Stand und Perspektiven musikwissenschaftlicher Homosexualitätsforschung
Bremen, 15.-17.11.2017
Von Eva Rieger, Vaduz – 20.02.2018 | Das von Michael Zywietz organisierte Symposion des Instituts für Kunst- und Musikwissenschaft an der Hochschule für Künste Bremen bot angesichts der bisherigen Vernachlässigung des Forschungsfelds in deutschen Landen eine erfreuliche Themenvielfalt. Nach einer Übersicht über den Stand der Forschung (Eva Rieger) wurde die Frage nach Theodor W. Adornos Einstellung gegenüber Homosexuellen geklärt (Bernd Feuchtner): Adorno konnte kein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Der Fall Nicolas Gombert, Kapellmeister am Hofe Karls V., der wegen Sodomie bestraft wurde, beschäftigte Michael Zywietz, der die These vertrat, dass die kirchliche Seite Gnade walten ließ – eine Erkenntnis, die quer zu den bisherigen Auffassungen steht, aber durch akribische Forschung nachgewiesen wurde. Juana Zimmermann stellte Brittens Vokalkompositionen für Peter Pears vor. Das Paar konnte sich damals nicht zueinander bekennen, lebte und schuf aber in freiheitlicher Atmosphäre. Cornelia Bartsch spürte homoerotische Narrative in Leben und Werk Ethel Smyths auf, sprach von „querständigen Spuren“ in der Musik und verdeutlichte, wie Smyth an der Dekonstruktion von Weiblichkeitsmythen beteiligt war. Mit dem Beitrag „Zum Leben und Wirken der Pianistin Smaragda Eger-Berg“ zeigte Anna Ricke Bilder, Rollen und Räume einer homosexuellen Künstlerin, deren Nachlass wohl nur vorhanden ist, weil sie die Schwester Alban Bergs war. Rebecca Grotjahn konnte zum Thema „Countertenöre zwischen Querständigkeit und Heteronormativität“ Erhellendes zu den Stimmfächern beitragen, die zwischen den Geschlechtern weitaus weniger unterscheidbar sind, als man vermuten würde. Hans-Joachim Hinrichsen referierte aus klassisch musikologischer Perspektive die lebhaft-erregte Diskussion um 1990 in den USA über eine mögliche Homosexualität Franz Schuberts und billigte dieser Interpretation eine gewisse Berechtigung zu, insofern es zur Normalität gehört, Musik im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu zu interpretieren. In der Diskussion wurde betont, wie wichtig diese Entwicklung für die Anerkennung einer schwulen Rezeption damals war, da sie neue Fragen zum Begriff der Identität berührte, und damit erkenntnistheoretische Türen öffnete. Kevin Clarke gab einen Überblick über die Beschäftigung mit dem Thema Sexualität in der Operette in der neueren Forschungsliteratur. Nach der Entsexualisierung in der NS-Zeit nahm auch die Nachkriegszeit das umfangreiche historische Quellenmaterial zu Sexualität und Operette nicht zur Kenntnis. In den USA werden Fragen zu Gender und (Homo)sexualität längst wissenschaftlich behandelt. Anno Mungen referierte über „Oper und Homosexualität, Bayreuth und der Nationalsozialismus“, wobei er die in Bayreuth relevanten Diskurse 1900-1945 besprach und am Beispiel von Wieland Wagner widersprüchliche Konstruktionen von Männlichkeit aufzeigte. Ein Vortrag von Beatrix Borchard zur Problematik von Kategorisierungen und Markierungen von Geschlecht und sexueller Orientierung in Lexika fiel wegen Krankheit leider aus; Martina Bick konnte aber wenigstens Beispiele von sogenannten „Männerseiten“ der Forschungsplattform Musik(vermittlung) und Gender(forschung) im Internet zur Diskussion stellen.
Der letzte Tag war mit vier Beiträgen den Fragen der Identität und deren Spuren in Hans Werner Henzes Werk gewidmet. Klaus Oehl referierte über „Hans Werner Henzes Klarinettenkonzert La miracle de la rose (1981) nach Jean Genet“ und wies nach, dass Henzes Werk stets am Menschen orientiert war. Er ließ sich von Genets radikaler Ästhetik beeinflussen und seine Klangvorstellungen bezogen einzelne Körperteile mit ein. Antje Tumats Referat, verlesen von Anna Ricke, über „Genderfragen in Henzes Bassariden“ stützte sich auf den zentralen Wendepunkt in dessen Œuvre und beschrieb die Gegenüberstellung von Dionysos und Pentheus als persönliche Metapher, die den Komponisten nachhaltig beschäftigte. Henze projizierte die Einsichten Herbert Marcuses („Triebstruktur und Gesellschaft“) auf die beiden Personen. Kadja Grönke übertrug in ihrem Beitrag über „Hans Werner Henze und Aribert Reimann, wie Roland Barthes sie gehört haben könnte“ den bekannten Aufsatz von Roland Barthes „Le grain de la voix“ auf einige Kompositionen und befasste sich mit den Möglichkeiten einer „schwulen Ästhetik“ anhand der Materialitäten des Körpers. Ihr Vortrag endete mit der Deutung, dass es zwar keine per se ‚schwule‘ Ästhetik des Klanglichen gibt, dass aber die rezipierende Person eine solche (oder andere) Ästhetik in das Werk hineinzutragen vermag, sich damit kreativ am musikalischen Deutungsprozess beteiligen kann, und dass Barthes‘ lebenslang behindernde Lungenkrankheit an seiner als erotisch rezipierten Wahrnehmung von Stimmen wohl ursächlich beteiligt war. Zum Abschluss der Tagung zeigte Michael Kerstan anhand von ausgewählten Werken Henzes, auf welche Arten Henzes Beziehung zum Vater und seine Liebesbeziehungen konkret in die Musik Eingang fanden – sei es durch die gewählte Thematik, vertonte Texte, Widmungen oder auch die Instrumentenwahl (die Gitarre z. B. erhält eine so prominente Stellung in seinem Œuvre aufgrund von Henzes Liebe zu einem Gitarrenspieler). Insgesamt wurde klar, dass die Einbeziehung des Körpers, der Sexualität sowie von Identitäts- und Genderfragen zu neuen, interessanten Forschungsergebnissen führt. Die Diversität des kulturellen Handelns macht neue Perspektiven sichtbar und damit zugänglich, sie bereichert die Forschung in neuartiger Weise.