200 Jahre Hammerklaviersonate
Siegburg, 20.-22.09.2019
Von Philipp Haug, Siegburg – 28.10.2019 | Kurz vor dem großen Beethovenjahr 2020 blickte man in Siegburg – aus Anlass ihres 200. „Geburtstages“ – intensiv auf die 1819 erschienene „Hammerklaviersonate“ op. 106. Sie gilt in der gesamten Klavierliteratur aufgrund ihrer exorbitant hohen gedanklichen und pianistischen Ansprüche als Ausnahmewerk. Veranstaltet wurde das Symposium von der Musikwerkstatt Siegburg in Kooperation unter anderem mit dem Beethovenfest Bonn.
Das Themenspektrum der dreitägigen Veranstaltung war weit gespannt: Neben Werkentstehung und -überlieferung, musikhistorischer Stellung und Rezeptionsgeschichte wurden vor allem Fragen zur Aufführungspraxis in den Mittelpunkt gestellt. Dazu gehörten Tempoentschlüsselung, Metronomisierung, Pedalgebrauch, das Instrumentarium der Beethovenzeit und die Frage nach möglichen aufführungspraktisch relevanten Quellen. Ziel des Symposiums war es, Wissenschaftler, Künstler und Experten aus unterschiedlichen Gebieten zusammenzubringen. Exemplarisch wurden so anhand der Hammerklaviersonate aufführungspraktische Fragen diskutiert, die auch für andere Klavierwerke Beethovens und der Wiener Klassik relevant sind. Zwei Klavierabende des Beethovenfestes Bonn ergänzten das Symposium. Die Hammerklaviersonate wurde dabei von Tomoki Kitamura am modernen Flügel und am folgenden Tag von Ronald Brautigam am historischen Graf-Hammerflügel interpretiert. Dazu kamen ein moderiertes Konzert zur kompositorischen Rezeption der Hammerklaviersonate bei Mendelssohn und Brahms sowie ein praktischer Workshop zu historischen Metronomangaben.
Die Intendantin des Internationalen Beethovenfestes Bonn, Nike Wagner, eröffnete das Symposium mit einer Keynote, bevor Matthias Henke (Siegen) zu „Komponieren im Vorzimmer des Todes – Gedanken zu Beethovens Spätwerk“ vortrug und damit den Themenblock „Bedeutung, Rezeption und Werkgeschichte“ eröffnete. Im Zentrum standen für Henke weniger der Spätwerkbegriff Adornos und dessen Kommentierung durch Dahlhaus, sondern die Behandlung von Beethovens Spätwerk im Film. Während die „Neunte“ oftmals in recht oberflächlicher Weise filmische Finales grundiert, werden die späten Streichquartette oder Klaviersonaten eher selten in Filmen verwendet, dann aber meist auf imponierende Weise – wie Henke vor allem an den Beethoven-Filmen von Abel Gance (1937) und Horst Seemann (1976) darlegte.
Die „Zeitgenössische Rezeption der Sonate op. 106 und weiterer Klavierwerke Beethovens“ untersuchte Beate Angelika Kraus (Bonn). Ausgehend von der Rolle des Klavierspiels im kulturellen Leben des 19. Jahrhunderts und der Frage nach Ausführenden, Aufführungsorten, Publikum und Kritikern zeigte sie auf, welches Bild der Sonate op. 106 diese Quellen vermitteln – im Vergleich zu anderen Werken Beethovens – und wie dieser Befund zu interpretieren sei, der eine Welt öffnete, die sich grundlegend von jener, in der heutige Pianistinnen und Pianisten Beethovens Spätwerk aufführen, unterscheidet. Die „Quellen zu op. 106 und zur Überlieferung der Metronomzahlen“ beleuchtete Jochen Reutter (Wien) und verwies auf die im Vergleich zu den übrigen der fünf letzten Klaviersonaten Beethovens vergleichsweise schmale Quellenbasis. Reutter zeigte, dass neben der von Beethoven überwachten Wiener Erstausgabe auch die Londoner Erstausgabe samt ihrer Titelauflage für die Ermittlung des Notentextes unverzichtbar seien und ging im Rahmen seiner Erörterungen auch auf die Überlieferung der Metronomzahlen ein.
Damit war dann zugleich eine Überleitung zum Themenblock „Aufführungspraxis“ geschaffen. Johann Sonnleitner (Basel) beleuchtete „Die originalen und frühen Metronom-Angaben zur Hammerklaviersonate in neuer Sicht“ und ging auf die vielen Fragen ein, die der Notentext und die Metronomangaben den Interpreten stellen. Zu ihrer Beantwortung plädierte er eine „variable“ Untersuchung, bei der – kontextbezogen - sowohl die mathematische „1:1-Methode“ des Metronomschlags als auch die „halbierende“ metrische Methode in Betracht kommen. Sonnleitner hielt seinen Vortrag in Kooperation mit Bernhard Ruchti (Winterthur), der unter der Überschrift „Theorie versus Praxis – Zum Gebrauch des Metronoms in den ersten Jahrzehnten des Metronomisierens“ darauf verwies, dass Maelzels Verständnis der Zählung des Metronom-Schlages dem heute üblichen entspreche, gleichzeitig in den ersten Jahrzehnten nach der Erfindung des Metronoms aus den Quellen ein alternatives Verständnis des Metronom-Schlages sichtbar werde und sehr viel gemäßigtere Tempi erzeuge.
„Schriftliche und klangliche Quellen zur Aufführungspraxis“ stellte Stefan Gottfried (Wien) vor. Sein Vortrag drehte sich um die Klärung historischer Tempi rund um Beethoven, wobei er den Blick auf allgemeine Quellen des 18. und 19. Jahrhundert richtete (letzteres auch mithilfe historischer Aufnahmen aus der Liszt-, Chopin- und Schumann-Tradition). Unter den Besuchern und Referenten des Symposiums entwickelten sich lebhafte Diskussionen über die verschiedenen Temposichtweisen, die auch die Gegebenheiten der Hammerflügel der Beethovenzeit wie die Repetitionsgeschwindigkeiten eines Tones einschlossen.
Für viele Zuhörer wurde die daran anschließende Präsentation von drei Hammerflügeln zu einem Höhepunkt des Symposiums. Edwin Beunk (Enschede) stellte die Frage „Für welches Instrument komponierte Beethoven? Zur Entwicklung der Flügel in Beethovens Zeit“ und wurde dabei von Riko Fukuda mit Klangbeispielen an den Instrumenten unterstützt. Die Entwicklungsgeschwindigkeit des jungen Instruments Klavier war während Beethovens Lebenszeit rasant: Die Oktavenanzahl erhöhte sich von 5 nach 6,5 Oktaven, neue Spieltechniken wurden entwickelt (una, due und tre-corde). Neben der historischen Entwicklung der Instrumente wurden auch die Unterschiede verschiedener Klaviermanufakturen erläutert. Präsentiert wurden ein 5-Oktaven Instrument von ca. 1785, ein Broadwood von 1807 und ein Conrad Graf-Flügel von 1826 – jenes Instrument, an dem später Ronald Brautigam spielen sollte.
Die „Charakteristische Wirkung des ,ungedämpften Registers‘ und des ,Una Corda‘ in den Werken für Hammerklavier von Ludwig van Beethoven – insbesondere bei op. 106“ erläuterte und demonstrierte Sheila Arnold (Köln) an den drei Hammerflügeln. Beethoven habe die Dämpfungsaufhebung und das Una Corda gezielt bezeichnet, wenn er Außergewöhnliches oder Unerwartetes hervorheben wollte. Es bleibe offen, wie er das Pedal außerhalb dieser Momente benutzte. Die Suche nach der „wahren Art der Pedalisierung“ in den Klavierwerken Beethovens führe zu den spezifischen Eigenarten unterschiedlicher Tasteninstrumente seiner Zeit: ihre Klangästhetik aufgrund unterschiedlicher Bauweisen (Wiener oder Englische Mechanik), dem Spielgefühl und der jeweiligen Mechanik des „Senza Sordino“ (Kniehebel oder Pedal); zu den vielen Abstufungen der Artikulation bis hin zum Fingerpedal.
Ingrid Bodsch (Bonn) griff mit „Clara Schumann als Interpretin von op. 106“ noch einmal den Themenblock „Rezeptionsgeschichte“ auf und legte Schumanns Verhältnis zu Beethoven dar. Damit erwies das Symposium der großen Pianistin und Komponistin seine Reverenz, wurde sie doch im Erscheinungsjahr der Hammerklaviersonate 1819 geboren. Als Interpretin von op. 106 sei sie öffentlich jedoch nur zwei Mal in Erscheinung getreten. Dieses Schicksal teilte sie mit Franz Liszt. Über „Liszt und die Hammerklaviersonate“ trug Christian Ubber (Siegburg) vor und rekonstruierte Aspekte von Liszts Verständnis von op. 106 und von Beethoven im Allgemeinen anhand von Indizien, zu denen seine eigene Edition des Werkes und Ausgaben seiner Schüler gehören, vor allem aber Aufnahmen von Beethovenwerken durch Liszts Schüler, die es erlauben, Merkmale von Liszts Beethovenspiel herauszuarbeiten und darin aufführungspraktische Traditionen bis zurück zur Beethovenzeit erkennen lassen.
Cord Garben (Hamburg) – der aus gesundheitlichen Gründen dem Symposium nicht beiwohnen konnte und seinen Beitrag von Christian Ubber vortragen ließ – widmete sich dem Thema „Opus 106: Interpreten und Wirkung“ und beleuchtete facettenreich die Interpretationsgeschichte auf Tonträgern aus seiner Sicht als Schallplattenproduzent, wobei eigentlich nur Solomon Cutner und Svjatoslav Richter in seinen Augen Gnade fanden. Er zeigte auf, warum Weingartners Orchestrierung scheitern musste und wie klug Brahms mit op. 106 umging, indem er aus dem langsamen Satz das Thema für den 1. Satz der 4. Sinfonie nahm.
Im Gesprächskonzert „Beethovens Schatten“ zeigte Heribert Koch (Münster) die kompositorische Rezeption der Hammerklaviersonate in der Sonate B-Dur op. 106 (1827) von Felix Mendelssohn Bartholdy und C-Dur op. 1 (1853) von Brahms. Dabei verwiesen die von den aufstrebenden jungen Komponisten gewählten Opuszahlen auf je eigene Weise sowohl auf die Bedeutung dieser frühen Werke im Rahmen des eigenen Schaffens als auch auf die Bedeutung des Vorbilds Beethoven in dieser Phase ihrer kompositorischen Entwicklung.
In der abschließenden Podiumsdiskussion zwischen Referenten und Publikum zeigte sich noch einmal, wie intensiv das Gespräch und der Austausch zwischen Musikern, Wissenschaftlern, Fachjournalisten und Musikliebhabern während des gesamten Symposiums war. Nur der Beginn des Recitals von Ronald Brautigam konnte die Diskussion beenden, die sonst sicher noch weitaus länger gedauert hätte als zwei Stunden.