Die bulgarische Musikwissenschaft – Retrospektiven und Perspektiven (70 Jahre Musikwissenschaft in der BAN)
Sofia, 09.-11.02.2018
Von Patrick Becker, Berlin – 17.08.2018 | Anlässlich der Feier ihres 70-jährigen Bestehens richteten die MusikwissenschaftlerInnen der Sektion „Musik“ des Instituts für Kunstwissenschaften (Institut za izsledvane na izkustvata) an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften (BAN) in Sofia eine wissenschaftliche Konferenz aus, an der mehr als 40 Vortragende aus Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, Serbien, Ungarn und den Vereinigten Staaten teilnahmen. Die Institutionalisierung der bulgarischen Musikwissenschaft geht auf die Initiative des Komponisten und Akademiemitglieds Petko Stajnov zurück, der 1948 ein Institut für Musik an der BAN gründete und bis zu seinem Tod im Jahr 1977 leitete. 1988 wurde das Institut auf Beschluss des bulgarischen Ministerrats mit dem Institut für Kunstwissenschaft fusioniert und ging in der Sektion „Musik“ auf, die gemeinsam mit den Sektionen „Bildende Künste“, „Theater“, „Film und Fernsehen“ sowie „Architektur“ das heutige Institut bildet. Das Musikarchiv dieser Institution umfasst gut 10.000 Transkriptionen bulgarischer Volkslieder auf 250.000 Bögen, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückdatieren, 5.000 Magnettonbänder, 800 Wachsrollen und über 1.000 Vinylaufnahmen der landeseigenen Volksmusik sowie 800 Schwarzweiß- und Farbfilme von verschiedenen Forschungsreisen in Bulgarien.
Die Konferenz wurde im großen Salon des Hauptgebäudes der Akademie der Wissenschaften – an prominenter Stelle gegenüber der Nationalversammlung und unmittelbar neben der Nevsky-Kathedrale im Zentrum Sofias gelegen – nach Grußworten des Präsidenten der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, Julian Revalski, des Direktors des Instituts für Kunstwissenschaften, Emanuel Mutanov, des Rektors der Nationalmusikakademie „Pančo Vladigerov“ (von Nataša Japova verlesen) und des Vizepräsidenten der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia, dem Komponisten Georgi Arnaudov – mit einer Zeremonie eröffnet, in welcher der bulgarische Komponist Vasil Kazandžiev (*1934) mit dem 2016 gestifteten und jährlich vergebenen Preis „Săživenoto nasledstvo“ (Lebendes Erbe) des Instituts für Kunstwissenschaft ausgezeichnet wurde.
Das erklärte Ziel der Veranstalter war es, einerseits reflektierend auf die eigene Fachgeschichte und die bisherigen Aktivitäten des Instituts im Speziellen und der bulgarischen Musikwissenschaft im Allgemeinen zurückzuschauen, andererseits sowohl aktuelle Forschungsgegenstände und -ansätze als auch zukünftige Projekte vorzustellen.
Die erste Sitzung der Konferenz war der Geschichte des Hauses gewidmet. Nach einem einleitenden Vortrag der Ethnomusikologin Gorica Naydenova, die verschiedene Publikationen und Forschungsvorhaben des Instituts vorstellte, verortete Kristina Japova die Tätigkeit der Sektion „Musik“ im Rahmen größerer gesellschaftlicher Umbrüche in Bulgarien. Vencislav Dimov und Ljuben Botušarov gaben einen Überblick über die Geschichte der Ethnomusikologie am Haus, die sie im Rahmen ihrer langjährigen Forschungstätigkeiten selbst entscheidend mitgeprägt haben. Milena Božikova präsentierte die Entwicklung, Ideen und Beiträge der 2012 verstorbenen Musikwissenschaftlerin Svetlana Zaharieva, die mit unzähligen Studien zur bulgarischen Volksmusik und methodischen Reflexionen diesem Fachgebiet entscheidende Impulse gab. Sznežina Vrangova widmete sich der Geschichte der bulgarischen Musiktheorie von ihren Ursprüngen in der deutschen und russischen Tradition bis zu aktuellen Tendenzen. Den Abschluss der ersten Sitzung machte Elisaveta Vălčinova-Čendova, die aus der Historie des wissenschaftlichen Journals Bălgarsko muzikoznanie berichtete, das seit 1977 vom Institut herausgegeben wird.
Die restlichen drei Sitzungen des ersten Tages behandelten die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts und Forschungsperspektiven. Ivanka Stoïanova, Professorin am Département Musique de l’Université de Paris 8 und ehemalige Schülerin von Carl Dahlhaus, berichtete über die Rezeption fernöstlicher Philosophie in der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Angelina Petrova stellte postmoderne und folkloristische Tendenzen in der Avantgarde nach den 1960er Jahren im spezifischen Kontext der bulgarischen und osteuropäischen Situation vor, ein Thema, das in der Musikwissenschaft in den letzten Jahren größere Beachtung findet. Julian Kujumdžiev und Polina Antonova präsentierten Ergebnisse aus ihrer Forschung in den Nachlässen der Komponisten Dobri Hristov, Lazar Nikolov und Dimităr Nenov. Während Ende des vergangenen Jahres ein von Kujumdžiev herausgegebener Band mit ausgewählten Dokumenten aus dem Nachlass Nikolovs im Koala-Verlag in Plovdiv erschienen ist, das für die noch andauernde Erschließung dieses Quellenkorpus im Sofioter Staatsarchiv entschädigt, befinden sich die Nachlässe Dimităr Nenovs und Dobri Hristovs leicht zugänglich im Archiv des Instituts für Kunstwissenschaft. Den letzten Vortrag des ersten Konferenztages hielt Rosica Todorva über die Rezeption der Monodie der bulgarischen Volksmuik in polyphonen Werken bulgarischer Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Vor Beginn des zweiten Konferenztages fand in der Sendung Frühcafé der Sofioter Radiostation Classic FM ein knapp einstündiges Interview mit der Moderatorin Radostina Uzunova, den Musikwissenschaftlerinnen Rosica Draganova, Ivanka Stoïanova und dem Verfasser dieses Berichts statt, in dem die Teilnehmenden über ihre Arbeit und die Konferenz sprachen. Die Veranstaltung wurde anschließend in den Räumlichkeiten des Instituts für Kunstwissenschaft fortgesetzt und mit zwei Sitzungen zur Volksmusik eröffnet. Rumjana Margaritova, Marija Kumičin und Diana Danova-Damnjanova gaben Einblicke in die ethnomusikologische Forschungstätigkeits des Instituts, den Bestand des hauseigenen Musikarchivs und die Geschichte verschiedener Forschungsreisen in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die restlichen Vorträge zeigten aufschlussreich, dass eine der großen Stärken der bulgarischen Musikwissenschaft in der Ethnomusikologie sowie der Erforschung der bulgarisch-orthodoxen Kirchenmusik liegen: Die US-amerikanische Forscherin Donna A. Buchanan stellte ihre Forschung zu narrativen Interpretationsauffassungen der bulgarischen Hirtenflöte Kaval vor und Irene Markoff reflektierte auf Rituale des alevitischen Bektaşi-Ordens. Die auch für die bulgarische Volksmusik wichtige Grenze zwischen städtischer und dörflicher Folklore schlug sich in der zweiten Sitzung nieder, in der die Vortragenden Natalija Raškova, Gergana Panova-Tekat, Galina Lukanova, Denica Popova und Lozanka Pejčeva über Ethnochoreografie, Volksmusik im urbanen Raum und Auffassungen musikalischer Authentizität sprachen. Diese Berichte wurden von der serbischen Wissenschaftlerin Marija Dumnić in der Geschichte städtischer Volksmusik in den südslawischen Ländern kontextualisiert.
In der letzten Sitzung des zweiten Tages stellten die TeilnehmerInnen Forschungsprojekte zur populären Musik vor. Rozmari Statelova, die um 1980 im Verbund mit Peter Wicke wichtige Impulse für die Gründung des heutigen Lehrstuhls Theorie und Geschichte der populären Musik an der Humboldt-Universität zu Berlin gab, untersuchte die Geschichte der Estradenmusik, einem in ganz Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion weit verbreiteten Genre. Andrej Leškov sprach über den bekannten bulgarischen Intellektuellen Čavdar Mutafov, Juliana Papazova verglich die alternativen Rockszenen in Mazedonien und Bulgarien und Milena Šušulova berichtete über ihre Erfahrungen mit Crowdsourcing-Initiativen im Kulturmanagement.
Am Ende des zweiten Tags der Konferenz wurde den Gästen ein Empfang in den Räumlichkeiten des Instituts für Kunstwissenschaften bereitet, der die Möglichkeit für anregende Gespräche und Diskussionen gab. Die Veranstaltung endete mit drei Sitzungen. Im Panel „Perspektiven auf die Geschichte der westeuropäischen Musik“ besprach Stefan Dalčev die Rezeption der Barockmusik in der bulgarischen Musikwissenschaft, der Komponist Sabin Levi, Professor an der Nationalmusikakademie „Pančo Vladigerov“, stellte seine Überlegungen zur Gattung der strengen Fuge vor und verdeutlichte diese in einer eigenen sechsstimmigen Fuge auf vier Themen, und Javor Genov besprach Bruce Haynes Publikation The End of Early Music.
Die Vortragenden der letzten Konferenzsitzung behandelten Fragen zum Musiktheater, Ballett, Musical und zur Operette. Emilija Žunič stellte die Arbeit der Forschungsgruppe „Musiktheater“ am Institut für Kunstwissenschaft vor, Anelija Janeva besprach Praktiken der Inszenierung und Aufführung von Balletten in der 90-jährigen Geschichte dieser Gattung in Bulgarien, Rumjana Karakostova zeigte Tendenzen in der Entwicklung der bulgarischen Operette auf und Miglena Cenova-Nuševa Forschungsperspektiven auf die Musicalrezeption zwischen 1963 und 2013.
Im Anschluss an die Konferenz wurde noch die jährlich stattfindende Revue der Publikationen des Instituts und seiner Mitglieder abgehalten, in dem verschiedene Mitglieder des Hauses zuvor verfasste Rezensionen zu den im letzten Jahr neu erschienen Bücher verlasen.
Ein Livestream ermöglichte es auch denjenigen Interessierten, die nicht anwesend sein konnten, die Vorträge mitzuverfolgen. Die Übertragung ist aufgezeichnet worden und auf dem YouTube-Kanal des Instituts abrufbar (https://www.youtube.com/channel/UCoqb9qO8zhW-07fNfsUauHQ).