Komponisten dirigieren: Max Reger im Kontext (Internationale Tagung im Rahmen des Max Reger Festjahres 2016)
Weimar, 14.-15.05.2016
Von Kai Schabram, Weimar – 18.06.2016 | Am 14. und 15. Mai 2016 fand in der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar die internationale Tagung zum Thema Komponisten dirigieren: Max Reger im Kontext statt. Die Veranstaltung bildete eine Kooperation der Sammlung Musikgeschichte / Max Reger Archiv Meiningen und des Instituts für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Die wissenschaftliche Leitung oblag dabei Dr. Maren Goltz und Prof. Dr. Christiane Wiesenfeldt.
Im Zentrum der Tagung stand zum einen die Beschäftigung mit Max Reger in der Personalunion als Musiker, Komponist und Dirigent, der während seiner Meininger Zeit als Hofkapellmeister zahlreiche Werke zur (Ur-)Aufführung brachte. Dabei prägte Reger in der renommierten Nachfolge Hans von Bülows, Richard Strauss’, Fritz Steinbachs und Wilhelm Bergers einen spezifischen „Meininger Klang“, der in der Kritik mitunter auf ein geteiltes Echo stieß. Zum anderen wurden Regers Tätigkeiten im Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation den Aktivitäten anderer Komponisten-Dirigenten des 19. und 20. Jahrhunderts gegenübergestellt. Im Zentrum der Vorträge und Diskussionen standen dabei Fragen nach dem Umgang mit fremden und eigenen Werken, nach der Ausprägung charakteristischer Orchesterklänge und Dirigierstile sowie nach möglichen Auswirkungen der Stabführung auf das eigene kompositorische Schaffen.
Nach einer thematischen Einführung von Prof. Dr. Christiane Wiesenfeldt eröffnete Prof. Dr. Ulrich Konrad (Würzburg) die Vortragsreihe mit einem Referat über den Dirigenten Richard Wagner. Im Zuge einer Rekonstruktion des Werdegangs als Chor- und Orchesterleiter an verschiedenen Wirkungsorten nahm Konrad unter anderem Bezug auf den Aufsatz Über das Dirigieren (1869), in dem Wagner seine ästhetischen wie praktischen Vorstellungen der Profession erläutert hat. Ein Aspekt bildete dabei der Akzent auf einer möglichst ganzheitlichen Werkdarbietung, die Wagner in einer Vermittlung komplementärer Werkteile durch den Dirigenten verwirklicht wissen wollte.
Im zweiten Referat sprach Prof. Dr. Siegfried Oechsle (Kiel) über die Dirigiertätigkeit und -auffassung von Johannes Brahms. Trotz der für den Komponisten typischen Diskretion in schriftlichen Mitteilungen, unternahm Oechsle den Versuch, ausgehend von einer Briefpassage Brahms’ an Joseph Joachim, mögliche Merkmale seines Dirigierstils (vor allem eigener Werke) herauszuarbeiten. In einem weiteren Punkt widmete sich Oechsle mit Bezug auf frühe Einspielungen des Finalsatzes der 1. Symphonie op. 68 der Frage nach bestehenden Traditionslinien ihrer Interpretation, die über die Dirigate von Bülow und Steinbach bis zu Brahms zurückführen.
Der Orchesterleitung Max Regers nahm sich schließlich Prof. Dr. Wolfgang Rathert (München) an. Über den Einstieg verschiedener Karikaturen des Dirigenten Reger konzentrierte sich Rathert auf dessen Wirkungszeit als Direktor der Meininger Hofkapelle. Die weitgehend autodidaktisch erworbenen Kompetenzen als Dirigent führten in der Kritik mitunter zu harschen Äußerungen. Während der Meininger Zeit brachte Reger eine Vielzahl eigener wie fremder Werke zur Aufführung und scheute dabei in der Funktion als komponierender Dirigent nicht vor (bisweilen umfassenden) Bearbeitungen zurück. Ziel dieser Eingriffe – nicht zuletzt in den Sinfonien Brahms’ – war es, der musikalisch kompositorischen Plastizität der Werke Ausdruck zu verleihen. Durch aufopferungsvolle Probenarbeit und detaillierte Vorbereitung des Notenmaterials sollte Musikern wie Hörern das, was in und zwischen den Noten steht, greifbar werden. Produzieren und Reproduzieren schienen für Reger schon früh zur künstlerischen Notwendigkeit geworden zu sein.
Sein Referat über den Dirigenten Richard Strauss eröffnete Prof. Dr. Walter Werbeck (Greifswald) mit einem Videoausschnitt aus dem Jahre 1944, der die Probe der Eulenspiegel-Ouvertüre mit den Wienern Philharmonikern unter der Leitung des Komponisten zeigte. Die Verhandlung ausgewählter Rezeptionsdokumente führte Werbeck zu einer Charakterisierung Strauss’ als dem Idealtypus eines dirigierenden Komponisten. Es schlossen sich Fallbeispiele wie etwa das Strauss-Dirigat des Finalsatzes der Mozart’schen Jupiter-Symphonie sowie eigener Symphonischer Dichtungen an, die sich im Vergleich zu jüngeren Einspielungen durch eine ungewöhnlich schnelle Tempowahl auszeichnen. Angesichts des beginnenden Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit wurde abschließend Strauss’ Verhältnis zur Schallplatten- und Rundfunkaufnahme diskutiert.
Prof. Dr. Hans-Joachim Hinrichsen (Zürich) kam nach einer Rekonstruktion der Biographie Anton Bruckners als zunächst Chor-, später auch Orchesterleiter in Linz und Wien auf unterschiedliche Rezeptionsstränge der zeitgenössischen Kritik im kirchlichen und säkularen Kontext zu sprechen. Mit Blick auf Bruckners Briefe und Bewerbungsschreiben, die seine Absichten dokumentieren, als Dirigent wahrgenommen zu werden, wurde unter anderem auf die noch fehlende Professionalisierung der Dirigentenausbildung in jener Zeit hingewiesen. Im letzten Teil des Referats unternahm Hinrichsen mithilfe der Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers eine Konturierung des Interpreten Bruckner aus der Perspektive eines „impliziten Dirigenten“.
Im Gegensatz etwa zu Strauss (als einem dirigierenden Komponisten) stellte für Prof. Dr. Wolfram Steinbeck (Köln) Gustav Mahler den Repräsentanten eines komponierenden Dirigenten dar. Nach einer Skizzierung der wichtigsten Dirigierstationen Mahlers bis hin zum künstlerischen Leiter der Wiener Hofoper zeichnete sich eine interessante Dichotomie ab: Einerseits war Mahler als Operndirigent umjubelt, als Konzertdirigent jedoch lange umstritten. Anschließend ging Steinbeck auf das besondere Verhältnis zwischen den interpretatorischen und kompositorischen Professionen ein: Für Mahler bildete das Dirigieren offenbar eine notwendige Ergänzung zum Komponieren – beide Tätigkeitsfelder standen in einem ergänzenden Beziehungsverhältnis zueinander und befruchteten sich gegenseitig. Auch erläuterte Steinbeck die bisweilen massiven Umarbeitungen fremder Werke (Bsp. Kopfsatz der 3. Symphonie Bruckners), die als Ausdruck der Hervorhebung strukturell-formaler Aspekte des Tonsatzes interpretiert werden können.
Dr. Cornelia Bartsch (Basel) widmete sich in ihrem Vortrag einleitend der Frage nach ersten Dirigentinnen im öffentlichen Konzertbetrieb des 20. Jahrhunderts, um daraufhin auf die Bedeutung der englischen Komponistin Ethel Smyth einzugehen. Smyth konnte, nicht zuletzt dank der Unterstützung durch Bruno Walter, beachtenswerte Erfolge als Dirigentin in dem ansonsten männerdominierten Metier verbuchen. In diesem Zusammenhang wurden insbesondere Pressereaktionen auf Smyths Darbietungen eigener Orchesterwerke herangezogen. Bartsch diskutierte zudem Smyths individualistische Konzepte der künstlerischen Selbstinszenierung und nahm dabei Bezug auf bildliche Darstellungen des 19. Jahrhunderts, die weiblich konnotierte Dirigierstile repräsentierten.
Im letzten Beitrag kam PD Dr. Ulrich Krämer (Berlin) auf die Dirigiertätigkeit Arnold Schönbergs zu sprechen. Dabei wurden sowohl Schönbergs ästhetische Vorstellungen des Dirigierens aus eigenen Schriften als auch sein Verhältnis zur zeitgenössischen Aufnahmepraxis thematisiert. Letztlich zeichnete sich ein Bild des Dirigenten ab, das von körperlicher Unbeweglichkeit, mangelndem Augenkontakt zu den Musikern und einem auf die Partitur versteiften Blick zeugte. Krämer leitete diese Charakteristik zum einen aus Schönbergs Ansatz einer vollständigen analytischen Werkdurchdringung, zum anderen aus der Unsicherheit des für ihn persönlich schweren Memorierens ab.
Die Referate und Diskussionsbeiträge förderten neben einer Vielzahl neuer Erkenntnisse und methodischer Zugriffe auch Fragestellungen zutage, die das Leben und Werk der verhandelten Komponisten um weiterführende Forschungsperspektiven bereicherten. Durch die Vorträge empfing die Thematik dirigierender Komponisten bzw. komponierender Dirigenten neue Impulse, so dass zu hoffen bleibt, in Zukunft auf weiterführende Auseinandersetzungen dieser Art in der Musikforschung zu stoßen. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist für das Heft 3/2017 der Zeitschrift DIE TONKUNST geplant.