Musik im Blick. Auditive und visuelle Kulturen. Methoden der Annäherung
Paderborn, 26.09.2019
Von Stephanie Schroedter, Heidelberg – 17.04.2020 | Es erstaunt, dass von den Bildwissenschaften bzw. Visual Studies – soweit sie sich auch bildlicher Darstellungen von Musik annehmen – bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde, dass die Musikwissenschaft bereits auf zahlreiche Aktivitäten zur Erschließung musikrelevanter Bildquellen zurückblicken kann. Zu nennen sind hier u.a. die Begründung des Répertoire Internationale d’Iconographie Musicale (RIdIM) in den 1970er Jahren und die damit verbundene Durchführung jährlicher Konferenzen rund um diese Thematik, zudem der Aufbau einer umfangreichen Bild-Datenbank und die Herausgabe des Jahrbuchs Imago Musicae. Bemerkenswert ist aber auch, dass in der Musikhistoriographie Forschungen rund um den Stellenwert von Bildern – jenseits von Illustrationszwecken – (methodisch) kaum nachhaltige Spuren hinterlassen. Im musikwissenschaftlichen „Mainstream“ scheinen sich Vorbehalte gegenüber der Relevanz von Ikonographien zur Aufschlüsselung musikhistorischer Zusammenhänge hartnäckig zu halten: Bilder wurden und werden als Quellenmaterial weiterhin unterschätzt, Ansätze zu einer methodenkritischen Einbeziehung von Bildmaterial in musikhistorische Untersuchungen bleiben Ausnahmen. Und doch machen sich in jüngerer Zeit verstärkt Initiativen bemerkbar, die dieses Defizit zu beheben suchen – und es erstaunt kaum, dass es sich hierbei um kulturwissenschaftlich geschulte Ansätze handelt, die somit keine inter- oder gar transdisziplinären Berührungsängste haben.
Neben einem Workshop an der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit dem Titel „Klingende Bildkörper. Performanzen von Musik und Geschlecht in visuellen Kulturen“ unter der Leitung von Sabine Meine und Carola Bebermeier (25. und 26. April 2019), der sich einem dezidiert weitgesteckten Bild-Repertoire widmete, sowie einem weiteren Workshop unter der Leitung von Melanie Unseld und Akiko Yamada an der Universität für Musik und darstellende Künste Wien (19. und 20. September 2019), der von einem Spezialfall, nämlich Musikdarstellungen in japanischen Manga-Comics ausging, letztere auch genderkritisch unter die Lupe nahm und sie schließlich in einen breiten bild- und notationskritischen Kontext einbettete, stellt das im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2019 durchgeführte Symposium „Musik im Blick. Auditive und visuelle Kulturen. Methoden der Annäherung“ einen besonderen Höhepunkt dieser Bestrebungen dar, so dass es lohnt, diese Veranstaltung nochmals Revue passieren zu lassen.
Nach einer allgemeinen Einführung in die Thematik von Carola Bebermeier (Wien) eröffnete Antonio Baldassarre (Luzern), derzeit Präsident des RIdIM, den Reigen der Referate, indem er eine Orientierung „Im Dickicht der Positionen“ (so der Untertitel seines Vortrags) bot. Als ausgewiesener Kenner aktueller Tendenzen der musikikonographischen Forschung betonte er, dass man nicht umhin komme, sich in diesem Kontext mit den sehr konträren, geradezu diametral gegenüberliegenden Polen kunst- bzw. bildwissenschaftlicher Debatten auseinanderzusetzen: Einerseits werde versucht, das „Erbe Erwin Panofskys zu retten“, indem man „an der impliziten, aber grundsätzlich dechiffrierbaren Bedeutung visueller Objekte“ festhalte (Gottfried Boehm, William J.T. Mitchell). Andererseits werde im Sinne poststrukturalistischer Ansätze argumentiert, dass es „außerhalb der Möglichkeiten eines Bildes liege, etwas aussagen zu wollen“ (Sarah Kofman). Einen geradezu salomonischen Ausweg aus diesem Debakel bietet Baldassarre, indem er den „Blick“ als entscheidenden Agenten erachtet, bei dem immer zwei „Bilder“ ins Spiel kommen: der Bildträger („picture“) und das Abgebildete („image“). Eine „Ikonographie des Blicks“ müsse dementsprechend den Betrachter in seinem „In-der-Welt sein“ einbeziehen, woraus wiederum folgt, dass Bilder nicht sprechen, sondern wir es sind, die sie zum Sprechen bringen. Dabei habe die „Visual History“ wesentlich dazu beigetragen, ein Bewusstsein für den epistemologischen Wert von Ikonographien zu schaffen. Gleichzeitig habe sie auch die „alles andere als triviale Frage” aufgeworfen, ob bzw. inwiefern „Artefakte mit oder ohne ästhetischen Anspruch“ als Repräsentanten von Geschichte bzw. „Realität“ (im Sinne alltäglicher Erfahrungswirklichkeiten) interpretiert werden können.
An diese primär methodologischen Überlegungen knüpfte Thomas Etzemüller als Kulturhistoriker (Oldenburg) an, wobei er den Untersuchungsgegenstand nochmals weitete: Neben tatsächlichen Bildern wie Fotographien und Gemälden wohne auch Sprachbildern wie Metaphern oder Narrativen „eine hohe visuelle Kraft“ inne. Besonderes Augenmerk legte er auf das „Gemacht-sein“ der Bilder und ebenso ihre Eigenschaft, „Welt“ zuallererst „zu machen“: „Bilder rahmen unsere Welt“, konstatierte er, wobei wir es seien, die Narrative in den Bildern lesen, die dort nicht (unbedingt) angelegt seien. Somit exemplifizierte Etzemüller einen jener kultur- und sozialwissenschaftlich geprägten Ansätze der Visual Studies, die sein Vorredner als zunehmend einflussreich erachtete, um „jenseits disziplinärer Einschränkungen“ von musikikonographischer Forschung profitieren zu können.
Die beiden folgenden Vorträge widmeten sich einzelnen Fallbeispielen, die das Verhältnis von Musik und Visualität neu ausloten. Dabei nahm sich Sabine Gebhardt Fink (Luzern) der amerikanischen Philosophin und Performance-Künstlerin Adrian Piper an, die in den 1980er Jahren Funk-Musik in ihren Kunstunterricht einbezog, um „Geschlechter- und Identitätsstereotypen zu kritisieren“ und gleichzeitig „tradierte Formen der Wissensvermittlung zu dekonstruieren“. Insofern exemplifizierte Gebhardt Fink an der Konstellation von Bildender Kunst und populärer Musik den in Theorien des Performativen immer wieder hervorgehobenen Sachverhalt, dass Bedeutungszuschreibungen kulturell und historisch kodiert sind und durch Sprechakte bekräftigt werden bzw. durch künstlerische Akte verschoben werden können. An dem derzeit sehr intensiv diskutierten, aber noch lange nicht erschöpften, sondern geradezu unerschöpflich aufschlussreichen Thema graphischer Notation diskutierte Gesa Finke (Hannover) das Verhältnis von Musik und einem Bild-Konzept, das direkt auf Klangliches abzielt und insofern zwar Musik impliziert, sich aber dennoch unmittelbarer Verständlichkeit entzieht. Neben den in jüngerer Zeit vielrezipierten schrift-/bildwissenschaftlichen Zugängen aus dem Umfeld von Gottfried Boehm und Sybille Krämer verortet sie ihren Ansatz stärker kulturwissenschaftlich und bezieht sich dabei einerseits auf Sigrid Weigels Konzept der „Bildgebung“ bzw. „Grammatologie der Bilder“, andererseits auf den Entwurf einer „Visuellen Kultur“ von Sigrid Schade und Silke Wenk.
Einen überaus instruktiven, da systematisch weitreichend angelegten Überblick über „intermediale Grenzgänge“ zwischen Bild, Musik und Klang präsentierte Melanie Unseld (Wien), wobei auch sie sich insbesondere an Schade und Wenk orientierte, den Protagonistinnen dieses sich vor allem zwischen Köln und Wien aufspannenden Forschungsschwerpunkts. Zentral waren dabei die Fragen danach, was ein Bild bzw. eine visuelle Quelle zu einer musikhistorischen Quelle macht und inwiefern Bilder musikkulturelles Handeln widerspiegeln bzw. Hörbares visualisieren können. Kathrin Eggers (Hannover) ging in ihrem Vortrag der Frage nach, inwiefern unser Verständnis von Musik durch visuelle Faktoren beeinflusst wird bzw. (ursprünglich) auf der Basis visueller Kriterien organisiert war. Als Beispiele für visuell konzipierte musiktheoretische/-analytische Modelle wurden der Quintenzirkel oder auch die „Architektur“ einer Symphonie genannt. Ziel der diesem Vortrag zugrundeliegenden Studie ist es, jenseits von „Synästhesie-Traditionen, assoziativem Bilderhören oder der müßigen Frage, ob man in programmatischen Stücken ein bestimmtes Bildobjekt identifizieren kann“, eine spezifisch musikalische Bildlichkeit analytisch furchtbar und damit auch diskursfähig zu machen. Anschließend widmete sich Sabine Meine (Köln) dem „Sehen und Hören als Analysekategorien der Renaissanceforschung“. Sie nahm eine These Erwin Panofskys aus den „Reflections on Love and Beauty“ der Wrightmans Lectures von 1969 auf, derzufolge Tizians Gemälde aus der Reihe „Venus mit dem Musiker“ eine zunehmende Aufwertung des Hörens gegenüber dem Sehen erkennen lassen. Meine ging der Wechselbeziehung der beiden im Renaissancedenken vorherrschenden und gegenderten Sinne an ausgewählten Beispielen des 16. Jahrhunderts nach. Giovanni Carianis Lautenspieler und Philippe Verdelots Madrigal Quando Amor i bell’Occhi inchina nach Petrarca (Canzoniere 167) belegen in diesem Sinn das diskursive Zusammenspiel von Renaissancemusik und -malerei, das weiteres Analysepotenzial bereit hält.
In dem abschließenden Resümee wurden nochmals zentrale Problemfelder und Thesen der Vorträge zusammengefasst, die erwartungsgemäß im Rahmen dieses eintägigen Symposiums kaum abschließend diskutiert werden konnten. Der zweifellos große Gewinn bestand vor allem darin, an eine methodenkritische Einbeziehung von Bildquellen in die musikwissenschaftliche, insbesondere musikhistorische Forschung zu appellieren. Empfohlen wurde dabei, Theoriebildung und Konkretisierung durch beispielhafte Analysen ineinander greifen zu lassen, um immer wieder abwägen zu können, wo sich Generelles und wo sich Spezielles zeigt.