Partizipation in bäuerlicher Musik/Tanz-Performance im südlichen Mali“ die von der Vorstellung einer binären Opposition von „präsentationalen“ und „partizipatorischen“ Kontexten geprägte dichotomische Denkfigur und schlug eine Überarbeitung dieser theoretischen Konzeption vor. In der fünften Sektion Retransferproblematik des musikalischen Erbes präsentierte Edda Brandes (Berlin) ihren Beitrag „Herausforderungen und Hindernisse: Bewahrung und Revitalisierung durch Rückführung von Klangdokumenten – ein Fallbeispiel“, befasste sich mit dem Schicksal von Dokumenten aus Algerien, Mauretanien und Mali und nahm über den geographischen Raum hinausgehende Fragen ins Visier. Musikalisches Kulturerbe im Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen stand im Zentrum der sechsten Sektion. Sidney Hutchinson (Humboldt-Universität Berlin) erörtete in ihrem Referat „Erinnerungskultur or Vergessenskultur? (¿Cultura de memoria o cultura de olvido?) Reflections on memory and forgetting in Dominican merengue“, wie in populärer Musik, auch in mündlich überliefertem Repertoire von Merengue típicos, selektives Gedächtnis und Geheimnisse kombiniert wurden. Utku Öğüt (Humboldt-Universität Berlin) untersuchte Erinnerungskulturen im Kontext von Musik(en) in der Türkei, ihr Verhältnis zur Archivierung und hinterfragte die Entstehung von Vergessenskulturen als mögliche Folge des Fehlens einer systematisierten Archivkultur. In der siebenten Sektion Transformationsprozesse in verschiedenen Graduierungen: Folgen von Versklavung und Vertreibung untersuchte Klaus Näumann (Martin-Luther- Universität Halle) in seinem Referat „Musikalische Erinnerungskultur zweiten Grades: Einflüsse aus dem Big Drum auf die String Music in Carriacou“ – einem „work in progress“ – Veränderungen von Einflüssen aus dem Big Drum der überwiegend afrikanischstämmigen Bevölkerung auf die String Music, die eher auf europäischen Einflüssen (schottischen) sowie Einflüssen aus dem nahe gelegenen Trinidad zu basieren scheint. Sean Prieske (Leuphana Universität Lüneburg und Humboldt-Universität Berlin) stellte in seinem Beitrag „Musikalische Erinnerungskulturen im Fluchtkontext“ Ergebnisse seiner Forschung zu Musik im Flüchtlingskontext in Berlin vor. Vier Jahre lang hatte er Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, dem Libanon, der Türkei, dem Iran und Eritrea begleitet, ihre musikalischen Wechselwirkungen mit ihrem Alltag erforscht und sie zu verschiedenen Aspekten des Komplexes musikalischer Erinnerungskulturen interviewt. Die achte und letzte Sektion widmete sich dem Musikalischen Kulturerbe in Neu-Kompositionen und Neu-Textierungen sowie Perspektiven für Studien indigener Musiken mit zwei Beiträgen. Bernhard Bleibinger (Institución Milà y Fontanals de investigación en Humanidades Barcelona) wies in seinem Beitrag „HIV/AIDS im Eastern Cape – Musikalische Erinnerungen an eine fast vergessene Pandemie“ auf die besondere Stellung der Musik in diesem Zusammenhang hin und demonstrierte Beispiele für Formen zeitgenössischer Neukompositionen oder neue Texteinschübe in traditionellen Gesängen. Luka Mukhavele (Weimar/Jena) präsentierte in seinem Referat „New Perspectives and Approaches in the Study of Indigenous Musics“ Ansätze für eine zukünftige Erforschung indigener Musik als lebendigem Erbe und Quelle nachhaltiger Identität in einem fairen zwischenmenschlichen und interkulturellen Dialog.
Die nächste Jahrestagung wird in Form eines Workshops für Master- und Doktoranden stattfinden, der von jungen Forschern aus dem Kreis unserer Mitglieder organisiert werden wird, weitere Details dazu auf der Website http://ictmusic.org/world-network/germany-national-committee.