Georg Philipp Telemann: Enlightenment and Postmodern Perspectives
Philadelphia, 12.-14.10.2017
Von Wolfgang Hirschmann, Halle an der Saale – 19.12.2017 | Nach den Tagungen in den Telemannstädten Hamburg und Frankfurt am Main bildete die Konferenz am Boyer College of Music and Dance der Temple University (Philadelphia) einen besonderen Höhepunkt der wissenschaftlichen Veranstaltungen anlässlich des 250. Todestages des Komponisten. Sie war nicht nur die erste diesem Komponisten gewidmete Konferenz in den USA, sondern die erste Telemann-Tagung außerhalb Deutschlands überhaupt. Die Telemannforschung hat in den USA inzwischen einen solch prominenten Status erreicht, dass es nur eine Frage der Zeit war, dass die deutsche und die amerikanische Forschung sich zu einem gemeinsamen Veranstaltungs- und Diskussionsforum zusammenfinden würden.
Konzipiert und geleitet wurde die dreitägige Konferenz von Steven Zohn (Temple University), Jeanne Swack (Wisconsin-Madison) und dem Berichterstatter; als Veranstalter traten neben dem bereits erwähnten Boyer College of Music and Dance das Zentrum für Telemann-Pflege und -Forschung Magdeburg und die Abteilung Musikwissenschaft am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf.
Die Konferenz war in sechs Sektionen gegliedert und umfasste insgesamt zwanzig Referate von Forscherinnen und Forschern aus den USA, Großbritannien, Japan und Deutschland. In der ersten Sektion („Enlightenment, Postmodernity, and Subjectivity“) standen Fragen der Einordnung Telemanns in geistes- und kulturgeschichtliche Konzepte der Aufklärung und Postmoderne im Vordergrund. Bettina Varwig (Cambridge) sprach über „Telemann’s Subjects“ und versuchte zu ergründen, „how Telemann’s music – in its performed, sounding presence – shaped and affected the bodies, minds and souls of its performers and listeners“. Im Vortrag von Steven Zohn („Sehet an die Exempel der Alten: Telemann’s (Pre-)Enlightenment Rhetoric“) stand die Frage nach der Spannung zwischen der Verwendung von polyphonen Stilmerkmalen des mittleren 17. Jahrhunderts und Telemanns eigenem modernen Idiom in verschiedenen Kirchenkantaten im Vordergrund. Der Berichterstatter erörterte in einer Fallstudie die Art und Weise, wie Telemann das Wort „Freiheit“ auskomponierte und welche aufgeklärten Konzepte damit verbunden waren („Composing Freedom and the Freedom of the Composer: The Case of Telemann’s Pastorelle en musique“). Das Referat von Joyce Lindorf (Temple University) konzentrierte sich auf Louis-Bertrand Castels Beschreibung des Farbenklaviers, Telemanns Übersetzung und die Zusammenhänge mit den Theorien Rameaus und Newtons („Telemann, Rameau and Castel’s ‚Enlightenment‘ Harpsichord“).
In der zweiten Sektion („Nature, the Body, and Theology“) orientierte Markus Rathey (Yale University) über die Bedeutung der Telemann’schen Weihnachtsmusiken als lutherisch-orthodox geprägte Kompositionen wie auch Dokumente einer gewandelten Aufklärungstheologie („Body, Nature, and Emotion in Telemann’s Christmas Cantatas“). Das Referat von Joyce Irwin (Princeton Research Forum) betrachtete Telemanns Donnerode vor dem Hintergrund der Physikotheologie („Telemann’s Donnerode in the Context of Enlightenment Nature Theology“), während Andreas Waczkat (Göttingen) die Idylle Der May als ein (im Sinne Umberto Ecos) ‚postmodernes‘ Werk außerhalb des Mainstreams deutete („Beyond Simplicity: Telemann’s Musical Idyll Der May, TVWV 20:40“).
Die dritte Sektion zu „Urban Contexts“ begann mit Vorträgen zur Vorgeschichte von Telemanns hamburgischen liturgischen Passionen von Daniel R. Melamed (Indiana University, „Hamburg Passion Music ca. 1675–1721“) sowie zu dem jüngst erfolgten Nachweis der Aufführung von Telemann’schen Kirchenarien bei der Einweihung der Trinity Church in Lancaster (Pennsylvania) im Jahr 1766 (Tanya Kevorkian, Millersville University: „Telemann in Lancaster: The Pennsylvania German Background of Cantata Performances at Trinity Lutheran Church Inaugural Services in 1766“). Jeanne Swack sprach über die judenfeindlichen Ausschreitungen, die der Aufführung der Telemann’schen Bürgerkapitänsmusik von 1730 unmittelbar vorausgegangen waren, und Erdmann Neumeisters antijudaistische Predigtpraxis („A Tale of Two Hamburgs: Christians, Jews, and the 1730 Kapitänsmusik of Georg Philipp Telemann“); Carsten Lange (Magdeburg) stellte Untersuchungen zu den Verbindungen Telemanns nach Lüneburg vor („Georg Philipp Telemann, Lüneburg und Roger Brown: Einige Anmerkungen“).
Dem Verhältnis zwischen Telemann, Johann Sebastian Bach und Carl Philipp Emanuel Bach waren die drei Referate der Sektion „Telemann and the Bach Family“ gewidmet: David Schulenberg (Wagner College) sprach über „Telemann as ‚General Capellmeister‘ to the Bach Family“, Ellen Exner (New England Conservatory of Music) über die Frage „Did Telemann Influence the Composition of Bach’s Cantata BWV 54?“, Jason Grant (The Packard Humanities Institute) über „Carl Philipp Emanuel Bach’s Adaptations of Georg Philipp Telemann’s Chorales in His Hamburg Church Music“.
In der „Poets and Cantatas“-Sektion stand Telemanns reiches kirchenmusikalisches Schaffen im Mittelpunkt. Brit Reipsch (Magdeburg) steuerte philologische und analytische Betrachtungen zu einem unvollendet gebliebenen Jahrgang bei („‚So wol bey starcker als schwacher Besetzung gut zu exequiren‘: Telemanns Kirchenmusiken auf Dichtungen Michael Christoph Brandenburgs“), während im Referat von Nina Eichholz (Hildesheim) die Frage nach dem Opus-Charakter des sogenannten Stolbergischen Jahrgangs im Vordergrund stand („Überlegungen zum Jahrgangsprofil von Georg Philipp Telemanns Stolbergischen Jahrgang [1736/37] und zu Telemanns Kantatenschaffen in Jahrgängen“); Probleme der Jahrgangsidentifizierung thematisierte Ralph-Jürgen Reipsch (Magdeburg; „Telemanns Jahrgang 1733/34: Methodische Überlegungen zur Identifizierung“), Kota Sato (Tokyo) erörterte „Telemann’s Recitative Notation in His Church Cantatas“.
In der abschließenden Sektion zu „Performance Histories“ orientierte Michael Maul (Leipzig) über „Performances of Telemann’s Cantatas in Breslau, Hirschberg, and Augsburg“ und sah in Telemann eine Art ‚General-Kapellmeister‘ des protestantischen Deutschlands. Nik Taylor (Washington, D.C) gab Einblick in die „Performance History of Telemann’s Engel-Jahrgang (Hermsdorf, 1748)“.
Die Folge der Vorträge dokumentierte die Breite der Telemannforschung in unserer Zeit, aber auch die Fortschritte in diesem Bereich innerhalb der letzten dreißig Jahre, die zu einer enormen Spezialisierung geführt haben.
Die Konferenz wurde durch ein opulentes Rahmenprogramm bereichert: Neben einer interdisziplinären Talk Show „The Case of Telemann“, die für das Radio mitgeschnitten wurde, und einem Konzert des Temple University’s Boyer Baroque Orchestra und Concert Choir mit Telemanns französischer Motette „Deus judicium tuum“ am 11. Oktober sind hier Kammerkonzerte und Jazz-Improvisationen über Telemann-Themen, vor allem aber das Konzert von Tempesta di Mare im Kimmel Center for the Performing Arts zu nennen. Abgerundet wurde die Veranstaltungsreihe, die eine großartige Werbung für den in der amerikanischen Öffentlichkeit noch recht unbekannten Komponisten bildete, am 16. Oktober mit einer Meisterklasse und einer Aufführung der neu entdeckten Fantasies pour la Basse de Violle durch Thomas Fritzsch.