Musik als Experimentierfeld für Bewegung / Music as an Experimental Field for Movement
Strobl, 14.-16.09.2020
Von Sabine Bayerl, Heidelberg – 19.06.2021 | Eine kurze Atempause vor der zweiten Welle der Corona-Pandemie machte es möglich, dass ein spätsommerliches Symposium im Rahmen des DFG-geförderten, am Musikwissenschaftlichen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angesiedelten Forschungsprojekts „Körper und Klänge in Bewegung“ zumindest partiell in Präsenz stattfinden konnte: Stephanie Schroedter hatte nach Strobl am Wolfgangsee/Oberösterreich geladen, um vor schönster landschaftlicher Kulisse das Themenfeld „Musik und Bewegung“ abzuschreiten.
Den Ausgangspunkt bildeten Fragestellungen, die sich mit den Relationen zwischen hör- und sichtbaren Bewegungsgestaltungen beschäftigten, etwa zur Beziehung von Musik bzw. Klängen und Bewegungen in künstlerischen Prozessen, zu daraus möglicherweise resultierenden Modellen und wirkungsästhetischen Intentionen oder zu Konsequenzen für die Wahrnehmung und Analyse von Bewegungen. Die Vortragenden nahmen dabei ein breites Spektrum an sparten-, genre- und stilübergreifenden Produktionen in den Blick, anhand derer das Verhältnis von Musik und Körpern, von Körperlichkeit von Musik bzw. Musik und Bewegung untersucht wurde. Dank der hybriden Konzeption des Symposiums konnten sowohl die vor Ort Anwesenden als auch die online Zugeschalteten an den angeregten Diskussionen partizipieren. Einen besonderen Impuls erhielten die Gespräche – neben den multiperspektivischen Vorträgen der Wissenschaftler*innen – durch die Tatsache, dass auch Künstler*innen bzw. Grenzgänger*innen zwischen Theorie und Praxis geladen waren, die nicht nur ihre vom eigenen künstlerischen Schaffen gespeisten Ansätze und Modelle einbringen konnten, sondern deren Expertise zugleich die Möglichkeit bot, Wissenschaft und Praxis von Musik und Bewegung ineinander zu spiegeln und Konzepte wechselseitig zu überprüfen.
Eröffnet wurde die Tagung mit zwei Vorträgen, die auf Igor Strawinsky Bezug nahmen: Christoph Flamm (Heidelberg) referierte in seinem „Erzwungene Freiheit“ betitelten Vortrag über „Choreographie und Musik in Igor Strawinskys frühen Ballettkompositionen“. Anhand von L’Oiseau de Feu, Pétrouchka und Le Sacre du Printemps zeigte er die Veränderungen im Verhältnis von Choreographie und Musik auf und machte damit auch die radikale Transformation der Koordination von Musik und Bewegung bei Strawinsky anschaulich, die exemplarisch für Tendenzen in der avantgardistischen Tanzkunst Anfang des 20. Jahrhunderts steht. Einen Schwerpunkt ganz anderer Art setzte Leila Zickgraf (Berlin) in ihrem Vortrag „Musik und Immersion zu Beginn des 20. Jahrhunderts, oder: Was hat Igor Stravinksij mit Virtual Reality zu tun?“ Darin ging sie unter anderem der Frage nach, ob mit VR-Technologie rauschhafte Zustände von Agierenden und auch Rezipierenden, wie sie bereits in den ersten Balletten Strawinskys, insbesondere in Le Sacre, aber auch durch „bewusstlos“ agierende Marionetten in Pétrouchka intendiert sind, in die Gegenwart transportiert werden können. Sinnlich erfahrbar machen soll dies ein künstlerisches Projekt, das Leila Zickgraf zusammen mit dem Choreographen Sebastian Matthias und dem ZDF realisieren wird. Dem breiten Spektrum „Interweaving of Music and Movement – Preconditions, Approaches and Consequences“ widmete sich Stephanie Schroedter (Heidelberg, jetzt Wien). Ihr analytischer Blick auf die verschiedenen Arten des Zusammenspiels von Musik und Bewegung in unterschiedlichen Genres und auf deren Rezeption mündete am ersten Abend, ganz im Sinne ihrer Konzeption des Symposiums, in einen fruchtbaren Austausch mit drei Künstler*innen: der Choreographin Elisabeth Schilling (Trier), dem Ballett-Komponisten Dirk Haubrich (Berlin) sowie Iván Pérez, dem Choreographen und künstlerischen Leiter des Tanztheaters Heidelberg.
Mit einem Vortrag zum Thema „Bewegungsgestaltung in Balletten der Nachkriegszeit“ anhand von Giselher Klebes Menagerie und Bernd Alois Zimmermanns Kontraste eröffnete Adrian Kuhl (Frankfurt am Main) den zweiten Tag. Die beiden Ballette aus den 1950er-Jahren dürfen, das wurde durch seine detaillierte Betrachtung anschaulich, als exemplarisch für zwei Richtungen des Balletts gelten, die sich in der Nachkriegszeit neu erfanden: das Handlungs- und das experimentelle Ballett. Einen zeitlichen Sprung in die Gegenwart der Digital Natives machte Rainer Nonnenmann (Köln) mit seinen Überlegungen zu „Auflösung, Vertauschung und Betonung des Körperlichen im Digitalzeitalter – Sein, Schein und virtuelle Perspektiven bei Alexander Schubert“. Dabei nahm er Bezug auf die performativen, installativen und musiktheatralen Projekte des 1979 geborenen Informatikers und Komponisten Schubert, der sich unter anderem für die Folgen interessiert, die sich aus dem Einsatz digitaler Technik für ein Werk und dessen Wahrnehmung ergeben. Leo Dick (Basel/Bern) wiederum sprach über „Tarantella helvetica. Symbolische Transformationen animalischer Kinesis auf der Schweizer Musiktheaterbühne“, wobei er beispielhaft zwei musiktheatralische Übertragungen der Erzählung Die schwarze Spinne des schweizerischen Nationaldichters Jeremias Gotthelf in den Blick nahm. Anhand der Vertonungen von Heinrich Sutermeister (1934) und Rudolf Kelterborn (1984) arbeitete er heraus, wie geschlechtsspezifische Körper- und Rollenbilder im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext kompositorisch, dramaturgisch und inszenatorisch umgesetzt werden. In seinem Vortrag „Moving to the Beat of its own Drum – Contemporary Theatre Music in Relation to Gesture und Space“ widmete sich David Roesner (München) insbesondere dem Verhältnis von Ruhe und Bewegung im Zusammenspiel von Musiker*innen und Schauspieler*innen auf der Bühne. In drei verschiedenen Produktionen, in denen Drummer als theatrale Partner agieren, wurden exemplarisch unterschiedliche Modi der Interaktion beleuchtet, die eine jeweils andere Dynamik des Bühnengeschehens nach sich zogen. Mit dem Phänomen sich bewegender und bewegter Rezipient*innen beschäftigte sich Fabian Czolbe (Berlin) in seinem Beitrag „Mitkomponiert und choreografiert – Das bewegte Publikum im zeitgenössischen Musiktheater“. Anhand von Fallbeispielen zeigte er Werk- und Aufführungskonzeptionen auf, die das Publikum mithilfe von installativen, stationären und performativen Modellen mobilisieren und dabei unterschiedliche kompositionsästhetische und dramaturgische Ziele verfolgen.
Auf eine „medienethnografische Spurensuche“ begab sich Margarethe Maierhofer-Lischka (Graz) in ihrem Vortrag „Listening Into The Vortex – With Headphones. Darstellungen räumlicher Desorientierung in zeitgenössischer Musik und Tanz“. Dabei ging sie der Frage nach, wie Medien unsere Wahrnehmung beeinflussen und wie eine Wahrnehmungsdissonanz, wie sie beispielsweise durch Kopfhörer erzeugt werden kann, ihren Widerschein in der künstlerischen Praxis findet. Den Fokus legte sie auf das Phänomen des Schwindels (bzw., damit verbunden, des Rausches), das in zahlreichen choreographisch-kompositorischen Kooperationen aufgegriffen wird. Die Körperlichkeit des Musikers ist im Klang wie in dessen körperlicher Präsenz in der Aufführung gegenwärtig; die Bewegungen eines Tänzers wiederum basieren auf musikalischen Phrasierungsprinzipien und kinetischen Melodien. In seinem Vortrag „Double Vortex – Caught without Escape“ ging Jan Schacher (Zürich) am Beispiel seiner Werke Double Vortex und Moving Music der Frage nach, welche Grundlagen die Wahrnehmung dieser beiden Seins- und Handlungsweisen verbinden und wie die phänomenologische Perspektive für die Untersuchung der körperlichen Präsenz, des taktilen Charakters von Klang und des subjektiven Faktors innerhalb unserer Wahrnehmung genutzt werden kann. Julia H. Schröder (Berlin) widmete sich in „The Danced Sound Sculpture“ interaktiven Soundinstallationen, die über Sensoren durch Tänzer*innen ausgelöst werden, wodurch Musik entsteht. Dabei stellte sie sich die Frage, inwiefern bzw. ob Tanzende damit zu Instrumentalisten, die Installationen zu Instrumenten werden und wechselseitige Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sind. Anhand unterschiedlicher künstlerischer Werke wurden verschiedene Interaktionsformen zwischen Klangkünstler*in/Komponist*in, Installation und Tänzer*in anschaulich. Elena Ungeheuer (Würzburg) eröffnete in ihrem Vortrag „Doing Understanding. Dance als Space Sculpturing Instrument and Partner in a Communication-Theoretical Performance Concept“ anhand von EADWARD’S EAR Muybridge extended (Media-Sound-Design: Gerriet K. Sharma) und unter Rückgriff auf Begrifflichkeiten handlungsorientierter Kommunikationstheorie neue Perspektiven für Musik und Tanz. In besagtem Interface für Komponist*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen werden tänzerische Bewegungen in grafische Notation transformiert, von Musikern interpretiert, wodurch wiederum Tänzer zu Bewegungen inspiriert werden – dies alles in Echtzeit. Verbindendes Element ist die räumliche Gestalt, die Musik und Tanz als autonome Kräfte ausgestalten.
Anhand des vielschichtigen Begriffs der Geste nahm Ivo Berg (Berlin) in seinem Beitrag „Kontakt_Improvisation: Gestische Interaktionen im performativen Aufeinandertreffen von Tanz und Musik“ Beziehungen zwischen tänzerischen und musikalischen Aktionen am Beispiel von zwei Performance-Projekten in den Blick. Das breite Spektrum der Bezugnahmen der improvisierenden Akteur*innen aufeinander, das anhand der Videos deutlich wurde, wurde durch qualitative Interviews, aber auch theoretische Ansätze (uunter anderem Flusser, von Laban) ausgeleuchtet. Einer besonderen Form des improvisierten Tanzes, dem Steptanz, widmete sich Kara Yoo Leaman (Oberlin/Ohio) in ihrem Vortrag „Techniques of a Musician-Dancer: Analysis of an Improvised Tap Dance Performance bei Dormeshia“. Dabei stand besonders die musikalische Kunstfertigkeit von Steptänzer*innen im Fokus, die, wie gezeigt wurde, als Instrumentalist*innen im Sinne von Jazz-Perkussion zu begreifen sind. Eine detaillierte Analyse der Performance einer Ausnahme-Steptänzerin, Dormeshia Sumbry-Edwards, machte den produktiven Kommunikationsprozess zwischen Tänzerin und Jazz-Trio im Rahmen der Improvisation deutlich.
Lecture Performances mit Masterstudierenden des IDA, Institute of Dance Arts der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, präsentierten Rose Breuss (Linz) und Claudia Jeschke (München/Salzburg) in „KörperKlangZeiten: The Silent Music of Dance“. In Videos zeigten die Studierenden tänzerische Studien, die sich mit den Bewegungszeichnungen von Dorothee Günther zum einen sowie zum anderen mit Affektdarstellungen aus der Ausstellung Caravaggio/Bernini (Wien 2019) auseinandersetzten. Die Kompositionen, mit denen sich Barbara Dobretsberger (Salzburg) in „Auf Papier gebannt, in den Raum geholt – Zu den bewegten Klängen von Adriana Hölszkys Roses of Shadow und Deep Field“ beschäftigte, wurden von Martin Schläpfer für die Deutsche Oper am Rhein (Düsseldorf/Duisburg) choreographiert. Dabei sind die von Hölszky als „Ballett“ bzw. „Klangchoreographie“ bezeichneten Werke keineswegs auf Tanztauglichkeit hin komponiert. In beiden Fällen durchziehen Text(fragment)e die Musik, Inspirationsquellen, die sich in Schläpfers choreographischen Bildern freilich nicht in einem irgendwie logischen Handlungsstrang wiederfinden. Partitur und Bühnenrealisation verhandeln hier in jeweils existentieller Weise das Verhältnis des Menschen zur Natur, ohne sich gegenseitig zu bebildern.
Abgerundet wurde der zweite Abend durch Stephanie Schroedters Kommentar zu Martin Schläpfers musikchoreographischen Arbeiten. Dabei wurde die intensive Auseinandersetzung des Choreographen mit der Musik ebenso plastisch wie sein Ringen um Themen, Topoi und Bewegungsvokabular eines zeitgenössischen Balletts, das immer wieder in unverwechselbare Bühnenproduktionen mündet – für die Organisatorin überdies eine wichtige Inspirationsquelle für das Symposium. Ein geradezu prototypisches musikalisch-tänzerisches Genre, in dem sich beide Sphären permanent beeinflussen, stellte Kendra Stepputat (Graz) mit dem Tango in „Exploring Choreomusical Relations in Tango Argentino“ vor. Seit seiner Entstehung in den 1910er-Jahren haben sich in Musik und Tanz viele unterschiedliche Tango-Stile entwickelt. Dieses breite Feld untersucht Stepputat in einem laufenden Projekt anhand der Frage „Was ist Tango-tanzbare Musik?“ aus drei Perspektiven: musikalische Strukturen, Bewegungsstrukturen und soziale Strukturen. Wie dem Schattendasein, das die Musik im Tanz, insbesondere auch in der Ausbildung von Tänzer*innen häufig führt, entgegengewirkt werden kann, demonstrierte Steffen A. Schmidt (Zürich/Berlin) mit seinem didaktischen Design einer „Musikcollage – ein Lehrmodul zur Vermittlung von Musik und Tanz“. Mithilfe des Dreischritts Konzepterstellung, Entwicklung einer Musikcollage und schließlich einer Performance gibt er Studierenden die Möglichkeit, sich reflektierend mit Musik auseinanderzusetzen. Dorothea Weise (Berlin) beschäftigte sich in ihrem Vortrag „Hören durch Sehen – Aspekte der Wahrnehmung von Musik und Tanz“ mit dem „Stolpern“, einem Wahrnehmungsgeschehen, das nach Heinrich Jacoby das Gewahrwerden durchkreuzter Erwartungen beschreibt und für das insbesondere künstlerische Produkte vielfältige Anlässe bieten können. Teilanalysen der musikchoreographischen Arbeit Beauty/Schönheit/Skönhet (Susanne Jaresand), in der Wahrnehmung als elementarer Bestandteil künstlerischen Schaffens im Zentrum steht, machten den auf das Stolpern folgenden Schritt des „Probierens“ anschaulich. Helen Minors (London) näherte sich in ihrem Beitrag dem Themenfeld „Translations between Music and Movement“ und damit der Frage, wie im künstlerischen Prozess Musik und Tanz erfahren und interpretiert werden. Denn jedes musikalisch-tänzerische Werk entsteht nicht nur auf der Basis von textuellen Begriffen, entscheidend sind vielmehr auch das implizite Wissen der Künstler*innen sowie die körperliche Erfahrung der Performance. Am Beispiel der Metapher (sprachlich und praktisch) wurde exemplifiziert, wie Ideen geteilt und gemeinsam musikalisch-tänzerische Arbeiten geschaffen werden können.
Zum Abschluss des Symposiums sprach Stephanie Jordan (London) über „A Play of Physicalities: Music and Dance as Choreomusical Interaction“. Sie plädierte – im Gegensatz zur über lange Zeit auch seitens der Forschung forcierten Ähnlichkeit von Musik und Tanz – mit Blick auf Rhythmus, Energie sowie deren Wechselwirkung in Musik und Tanz für eine Unabhängigkeit als neue Norm musikchoreographischen Schaffens. Ausgangspunkte ihrer Überlegungen bildeten dabei, neben Werken von Richard Alston und Jonathan Burrows, auch die künstlerischen Arbeiten von John Cage und Merce Cunningham, deren Idee einer vollständigen Eigenständigkeit im künstlerischen Prozess viele Choreographen und Komponisten inspiriert hat; Konzepte aus der aktuellen Embodiment-Theorie, wonach unser Verständnis von Musik unsere physische Bewegungserfahrung umfasst, sowie aktuelle detaillierte rhythmische und strukturelle Analysen im Rahmen musikchoreographischer Studien. Leider boten die knapp drei Tage kaum ausreichend Zeit, um die unterschiedlichen Zugriffe auf das Grenzen überschreitende Themenspektrum ausführlicher zu diskutieren. Dass es lohnt, die verschiedenen transdisziplinären Gesprächsfäden in der Zukunft weiterzuspinnen, war indes unstrittig.