Muzykal’naja kompozicija i novye metody gumanitarych issledovanij / Music Composition and New Methods of Humanitarian Researches
Moskau, 07.-09.10.2019
Von Sergej Nikiforov, Moskau, und Gesine Schröder, Leipzig/Wien – 24.11.2019 | Die Konferenz über neue Methoden der geisteswissenschaftlichen Forschung wurde anlässlich der Feier des 70. Geburtstags von Aleksandr Sokolov ausgerichtet. Sokolov leitet die zur historisch-theoretischen Fakultät des Čajkovskij-Konservatoriums Moskau gehörige Theorie-Abteilung, er ist Rektor des Konservatoriums und Autor einer zuerst 1992 erschienenen, auch ins Spanische übersetzten Monographie über Komponieren im 20. Jahrhundert. Die Organisation der Konferenz lag maßgeblich in den Händen eines Teams aus dem kunstwissenschaftlichen Zentrum für Gegenwartsmusik des Konservatoriums. Der Komponist Vladimir Tarnopolʼskij (*1955), künstlerischer Vorstand des Zentrums, referierte auch selbst (über die Bedeutung soziologisch-kultureller Ausbildung der Musikstudierenden, insbesondere wenn sie sich neuerer Musik widmen), und ein im Zentrum angesiedeltes Ensemble für Neue Musik bestritt eines der beiden Konzerte, die man der Konferenz beigegeben hatte. Zu hören waren unter anderem Tarnopolʼskijs 1991, im Umfeld des spätsowjetischen Putsches jenes Jahres geschriebenes und als Exemplifikation seines Vortrags wirkendes Ensemblestück Kassandra sowie eine drei Jahre alte, in Kooperation mit dem Videokünstler Aleksandr Pettaj entstandene multimediale Komposition für zwei Klaviere, Elektronik und Video von Igorʼ Kefalidi (*1941), der in der bislang eher mager ausgestatteten Elektroakustischen Abteilung des Konservatoriums tätig ist. Dass er mit 78 Jahren noch lehrt, ist symptomatisch für das russische Hochschulwesen: Im Normalfall behält man seine berufliche Position bis ans Lebensende und begibt sich nicht in den Ruhestand. Zu den nicht wenigen weit über siebzigjährigen Vortragenden gehörten Galina Grigor’eva und Irina Koženova. Die eine arbeitete heraus, auf welche Weise Sergej Taneev bei seiner Vertonung symbolistischer Gedichte von Konstantin Balʼmont seine Chormusik um 1910 mit Eigenschaften instrumentaler Formen ausgestattet hatte; die andere sprach davon, dass Balladeskes bei Edvard Grieg immer wieder auf Balladen Chopins zurückgreift, die als Modelle gewirkt haben dürften. Indes wurde bei der Konferenz Musik, die vor mehr als einem halben Jahrhundert entstand, kaum thematisiert, auch der Musik sowjetischer oder russischer Komponisten waren nur wenige der insgesamt 35 Vorträge gewidmet.
Charakteristisch noch für die aktuelle russische Musikforschung ist das Nebeneinander konträrer Ansätze: Penible Archivrecherchen stehen naturwissenschaftlichen Zugängen zu ästhetischen Phänomenen gegenüber, beides unterfüttert mit pianistischem Rüstzeug der Forscher*innen und einem soliden tonsetzerischen Handwerk, das stilistisch in den Jahren um 1900 zu situieren wäre. Derart lässt sich weit gedehnte Tonalität umstandslos mit Visuellem verbinden, und vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, dass Orgeln, deren Töne Landschaftsbilder produzieren, Marija Vojnova bei ihren analytischen Anstrengungen keinen Augenblick ins Grübeln brachten. Auf die russische Tradition synästhetisch-intuitiven und zugleich dezidiert rationalen Musikdenkens wurde von den Vortragenden mehrfach verwiesen, so habe der als Mathematiker ausgebildete Leonid Sabaneev schon um 1920 einen ekphratischen Zugang zu Musik seiner Gegenwart vorbereitet.
Zu den thematischen Akzenten der Arbeiten des Gefeierten passend, wandten sich die meisten Vortragenden der Musik der letzten Jahrzehnte zu. Gezeigt wurde anhand von Manuskripten Vladimir Martynovs (*1946), dass dieser sich in einer bestimmten Periode seines Schaffens um die Kombination von Dodekaphonie und Minimalismus bemüht hatte. Der Spektralismus wurde untersucht, unter anderem in jener Ausprägung, die Kaija Saariaho ihm gibt. Mehrere Vorträge waren der Musik italienischer Komponisten gewidmet, darunter Luciano Berio, Pierluigi Billone, Franco Donatoni, Fausto Romitelli, Salvatore Sciarrino und Marco Stroppa. Über kompositorische Ansätze der letzten Jahre in der Mongolei berichtete der mongolische Pianist Šaravzeren Zerenžigmed.
Konferenzteilnehmer aus dem westlicheren Europa hätten womöglich als Zumutung empfunden, dass – wie am zweiten Konferenztag – vier Stunden Vorträge ohne Pause angesetzt waren, in halbstündigem Takt. In Russland sei „es“ aber viel freier als in Deutschland, sagt Tarnopolʼskij, man könne kommen und gehen, wann man wolle. Es geschieht, dass ein handgeschriebener Text abgelesen wird, 30 Minuten ohne Bilder, Hörbeispiele oder Noten. Dann wieder reiht ein Kongressbeitrag Bild an Bild. Zum Umkreis Stravinskijs präsentierte Tatʼjana Baranova eine reiche Sammlung unter anderem von lichtdurchfluteten Zeichnungen und Gemälden der ersten Gattin des Komponisten, Ekaterina Nosenko. Sie sind Beispiele für die moderne und erlesene Bildung, die Frauen in Russland um 1900 erwerben konnten, noch bevor sie – wie Nosenko – zur weiteren Ausbildung beispielsweise nach Paris gingen. Es kam auch vor, dass sich in den manchmal verbleibenden Frageminuten nach den Vorträgen Richtungsstreits andeuteten. Irina Susidko zeigte, dass Adolf Bernhard Marx’ Typologie der Rondoformen in der russischen Musikanalytik bis heute, gleichwohl adaptiert, lebendig ist. Ausgehend von einer aus dem Jahre 1883 stammenden Übersetzung von Ludwig Busslers Formenlehre, die Marx’ Formenkatalog bereits vereinfacht hatte, entwickelte sich in Russland ein Strang formtheoretischen Denkens, der über Jurij Cholopov (1932–2003) und seine Schüler*innen bis in die Gegenwart reicht, während von Lev Mazel’ und Viktor Cukkerman initiierte ganzheitliche und phänomenologische Formbetrachtungen schon in den 1950er- und 60er-Jahren ohne Marx’ Typologie ausgekommen waren. Ob man zu einer historisch-informierten Formenlehre übergehen solle, stand nicht zur Debatte. Zwar aus gemeinsamen Quellen herkommend, haben sich russische Zugänge zur musikalischen Form in weiten Teilen unabhängig von mitteleuropäischen Musikdenkweisen während der vergangenen hundert Jahren entwickelt. Nicht zuletzt hier wurde spürbar, was zu den Gegenständen gehörte, um die eine „History of [nicht mehr nur] Western Music Theory“ zu erweitern wäre.