Hamburger „Gottseligkeit“. Thomas Selle und die geistliche Musik im 17. Jahrhundert
Hamburg, 10.-11.11.2017
Von Friederike Janott, Hamburg – 20.02.2018 | Thomas Selle, der mit seinem Antritt der Kantoratsstelle am Hamburger Johanneum im Jahre 1641 nicht nur eine der attraktivsten Stellen dieser Zeit bekleidete – er übernahm damit zugleich die Verantwortung für die Figuralmusik an allen Hamburger Haupt- und Nebenkirchen –, sondern Zeit seines Lebens mit einer handschriftlichen Gesamtausgabe seiner Werke aktiv an seinem künstlerischen Nachleben arbeitete, ist heute nur noch wenigen bekannt. 282 geistliche Kompositionen umfassen seine Opera omnia, die er 1659 der Städtischen Bücherei Hamburg übergab und die heute noch in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky liegen. Der editorischen Erschließung dieser Werke widmet sich ein von Prof. Dr. Ivana Rentsch geleitetes DFG-Projekt, das voraussichtlich im Oktober 2018 mit der Online-Publikation der 282 kritisch edierten Werke abgeschlossen sein wird. In diesem Rahmen veranstaltete das Institut für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg eine internationale Tagung. Eröffnet wurde sie von Ivana Rentsch (Hamburg), die in ihrem Vortrag Selles geistliche Kompositionen seiner Hamburger Zeit und deren Durchdringung von weltlichen und geistlichen Prämissen im Hinblick auf Wirkungsästhetik und theologischer Verortung untersuchte. Es folgten Vorträge von Reinmar Emans (Hamburg), der Einblicke in die professionellen Musikernetzwerke in der nord- und mitteldeutschen Musiklandschaft zur Zeit Selles gab, und Michael Maul (Leipzig), der auf der Grundlage einer ausführlichen Darstellung der Organisation und des Aufbaus der Leipziger Thomasschule – die Selle möglicherweise selbst besucht haben könnte – und ihrer Ähnlichkeiten zu dem Hamburger Modell die These ableitete, dass Selle die Hamburger Kirchenmusik sehr wahrscheinlich nach dem Vorbild der Leipziger Thomasschule organisierte. Dem unter dem Aspekt der Organisation von Wissensbeständen bisher wenig erforschten Korpus von Musiklehrschriften widmete sich Inga Mai Groote (Heidelberg) anhand von Selles um 1642 erschienenem Traktat Kurtze doch gründliche anleitung zur Singekunst im Kontext anderer Musiklehrschriften des 17. Jahrhunderts.
Dass sich Einflüsse weltlicher Instrumentalmusik – mit der Selle nicht zuletzt durch sein weit verästeltes (Musiker-)Netzwerk vertraut war – kompositorisch nicht nur in dessen weltlichen, sondern auch in seinen geistlichen Werken niederschlugen, wies Juliane Pöche (Hamburg) in ihrem Vortrag eindrucksvoll anhand einer Vielzahl von Notenquellen und Werkvergleichen nach. Während Esther Dubke (Hamburg) mittels detaillierter Analysen die verschiedenen Deutungsaspekte der „Ad-Imitationem-Orlandi“-Kompositionen Selles erörterte, gab Jürgen Neubacher (Hamburg) einen fundierten Überblick über die Vielzahl Selleʼscher Kompositionen über fremde und eigene Vorlagen. Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von Reinhard Strohm (Oxford), der in einem historischen Panorama von Oswald von Wolkenstein bis Richard Wagner Selles Opera omnia im Rahmen anderer Musikernachlässe und Musikhinterlassenschaften kontextualisierte und anhand dessen die Motivationen, Gestaltungen und Schwierigkeiten solcher Hinterlassenschaften darstellte. Abgerundet wurde der erste Tag mit einem Konzert von Studierenden und Lehrenden der Hochschule für Musik und Theater Hamburg unter der Leitung von Isolde Kittel-Zerer, das ausschließlich dem Œuvre Selles gewidmet war und damit einen klanglichen Eindruck von dessen Vielfältigkeit vermittelte.
Der zweite Tag begann mit einem Doppelvortrag von Johann Anselm Steiger (Hamburg) und Oliver Huck (Hamburg), in dem sie die produktive Kooperation zwischen Selle und dem evangelisch-lutherischen Prediger und Dichter Johann Rist, zuerst in der Sabbahtischen Seelenlust von 1651, ausführlich beleuchteten. Daraufhin untersuchte Damaris Leimgruber (Zürich) in ihrem Vortrag die sieben erhaltenen Leich-Kompositionen Selles hinsichtlich des Zusammenhangs von theologischen Konzepten und musikalischer Gestaltung, mit besonderem Blick auf das Motiv des Echos. Der Frage nach den Gattungskontexten und darunter im Besonderen nach dem Weiterwirken vorreformatorischer Traditionen in Selles Weihnachtshistorie und dem Dialog Joseph! Was da? ging Bernhard Jahn (Hamburg) nach. Anhand einer Vielzahl von Noten- und Tonbeispielen gab Walter Werbeck (Greifswald) einen fundierten Überblick über die frühen Konzerte Selles und deren kompositorisches Umfeld. Ergänzt wurde dieser Vortrag durch Joachim Kremer (Stuttgart), der über die kleinen geistlichen Konzerte in Selles Opera omnia aus dem Druck Concertuum binus vocibus von 1634 sprach. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Katharina Hottmann (Hamburg), die Selles Vertonung des 65. Psalms Gott, man lobet dich unter dem Aspekt des Gattungskontextes des geistlichen Konzerts erörterte. Die daran anschließende rege geführte Abschlussdiskussion machte nicht nur bewusst, dass diese Tagung als Initialmoment einer noch im Entstehen begriffenen Selle-Forschung zu sehen ist, sondern weckte auch die Neugier auf den für Ende 2018 angekündigten Tagungsband.