Rossini 2017
Pesaro, 09.-11.06.2017
Von Richard Erkens, Rom – 31.07.2017 | Kein schneller Auftakt, sondern vielmehr ein großes „Vorspiel auf der Wissenschaftsbühne“ war der dreitägige internationale Kongress „Rossini 2017“ in Pesaro, der das kommende Gedenkjahr 2018 zum 150jährigen Todestag Gioachino Rossinis einläutete. Siebzehn Vorträge ausgewiesener Rossini-Spezialisten bzw. Opernforscher dieser Epoche und die durchgängig anregenden Diskussionsbeiträge der Anwesenden machten nicht nur die aktuelle Vielfalt der perspektivischen Annäherung an den kompositorischen Großmeister aus Pesaro deutlich, sondern zugleich auch die beeindruckende Erschließungstiefe wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit ihm, die über die letzten Jahrzehnte geleistet wurde, federführend mit und durch die Arbeit der Fondazione G. Rossini. Das Themenspektrum reichte von Beiträgen zur Editionsarbeit, spezifischen Aspekten der Werkanalyse und Fragen historischer Aufführungspraxis über politische Lesarten von Werk und Wirkung unter transnationaler Perspektive bis hin zu Beispielen der Rezeption Rossinis vorzugsweise aus dem 19. Jahrhundert. Fragen zur Musikdramaturgie Rossinis (etwa Gattungsästhetik, formale Anlagen oder Satzmodelle) sowie zum operngeschichtlichen Kontext, aus dem Rossini erwuchs und in den hinein der 21jährige spätestens mit Tancredi (Venedig 1813) europaweit zurückwirkte, wurden indes nicht explizit aufgeworfen. Ganz abwesend waren die Zeitgenossen dennoch nicht dank eines Konzertes im großartigen Auditorium Pedrotti im Conservatorio Rossini, in dem die Mezzosopranistin Anna Bonitatibus, begleitet vom Orchestra Sinfonica G. Rossini unter der Leitung von Benjamin Bayl, zwei „Gran scene“ von Giovanni Simone Mayr (aus Ginevra di Scozia) und Rossini (aus Ciro in Babilonia) sang, angereichert u.a. durch eine Sinfonia von Pietro Generali. Tancredis Auftritts-Cavatina gab es als Zugabe dieses denkwürdigen Konzertes.
Anhand seiner kritischen Edition der Petite messe solennelle (Ricordi, Rossini Critical Edition III, 4-5) von 2014 diskutierte Davide Dalomi den durch Kammer- und Orchesterfassung eines Werkes komplexen Fall langjähriger Phasen der Selbstkorrektur und -modifikation Rossinis, in welche die editorische Arbeit Einblick gewährt. Dass aus diesem Wissen vielfältige Konsequenzen für gegenwärtige Aufführungen gezogen werden können, liegt auf der Hand. Dennoch erreichten – wie in der Diskussion angemerkt – kritisch kommentierte Ausgaben wie diese bedauerlicherweise nicht flächendeckend die Konzertpraxis. Einen anderen Erkenntnisgewinn editorischer Betätigung stellte Daniele Carnini vor, Herausgeber von Rossinis Opernerstling Demetrio e Polibio: Philologische Arbeit am Notentext in Kombination mit einer stilkritischen Perspektive führt den Beweis, dass auch die nicht als Autograph überlieferten Passagen des Quartetts des zweiten Akts von Rossini stammen. Bekanntlich war eine Konsequenz der historischen Werkausgabe Rossinis bei Ricordi die langanhaltende Diskussion um die Bewertung seiner zahlreichen musikalischen Selbstanleihen, deren ganze Tragweite dann die kritischen Werkausgaben unserer Zeit aufgedeckt haben. In seinem inspirierenden Vortrag – mit einem Exkurs auf die Praxis der Selbstanleihen von (nota bene) Librettisten und Musikrezensenten – zeichnete Marco Beghelli die Bandbreite der Verwendung musikalischer „Übernahmen“ auf, die vom unveränderten Selbstzitat bis hin zur eigenständigen tinta reichen. Selbstanleihen erscheinen oftmals als Konkordanzen – an diesen Begriff u.a. aus der Vivaldi-Forschung erinnerte Fabrizio Della Seta – auf Grundlage harmonischer, rhythmischer oder melodiöser Muster.
Der Beitrag José Manuel Izquierdo Königs zur frühen, auch kompositorischen Rossini-Rezeption in Lateinamerika ab den 1820er Jahren – vor allem in Valparaíso und Lima – eröffnete die Sektion der transnationalen Perspektive. Die spezifisch kulturpolitische Situation in Wien in der Folgezeit nach dem restaurativen Kongress von 1814/15, in die hinein sowohl die Rückkehr italienischer Sänger wie auch die sich zum „Rossini-Fieber“ erhitzende Ankunft von Werk (ab 1816) und Person (ab 1822) in der Hauptstadt des Habsburgerreiches fiel, zeichnete Claudio Vellutini nach mit einem gezielten Blick auf die Praxis der – partiellen oder vollständigen – Opernübersetzungen. Die sich darüber entzündende Diskussion in der zeitgenössischen Musikpublizistik spiegelte zudem das Konkurrenzverhältnis von deutscher bzw. durch Rossini dominierter italienischer Oper. Auch der Beitrag Axel Körners, ausgehend von einer detaillierten Nachzeichnung der flächendeckenden Rossini-Rezeption in böhmischen Theatern, konzentrierte sich auf das Verhältnis der Präsenz Rossinis zur „Staatsidee“ der Habsburgerreiches nach dem Sieg über Napoleon sowie auf seine kulturpolitische Funktion, die im persönlichen Kontakt zu Metternich zusätzliche Stärkung erfuhr. Körner argumentierte überzeugend, dass Rossini genau die propagierte kosmopolitische, „supernationale“ Identität des Vielvölkerstaates repräsentieren konnte, vor der beispielsweise die anti-habsburgische Thematik von Guillaume Tell nicht ins Gewicht fällt. Dass Musik aus dem Tell zu Militärparaden u.a. auch in Wien gespielt wurde, hat kaum etwas – wie Mary Ann Smart einwarf – mit einer politischen Lesart der Oper zu tun, sondern vielmehr mit den zündenden Melodien dieses Werks. Der durch Carl Dahlhaus Anfang der 1980er Jahre stark gemachten stilistischen Opposition Beethoven-Rossini, die sich bis zu einer wertenden Interpretation von „Musik als Kunst und Nicht-Kunst“ (Bernd Sponheuer) auswuchs, begegnete Arnold Jacobshagen mit einer Untersuchung anhand digitalisierter Bestände einschlägiger Musikzeitschriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie zeigt, dass sich keine analoge, in wertender Vergleichskonstruktion befangene National-Debatte historisch nachweisen lässt, auf die sich Forscher des 20./21. Jahrhunderts berufen könnten. Vielmehr erkenne man eine weitaus differenzierte Kultur historischer Musikkritik, die Jacobshagen auch Fachvertretern zu bedenken geben möchte, die bis heute Rossini als nicht wissenschaftswürdig erachten. Anno Mungen erinnerte ergänzend daran, dass Dahlhaus seinerzeit Rossini durch die heute sicherlich zu hinterfragende Opposition zu Beethoven immerhin für die deutsche Musikwissenschaft rehabilitiert hätte.
Auf zwei herausragende Sängerinnen der Zeit konzentrierten sich Hilary Poriss und Anno Mungen. Die amerikanische Forscherin diskutierte am Beispiel der Pauline Viardot-García, der jüngeren Schwester Maria Malibrans, die Interaktion von Sängerpersönlichkeit und Rollendarstellung, indem sie historische Zeugnisse der Transformation der als unansehnlich geltenden Sängerin in den gefeierten Gesangsstar präsentierte. Besonders in der Gesangsszene der Rosina (Il barbiere di Siviglia, zweiter Akt) elektrisierte Viardot auch mithilfe zusätzlicher Einlagestücke, die jedoch anscheinend keiner ortsspezifischen „Dramaturgie“ folgten, das europäische Opernpublikum. Anno Mungen hingegen stellte in Form eines Werkstattberichtes das Wissen um das italienische Repertoire der Wilhelmine Schröder-Devrient zusammen und näherte sich den rekonstruierbaren stilistischen Besonderheiten dieser am operngeschichtlichen Beginn einer „dramatischen“ Stimmfachdiversifizierung stehenden Sängerin an. Ihre Rossini-Interpretation, die quantitativ aber vor den gesungenen Bellini-Partien zurücktritt, war demnach allgemein durch langsame Tempi und Streichungen der Koloraturen gekennzeichnet. Der Frage, inwieweit man „Di tanti palpiti“ als „popular music“ verstehen könne, widmete sich Emanuele Senici und machte darauf aufmerksam, dass es kaum musikalischen Quellen (z.B. Transkriptionen) dieser Melodie gäbe, die eine frühe Popularität ab 1813 beweisen könnten. Geradezu paradoxerweise entbehre sie einer geschlossenen, volksliedhaften Anlage, die als ein Kennzeichen für Popularität denkbar sei, durch kunstvolle melodische und harmonische Fortführungen. In der anschließenden lebhaften Diskussion wurden verschiedene Gründe für die Bekanntheit geltend gemacht – etwa der charismatische Beginn von zwei musikalischen Hauptphrasen und nicht zuletzt das Sprachspiel von Gaetano Rossi (»Mi rivedrai / Ti rivedrò«). Carlida Steffan widmete ihren Beitrag den Salonkompositionen Rossinis, machte auf die Kultur des oftmals improvisierten Musikzierens in verschiedenen Besetzungen aufmerksam und stellte zudem theoretische Reflexionen der Zeit über die unterschiedlichen Arten des Singens im weiträumigen Theater und im kleineren Salon vor.
Fabrizio Della Seta konzentrierte sich dagegen ganz auf die Analyse von dramaturgischen Grundkonstellationen, die in vielen ernsten Werken Rossinis Gemeinsamkeiten aufweisen. Die väterliche Autorität – ökonomisch, gesellschaftlich, politisch orientiert – steht oft im Konflikt mit dem selbstbestimmt-emotionalen Heiratswunsch der Tochter, wobei Momente ausbleibender Kommunikation (das Nicht-Sagen-Können) zu dramaturgischen Schlüsselmomenten avancieren. Della Seta verweist auf das Wiedererstarken dieses Themas bei Rossini, das in emanzipatorischer Färbung besonders in den komischen Genres der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eines der Hauptmotive bildete, und interpretierte das auffällige Maskieren von Emotionen im Sinne einer Sentimentalitätsästhetik der Restaurationszeit. Eine ausschließlich musikalische Analyseperspektive nahm daraufhin Matteo Giuggioli ein, der sich den Spezifika der Sturm- und Gewittermusiken Rossinis vor dem Hintergrund einer Typisierung dieser Form deskriptiver Musik widmete und dabei besonders auf die erste „Tempesta“ in den frühen Sei sonate a quattro von 1804 einging.
Die abschließende Sektion des Kongresses kreiste um exemplarische Phänomene der europäischen Rossini-Rezeption vorzugsweise in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich im Spannungsfeld zwischen nationalen und kosmopolitischen Diskursen bewegte und zwangsläufig von der physischen Präsenz der noch lebenden Komponisten-Ikone beeinflusst wurde. Gerade die „Entkoppelung“ von Werk zu seinem illustren Schöpfer kennzeichnete, wie Mary Ann Smart ausführte, die frühe internationale Rezeption des Stabat mater (1842), die aber dafür in besonderer Weise durch den sich konsolidierenden und um internationale Aufführungs- und Vermarktungsrechte konkurrierenden Verlegermarkt bestimmt wurde. Einen bislang wenig beachteten Pariser Kritiker, der mehr als 30 Jahre lang über das Théâtre-Italien für den Journal des débats berichtete, stellte Ruben Vernazza vor: In den Rezensionen des Malers und Schriftstellers Étienne-Jean Delécluze spiegelt sich einerseits die Diskussion um die Funktion der „Gesangsschule von Paris“, die dem italienischen Opernhaus in Paris zugesprochen wurde. Andererseits kann durch seine meinungsbildende Arbeit als Kritiker eine weitere Stimme erschlossen werden, die neue Einblicke in den Prozess der Veränderung bzw. des oftmals bescheinigten „Niedergangs“ der Belcanto-Ästhetik Rossinis ab den 1850er Jahren zugunsten eines zu Giuseppe Verdi führenden „dramatischen“ Gesangsideals gewährt. Die Interpretation Rossinis als „Komponist des Humors“, eingepasst in theoretische Konzeptionen eines fundamentalen Misstrauens gegenüber einer von Verstand und Fortschrittlichkeit bestimmten Zukunft der Menschheit, vollzog sich – wie Emilio Sala anschaulich ausführte – ab den späten 1850er Jahren durch namhafte Vertreter der Mailänder Scapigliatura. Rossini fungierte hier als Kultfigur und Ahnherr eines „neuen“ Humors, der als ästhetische Antwort auf diese pessimistische Weltsicht propagiert wurde. Durch Constantino Dall’Argines absurder Neuvertonung von Il barbiere di Siviglia, zwei Tage (!) vor Rossinis Tod in Bologna uraufgeführt, wurde Rossini einer radikalen musikalischen Aktualisierung unterworfen. Beeinflusst von französischen Genres wie Vaudeville und Operette, erscheint dieser Barbiere als eine Art Meta-Operette, in der etwa die Cavatina Figaros zu einer Polka mutiert – diesem Werk, obgleich ein besonderes Zeugnis der Avantgarde-Ästhetik der neuen Generation, blieb aber der Erfolg versagt. Céline Frigau Manning zeichnete abschließend historische Diskurse der Phrenologie des 19. Jahrhunderts nach, deren Vertreter in Rossinis „großem Geniekopf“ ein vieldiskutierbares Exempel ihrer damals noch jungen Äquivalenz-Lehre von Hirnformung und Geistesgaben zu erblicken meinten.