Musikalische Migrationsbewegungen. Musik und Musiker aus der Fremde 1650–1750
Halle (Saale), 28.-29.05.2018
Von Jörg Holzmann, Leipzig – 19.03.2019 | Das Motto der Händel-Festspiele 2018 „Fremde Welten“ wurde in der Wissenschaftlichen Konferenz in zwei Richtungen entfaltet: In 14 Referaten widmeten sich Forscherinnen und Forscher aus den USA, Großbritannien, Kroatien, Griechenland und Deutschland zum einen der Frage, wie sich Musiker als innereuropäische Migranten in der Fremde orientierten, zum anderen der Manifestation außereuropäischer Fremderfahrungen in der heimatlichen Kunstproduktion. John Mainwarings Heldenerzählung von einem Musiker, dem an allen seinen Wirkungsstätten sofort und umstandslos die Menschen zu Füßen lagen, verdeckt bis heute die Tatsache, dass Händel sich über seine gesamte Karriere hinweg als Fremder mit Phänomenen der sprachlichen, religiösen, politischen, kulturellen und ästhetischen Alterität auseinandersetzen, sich in fremden Umfeldern bewähren und um eine Vermittlung zwischen dem Eigenen, das er mitbrachte, und dem Fremden, mit dem er konfrontiert wurde, bemühen musste. Diese Herausforderung teilte er mit vielen seiner europäischen Zeitgenossen. Dass die Wahrnehmung des Fremden und seine assimilierende Verwandlung ins Eigene nicht nur eine innereuropäische Problematik darstellten, sondern auch das Verhältnis Europas zu den außereuropäischen, „exotischen“ Kulturen betrafen, lässt sich auch am Werk Händels ablesen.
So etwa in der Oper Giulio Cesare, die in Text und Musik vor ihrer Uraufführung mehreren Revisionen unterworfen war. Hans Dieter Clausen (Hamburg) zeigte anhand einer Analyse des Beginns des zweiten Aktes, einer von Kleopatra herbeigeführten Begegnung, die asynchronen Bearbeitungen von Libretto und Partitur auf und ging darauf ein, wie politisches Kalkül, exotischer Reiz, Eros und imperiale Rücksichten ihr relatives Gewicht veränderten. Reinhard Strohm (Oxford) zufolge ist die heute verbreitete Ansicht, die Wahrnehmung fremder Kulturen sei im 18. Jahrhundert eine komplett verworrene gewesen, irrig. Man wusste sehr wohl zwischen „Türken und Indianern“ zu unterscheiden, und dass man auch Inder und Indianer nicht verwechselte, zeigt Rameaus Les Indes galantes. Dieses Wissen hatte allerdings wenig Einfluss auf die musikalische Faktur, und auch bei Händel ist keine exotische Idiomatik oder diegetische Verwendung der Musik festzustellen. Wie andere Komponisten mit „dem Fremden“ umgingen, zeigte Livio Marcaletti (Wien) im venezianischen Libretto um 1700 auf. Als zentrale Figuren, die es den Librettisten erlaubten, auf Bekanntes zurückzugreifen und dem Bekannten Exotisches gegenüberzustellen, erweisen sich Alexander der Große und der mythologische Bacchus, die gerne in ein indisches Setting gerückt wurden.
Matthew Gardner (Tübingen) ging der Frage auf den Grund, inwieweit Händel seine Herangehensweise an Opernsujets modifizierte, um den Geschmack seines Londoner Publikums zu treffen, und inwiefern Händel diesen seinerseits auch beeinflusste und die italienische Oper in London etablierte. Dass sich Händels Bemühungen um die Oper in London oft als eher schwierig erwiesen, ist hinlänglich bekannt; dass er dabei auch vor öffentlichen Anfeindungen nicht gefeit war, verwundert ebenfalls nicht. Anhand von Angriffen und Verteidigungen, die in den Jahren 1744/45 im Daily Advertiser veröffentlicht wurden, zeichnete Donald Burrows (Milton Keynes) ein Bild der Kontroversen um das Kingʼs Theatre und die Middlesex Company. Hauptargumente der Kritiker waren dabei die von Händel vorgenommenen Anstellungen ausländischer Sänger und die Behauptung, dass Opernaufführungen in Zeiten einer nationalen Krise alles andere als angebracht seien.
Weitere Referate waren kompositorischen Aspekten gewidmet. Berthold Over (Mainz) stellte das im Januar dieses Jahres begonnene Projekt PASTICCIO. Ways of Arranging Attractive Operas der Universitäten Mainz und Warschau vor, welches die Zielsetzung verfolgt, das Pasticcio als eine Gattung zu verstehen, die maßgeblich durch die Mobilität der beteiligten Akteure geprägt ist. Zugleich wies Over auf die an der Genese von Pasticci erkennbaren Mechanismen hin, die wesentlich zur Herausbildung des modernen Werkbegriffs beitrugen. Demonstriert wurde dies am Beispiel von Händels Pasticcio Catone, welches er (möglicherweise um die Sängerin Celeste Gismondi in London einzuführen) auf der Grundlage von Leonardo Leos Oper Catone in Utica verfasst hatte. Nicht unterschätzt werden dürfe, so Over, auch die Funktion des Pasticcios als Testgelegenheit für den Einsatz musikalisch-stilistisch-performativer Erfahrungen, die Sänger oder Komponisten in anderen kulturellen Zusammenhängen gesammelt hatten und übertragen wollten. Graydon Beeks (Claremont) widmete sich in seinem Vortrag dem Vergleich zweier musikalischer Kulturen und der jeweiligen musikpraktischen Umsetzung des Händelschen Messiah. Mozarts 1813 bei Breitkopf & Härtel veröffentlichte Fassung wurde der Adaption von Sir George Smart, die 1834 beim Royal Musical Festival in der Westminster Abbey zur Aufführung kam, gegenübergestellt, wobei diese in zwei Versionen vorliegt. Einer präzisen numerischen Aufstellung von Sängern, Musikern und der Anzahl an Aufführungen folgte ein Überblick über Titelfolge und Instrumentierung, wobei auffällig war, dass Mozart fast den gesamten Orgelpart den Holzbläsern übertragen hatte und beide Bearbeitungen Transpositionen ganzer Nummern und Kürzungen aufwiesen. Als besonders beispielhaft für die Diskrepanz zwischen Mozart und Smart führte Beeks „The Trumpet Shall Sound“ an. Ersterer hatte die Trompete durch das Horn ersetzt, während Smart aufgrund der bis ins 19. Jahrhundert fortdauernden Trompetentradition Englands zur originalen Besetzung zurückgekehrt war. Als „Outsider“ in der Welt der Opera seria in London zu Lebzeiten bezeichnete Ivan Ćurković (Zagreb) Händel in seinem Vortrag und verglich Duette und Ensembles anstatt der schon häufiger untersuchten Arien mit denen italienischer Zeitgenossen, um ihre komplexere Faktur und Struktur herauszuarbeiten. Sehr interessant ist hierbei, dass der damals als ungewöhnlich erachtete Händel in der heutigen Rezeption fast den Stellenwert eines Synonyms für die Opera seria jener Zeit darstellt.
Ein Block der Tagung war literarischen Aspekten der Thematik des Fremden gewidmet. Juliane Riepe (Halle) skizzierte am Beispiel Händels, wie stark Ideologeme in den letzten drei Jahrhunderten das Denken und Schreiben über Musiker und Migration bestimmten. Besonders kritisch sah sie dabei die Stilisierung Händels zum Europäer; zum einen, da Musiker per se sehr mobil waren, zum anderen, weil Händel von verschiedenen Nationen über die Zeiten hinweg keinesfalls unitarisch, wie es ja einer europäischen Idee gemäß wäre, bewertet wurde. Ebenfalls literarischen Themen und Traditionen im Schaffen Händels ging Vassilis Vavoulis (Athen) auf den Grund. Dazu gehörten das arkadische Idiom und die zeitgenössische Literaturbewegung in Rom sowie die Libretto-Traditionen in Florenz, Neapel und Venedig. Dieses in Italien erworbene sprachliche Verständnis nutzte Händel, der ja zeitlebens fast ausschließlich Texte vertonte, die nicht in seiner Muttersprache verfasst worden waren, für seine weitere Opernkarriere in London.
Einen weiteren Punkt der Tagung bildeten exemplarische Lebensläufe einzelner Musiker-Migranten. John H. Roberts (Berkeley) ging der Frage nach, welchen Einfluss die venezianische Oper auf Johann Rosenmüllers Kirchenmusik ausübte. Als gesichert kann gelten, dass er als Posaunist bei San Marco und als Komponist und Chorleiter am Ospedale della Pietá beschäftigt war. Gehaltsaufstellungen und Briefe lassen weiterhin darauf schließen, dass Rosenmüller auch als Instrumentallehrer in Erscheinung getreten ist, und Aussagen Matthesons legen nahe, dass Johann Philipp Krieger privatim bei ihm studiert hat. Dass er bei einem derart breiten musikalischen Spektrum nicht mit der Oper in Kontakt gekommen sein soll, scheint, so Roberts, wenig schlüssig. Im Mittelpunkt der Ausführungen von David Vickers (Manchester) stand die Sopranistin Giulia Frasi, deren Auftrittskalender im Opern- und Konzertwesen Londons der Jahre 1742 bis 1774 und die Entwicklung des Musikgeschmacks im London des 18. Jahrhunderts, der anhand von Manuskripten und Notendrucken, die ausdrücklich für Giulia Frasi verfasst worden waren, nachvollzogen wurde.
Musikerreisen abseits europäischer Wege bildeten den Schwerpunkt des Vortrags von Margret Scharrer (Saarbrücken). Anhand der Aufzeichnungen von Adam Olearius präsentierte sie Einblicke in die musikalischen Aspekte der Expedition, die Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf 1635 über Russland an den persischen Hof in Isfahan unternahm und machte dabei deutlich, dass trotz des recht offenen Austausches die Musik des jeweils anderen Kulturkreises nicht besonders geschätzt wurde.
Abschließend beschäftigte sich Alison C. DeSimone (Kansas City) mit dem Einfluss, den der Spanische Erbfolgekrieg auf das Repertoire englischer Bühnen im frühen 18. Jahrhundert hatte. Im ersten Teil ihres Vortrages ging sie dabei auf dessen Präsenz in Vorworten diverser Pasticci-Drucke ein, in denen sich eindeutige Erwähnungen britischer Heerführer oder entscheidender Schlachten finden. Den zweiten Teil widmete sie der Rezeption des Krieges in Texten englischer Volkslieder, der sich verändernden Selbstwahrnehmung und dem daraus auch in deutlicher Abgrenzung zu den Konfliktparteien erwachsenden Nationalstolz der Briten.
Umrahmt wurde die Konferenz von einem Rundgang durch die Räumlichkeiten der Hallischen Händel-Ausgabe und einer Führung durch die Sonderausstellung So fremd, so nah im Händelhaus sowie den zahlreichen Konzerten der diesjährigen Händelfestspiele an verschiedenen Spielstätten im ganzen Stadtgebiet.