„Deborah“, Händels Oratorium von einer starken Frau im Alten Testament
Halle, 17.-19.09.2019
Von Jörg Holzmann, Leipzig/Halle – 17.04.2020 | Bereits zum siebenten Mal veranstaltete die Stiftung Händel-Haus in Halle (Saale) für fortgeschrittene Studierende der Musikwissenschaft und verwandter Disziplinen einen Studienkurs. Der Fokus lag dieses Mal, gemäß dem Motto der Händel-Festspiele 2019 „Empfindsam, heroisch, erhaben – Händels Frauen“, auf der Gestalt der Deborah und Händels gleichnamigem Oratorium. Im Renaissance-Raum des Händel-Hauses begrüßten Prof. Dr. Wolfgang Hirschmann, Professor für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Jun.-Prof. Dr. Matthew Gardner von der Eberhard Karls Universität in Tübingen und Clemens Birnbaum, Direktor der Stiftung Händel-Haus und Intendant der Händel-Festspiele Halle, gemeinsam mit der Leiterin der Abteilung „Bibliothek, Archiv, Forschung“ Dr. Konstanze Musketa die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nach einem ersten Überblick über das vielseitige Programm der nächsten Tage stellte Dr. Annette Landgraf die Hallische Händel-Ausgabe, ihre Geschichte sowie frühere Händel-Ausgaben vor. Diese reichten von Cluer und Randall über Arnold und Rovedino bis hin zu Chrysander und den ersten Bänden der heutigen HHA und konnten je in einem originalen Exemplar vor Ort besichtigt werden. So eingestimmt begab sich die Gruppe in die Räume der Redaktion der HHA und erhielt dort von Mitarbeitern derselben einen Einblick in die täglichen Routinen und den Umgang mit verschiedensten Quellenarten.
Am Nachmittag wurde den Studierenden dann ein Blick hinter die Kulissen gewährt. Im Restaurierungsatelier berichtete Roland Hentzschel von den vielschichtigen Nachforschungen und Überlegungen, die anzustellen sind, bevor man überhaupt beginnen kann, ein Objekt zu bearbeiten. Jens Wehmann und Theresa Stiller stellten die Arbeit in der Bibliothek des Händel-Hauses vor und berichteten gemeinsam mit Konstanze Musketa von der Akquise einiger besonderer Rara.
Mit Anne Schumann hatten die Organisatoren des Studienkurses eine international gefragte Interpretin auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis eingeladen. Früher Mitglied des Gewandhausorchesters, inzwischen hauptsächlich auf der Barockvioline zu hören, konnte sie anhand ihres eigenen Werdeganges nachvollziehbar die Unterschiede zwischen historisch informiertem und modernem Spiel beschreiben. Der Verzicht auf die Kinnstütze, der Einsatz anderen Saitenmaterials und vor allem Haltung und Bauweise der den historischen Vorbildern nachempfundenen Bögen seien demnach die größten Umstellungen, hätten aber auch den größten Einfluss auf Spielgefühl und Tongebung.
Den Abschluss des ersten Tages bildete eine Führung durch die Ausstellung historischer Musikinstrumente mit der Kustodin Christiane Barth. Nach einer spontanen Improvisation auf einem historischen Cembalo durch Matthew Gardner beeindruckten vor allem die über zwei Stockwerke reichende Orgel, ein Schaukästchen zur kuriosen Glasharmonika und eine zu pädagogischen Zwecken gestaltete Akustik-Station.
Das Herzstück des Kurses bildete am zweiten Tag das Seminar zur Editionspraxis mit Matthew Gardner, in dem die Studierenden an die Arbeit mit schwierigen Quellenlagen und die Erstellung einer Partitur nach den Vorgaben der HHA herangeführt wurden. Besonderes Augenmerk wurde hierbei auf das Erkennen unterschiedlicher Wasserzeichen und den Informationsgehalt gelegt, den die Art des Papiers und die Größe des verwendeten Rastrums bergen. Interessant war auch, dass sich anhand bestimmter graphologischer Charakteristika zahlreiche Abschriften genau mehreren Schreibern zuordnen lassen, welche jedoch nicht namentlich bekannt oder überliefert sind.
Bei einem Rundgang durch die Ausstellungen „Händel, der Europäer“ und „Ladies first“ erklärte Karl Altenburg nicht nur die verschiedenen Exponate, sondern gewährte auch Einblick in die Überlegungen, die ihn als Kurator der Sonderausstellung beschäftigt hatten.
Im Anschluss daran näherten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem Hallenser Theologen Dr. Erik Dremel der Figur und Stellung der Deborah als biblischer Gestalt. Zunächst erfolgte eine prinzipielle Verortung der Textvorlage, die auch der Händel’schen Vertonung zugrunde liegt. Sie findet sich im Kapitel 4,5 im Richterbuch des Alten Testaments. Nach einer gründlichen Lektüre derselben in hermeneutischer Vorgehensweise wurde schnell klar, welch gewichtige Rolle dieser Frauengestalt im Kontext der Bibel zukommt. Nicht nur ist Deborah die einzige Frau, die das Richteramt ausübt, sie ist gleichzeitig Prophetin und sagt den Sieg des Volkes Israel am Berg Tabor voraus, weshalb dieser in gewisser Weise überhaupt erst gelingen kann. Diese besondere Stellung wird auch dadurch untermauert, dass Deborahs Lied der einzige lyrische Text im Richterbuch ist. Bei einem folgenden Vergleich zwischen der alttestamentlichen Vorlage und Samuel Humphreys’ Libretto ließ sich feststellen, dass nicht nur die Übersetzung sehr frei gehalten ist, sondern dass vielmehr ganze Handlungsstränge hinzugefügt und die Rollen einiger Personen weiterentwickelt wurden. Dies betrifft vor allem Baraks Vater Abinoam, den kanaanitischen Herold und Jael, die zu einer Gefährtin Deborahs wird.
Einen Einblick in eine gänzlich andere Arbeitsumgebung, nämlich die eines Musikverlages, bot Dr. Ulrich Etscheit vom Bärenreiter-Verlag Kassel. Nicht zum ersten Mal zu Gast beim Studienkurs, berichtete er über die Zusammenarbeit mit der Redaktion der HHA und die Entstehung eines Bandes derselben, aber auch über die Handhabung umfangreichen Leihmaterials und Angebote wie elektronische Notenausgaben.
Ein besonderes Erlebnis stellte der öffentliche Vortrag von Matthew Gardner im Romanischen Gewölbe des Händel-Hauses dar. Anhand von Deborah erläuterte er, wie die Vorstellungen weiblicher Tugend im England des 17. Jahrhunderts die frühen englische Oratorien generell und die Händels im Besonderen geprägt haben. Eine wichtige Quelle hierfür stellt das Buch Female Excellency; or, The Ladies Glory dar, das Nathaniel Crouch 1688 unter dem Pseudonym Robert Burton veröffentlicht hatte. Das erste Kapitel ist Deborah gewidmet, mit Judith und Esther gefolgt von zwei weiteren biblischen Gestalten. Aber auch Heldinnen wie Mariamne, die Frau des Herodes, Lucretia, die sich nach einer Vergewaltigung das Leben nimmt, oder die britannische Heerführerin Boudicca werden in dem Werk für ihre Tugendhaftigkeit gerühmt. Durch Einwebung der Coronation Anthems in sein Oratorium gelingt es Händel, eine Verbindung zwischen Deborah und Queen Anne herzustellen und ihr somit zu huldigen. Eine Botschaft stellt, so Gardner, die Charakterisierung der Personen durch die Partitur des Oratoriums dar. So ist Baraks Kriegsarie mit Traversflöten keinesfalls martialisch instrumentiert, was darauf hindeuten könnte, dass nicht er, sondern Deborah die „eigentliche“ Anführerin sei.
Der dritte und letzte Tag des Studienkurses begann mit einer Vertiefung und ersten Anwendung der am Vortrag im Seminar zur Editionspraxis gewonnenen Kenntnisse, wozu Gardner Übungsaufgaben mitgebracht hatte und von seinen eigenen Erfahrungen als Herausgeber des Bandes „Wedding Anthems, HWV 262, 263“ aus dem Jahr 2013 berichtete.
Anschließend führte Konstanze Musketa den Teilnehmern in der Ausstellung „Musikstadt Halle“ im Wilhelm-Friedemann-Bach-Haus eindrucksvoll vor Augen, was Halle über Händel hinaus an musikalischem Erbe zu bieten hat. Die farblich jeweils anders gestalteten Räume sind der Zeit und dem Wirken der Komponisten Samuel Scheidt, Wilhelm Friedemann Bach, Johann Friedrich Reichardt, Carl Loewe und Robert Franz gewidmet. Des Weiteren werden in der Ausstellung „Hausmusik in Halle“ bürgerliche Musikinstrumente des 18. und 19. Jahrhunderts mit dazugehörigen Noten präsentiert, und in einer rekonstruierten Bohlenstube gibt es eine „musizierende Vitrine“ zu bestaunen.
Bei einer abschließenden Auswertung waren sich Veranstalter wie Teilnehmer einig, dass die drei Tage fast zu schnell zu Ende gegangen waren. Die reibungslose Organisation, das vielfältige Themenspektrum und die außergewöhnliche Atmosphäre des Händel-Hauses hatten sie zu einer äußerst bereichernden Erfahrung gemacht und der Aufforderung Frau Musketas, wiederzukommen – bald als Studierende oder in der Zukunft als Lehrende – kommt der eine oder die andere bestimmt gerne nach.