Ča­j­kovs­kij-Ana­ly­sen – neue Stra­te­gi­en, Me­tho­den und Per­spek­ti­ven

Tübingen, 07.-09.06.2018

Von Esther Kreitschik, Hamburg – 10.04.2019 | Im Mittelpunkt der anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Tschaikowsky-Gesellschaft e.V. veranstalteten internationale Tagung stand die musikalische Analyse der Werke des russischen Komponisten. An drei Tagen präsentierten die Teilnehmer neue Perspektiven, Erkenntnisse und Ansätze in der Auseinandersetzung mit Čajkovskijs musikalischem Schaffen. Inhaltlich widmete sich das Symposium dabei vier verschiedenen Schwerpunkten: Čajkovskijs Symphonik, seinen Opern, seiner Ballett- und Programmmusik sowie seinem Schaffen unter biographischen Aspekten.

Den Auftakt zur Tagung bildete die Sektion zur Symphonik. Stefan Keym (Toulouse) widmete sich in seinem Eröffnungsvortrag den Tempodramaturgien in Čajkovskijs symphonischem Schaffen. Daniil Petrov (Moskau) nahm anschließend den Aufbau des symphonischen Zyklus in den Blick. Eine detaillierte, im Anschluss intensiv diskutierte Analyse des motivisch-thematischen Materials in Čajkovskijs 4. Symphonie lieferte Svein Hundsnes (Stavanger). Christoph Flamm (Lübeck) sowie Heinz von Loesch (Berlin) beleuchteten in ihren Beiträgen jeweils verschiedene Aspekte der 5. Symphonie. Diskutiert wurden im Anschluss an die Vorträge auch immer wieder Fragen der Definition und Abgrenzung von Themen und des motivisch-thematischen Materials. Zentral waren auch der Aspekt der Substanzgemeinschaft und die Frage, inwieweit sich damit die kompositorische Arbeit in Čajkovskijs symphonischem Schaffen erfassen und beschreiben lässt. Gerade die kompositorische Entwicklung im Bereich der Symphonik (und auch darüber hinaus) bietet noch viel Raum für musikwissenschaftliche Forschung und analytische Untersuchungen der Werke des Komponisten.

 

Der zweite Tag widmete sich ganz dem Opernschaffen. Den Vormittag eröffnete Philip Bullock (Oxford) mit einer strukturellen Analyse der Namenstag-Szene in Evgenij Onegin, in der er die zugrundeliegende symphonische Anlage der Szene aufdeckte. Anschließend widmete Anselm Gerhard (Bern) seinen Vortrag der Versmetrik in den Libretti und ihre kompositorische Umsetzung der Opern Onegin, mit einem besonderen Fokus auf Tatjanas Brief-Szene, und Iolanta. Lucinde Braun (Regensburg) beleuchtete die Verwendung der „solita Forma“ als kompositorisches Modell bei Čajkovskij anhand seiner Oper Pikovaja Dama, bevor Marina Raku (Moskau) und Friedrich Geiger (Hamburg) sich der Rezeption von Giacomo Meyerbeer beziehungsweise Richard Wagner im Opernschaffen des russischen Komponisten widmeten. So finden sich verschiedene musikalische Zitate und Anlehnungen an den französischen Komponisten bei Čajkovskij, während sich seine Oper Iolanta als ein gezieltes Korrektiv von Wagners Tristan verstehen lässt.

Den Nachmittag begann Ada Ajnbinder (Klin) mit einem Vortrag über den Schaffensprozess und quellenkritische Aspekte in Čajkovskijs Opernschaffen im Kontext der Akademischen Gesamtausgabe. Boris Belge (Basel) untersuchte die Bearbeitung der Pikovaja Dama durch Alfred Schnittke und den Skandal, der daraus in der sowjetischen Presse erwuchs. Aleksandr Komarov (Moskau) präsentierte das Digitalisierungsprojekt „Čajkovskij: Otkrytyj mir“, das die Manuskripte und Handschriften des Komponisten online zugänglich macht.

Ein weiteres, großes und wichtiges Projekt ist die Akademische Gesamtausgabe der Werke Čajkovskijs. Zum Abschluss des Tages stellte Ada Ajnbinder als Leiterin dieses gemeinsame Vorhaben des Tchaikovsky Haus-Museums in Klin, des Staatlichen Instituts für Kunstwissenschaften Moskau und der Tschaikowsky-Gesellschaft e.V. vor. Ziele dieser Gesamtausgabe sind die Veröffentlichung des gesamten, zum heutigen Tage bekannten Werks von Čajkovskij sowie die Wiederherstellung der Originaltexte ohne Kürzungen oder redaktionelle Einmischungen. Von den mehr als 120 geplanten Bänden konnten seit 2015 bereits zwölf herausgegeben werden.

Den dritten und letzten Tag des Symposiums eröffnete Adalbert Grote (Neuss) mit seinen vergleichenden Betrachtungen von Čajkovskijs Francesca da Rimini und Rachmaninovs gleichnamiger Oper. Rutger Helmers (Amsterdam) stellte anschließend die ukrainischen Volksliedthemen in den Werken des russischen Komponisten in den Vordergrund. Einen wesentlichen Beitrag zu den im deutschsprachigen Raum bisher nur wenig beachteten Ballettmusiken Čajkovskijs leistete Jörg Rothkamm (Tübingen) mit seiner analytischen Betrachtung der Pas-Musiken. Wilhelm Büttemeyer (Oldenburg) widmete sich mit Blick auf Parameter wie Orchesterbesetzung, Klangfarbe, die Kombination einzelner Instrumente und Mischklängen den instrumentationstechnischen Aspekten der Ballette.

Ulrich Linke (Köln) präsentierte seine Überlegungen zur vor allem an der Sprache festzumachenden versteckten Thematik der Homosexualität im Romanzenzyklus op. 73.

Simon Morrison (Princeton) warf einen Blick auf Čajkovskijs finanzielle Verhältnisse und den Einfluss, den diese auf sein kompositorisches Schaffen hatten. Den abschließenden Beitrag der Tagung bildete Dorothea Redepennings (Heidelberg) Vortrag über verschlüsseltes Totengedenken in Čajkovskijs Instrumentalwerken.

Die abschließende Diskussionsrunde bot die Möglichkeit, die Tagung noch einmal Revue passieren zu lassen und ein Fazit zu ziehen. Gerade die analytischen Ansätze der jeweiligen Vorträge, die jedoch nie kompositorische Parameter einzeln behandelten, erlaubten einen Blick auf die zahlreichen Beziehungen zwischen den einzelnen Gattungen, die Čajkovskijs Œuvre aufweist. Es ist vor allem das Verhältnis von Instrumental- und Bühnenmusik und die enge Verzahnung dieser beiden Bereiche in seinem kompositorischen Schaffen, die dessen Bedeutung ausmacht und die noch längst nicht ausschöpfend untersucht worden ist. Dies gilt ebenso für Čajkovskijs kompositorische Entwicklung, die gerade auf analytischer Ebene ebenfalls die Aufmerksamkeit zukünftiger Forschung verdient.