Tradycje śląskiej kultury muzycznej/ Traditionen schlesischer Musikkultur
Wrocław/Breslau, 02.-04.03.2016
Von Gesine Schröder, Wien und Leipzig – 13.04.2016 | Unter der Federführung der Inhaberin des Lehrstuhls für Musiktheorie und Geschichte der schlesischen Musikkultur, Anna Granat-Janki, hält die Fakultät für Komposition, Dirigieren, Musiktheorie und Musiktherapie der Breslauer Musikakademie alle zwei Jahre die Konferenz Traditionen schlesischer Musikkultur ab. Breslau ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas, und so fiel die nunmehr 14. Ausgabe der Konferenz besonders üppig aus. Der Akzent lag dieses Mal auf dem Titelwort „Traditionen“: Zusammen mit zwei zur Konferenz gehörigen Konzerten und vier Ausstellungen zeigten die Referate, wie eng die Musikkultur Schlesiens und insbesondere Breslaus stets mit Musik aus anderen Regionen Europas verbunden war und wie wichtig es für schlesische Musiker auch heute ist, sich auf die kulturell diverse, polnisch, tschechisch und deutsch geprägte Vergangenheit ihrer Region zu beziehen.
Zu hören waren Vorträge vierzig polnischer und zehn auswärtiger Redner (aus der Ukraine, der Slowakei, aus Tschechien, Deutschland, Österreich und den Vereinigten Staaten). Polnisch, Englisch und Deutsch waren die Kongresssprachen.
Die thematischen Sektionen der Konferenz folgten im Groben einem Durchgang durch die Epochen. In einer quellenkundlich orientierten Sektion referierte PawełGancarczyk (Warszawa / Warschau), dass sich bei zahlreichen der über ganz Europa verstreuten, aus dem mittleren 15. Jahrhundert stammenden Handschriften des Petrus Wilhelmi de GrudenczVerbindungen zu Schlesien nachweisen lassen, und Ryszard Wieczorek (Poznań / Posen) untersuchte die 1555 gedruckte Anthologie von Tänzen der Gebrüder Hess, zweier Breslauer Stadtpfeifer, auf die Eigenheiten polnischer Tänze hin, die dieser Druck neben solchen deutscher, französischer und italienischer Herkunft enthält. Musikethnologischen Fragen widmeten sich drei Referate. Magdalena Dziadek (Kraków / Krakau) stellte mit PawełStalmachs Sammlungen slawischer, hier insbesondere tschechischer und polnischer Volkslieder ein seltenes Beispiel dafür vor, dass ein Pole im 19. Jahrhundert der tschechischen Kultur deutliches Interesse entgegen brachte. Zbigniew Przerembski (Breslau) sprach über Methoden der musikgeschichtlichen Verwertung unter anderem von Sackpfeiferskulpturen, die man am Breslauer Rathaus findet, und Magdalena Szyndler (Katowice / Kattowitz) hatte in den schlesischen Beskiden Feldstudien mit (ur-)alten Laiensängerinnen betrieben, deren Ergebnisse sie mit früheren Aufzeichnungen der transkribierten Lieder verglich. In der Gegend an der Grenze zu Tschechien, wo sich mehrere Kulturen überlappen, sind die beobachteten Unterschiede für Prozesse von Vermischungen generell aufschlussreich.
Einen Schwerpunkt der Konferenz bildete die schlesische Musik um 1800. Von Joseph Ignaz Schnabel, der kurz vor 1800 aus dem damals sächsischen Naumburg nach Breslau gelangt war, dort sehr bald die Herzen der Bewohner gewann und in der Stadt eine beachtliche Karriere durchlief, stammt ein Hymnus für Solisten, Chor und eine kleinere Instrumentalbesetzung. Iwona Świdnicka (Warschau) präsentierte ihre Rekonstruktion des Hymnus, und diese ließ sogar verständlich erscheinen, warum Schnabel in seinen ersten Breslauer Jahren eigene Kompositionen als solche Mozarts hatte ausgeben können, bis er nach deren glänzendem Erfolg die wahre Autorschaft verriet. Den regionalen Geschmack im Bereich Musiktheater verdeutlichte Agnieszka Drożdżewska(Breslau) an dem 1797 für das kleine Hoftheater in Neurode (Grafschaft Glatz; Nowa Ruda, Hrabstwo Kłodzkie) geschriebenen Singspiel Hass und Aussöhnung, dessen musikalische Autorschaft unsicher ist. In einer Darstellung des schlesischen Musiklebens der Jahrzehnte vor 1800 darf Carl Ditters von Dittersdorf nicht fehlen. Der Komponist von circa 150 Sinfonien wirkte lange Jahre als Kapellmeister auf dem fürstbischöflichen Schloss Johannesberg bei Jauernig (Javorník) und dürfte als erster schlesischer Sinfoniker gelten können. Dass das Stimmmaterial dieser Sinfonien heute über zahlreiche schlesische und tschechische Bibliotheken verstreut ist, verstand Milosz Kula (Breslau) als Zeichen der hohen Bedeutung, die Dittersdorfs Stücke für die Ausbildung der regionalen Orchesterkultur hatten. Mehrfach wandten sich Vortragende dem Wirken von Joseph (Józef) Elsner zu. Der aus dem schlesischen Grottkau (Grodków) stammende Lehrer Chopins hatte in Breslau studiert. Wie Katarzyna Szymańska-Stulka (Warschau) zeigte, suchte Elsner im Streben nach einer Winckelmann’schen Klassizität personale Charakteristika zu meiden. Gleichwohl schufen Generalbassübungen aus der Zeit um 1800, die Elsner seinen berühmten Schüler absolvieren ließ, die Basis für eine romantische Harmonik Chopin’schen Zuschnitts, die von Polen ausgehend quasi als Migrationseffekt in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine auf gewagten Sequenzbildungen beruhende französische Harmonielehretradition begründen sollte, wie Stephan Lewandowski (Weimar) anhand von Exzerpten aus zeitgenössischen Lehrwerken darstellen konnte. Ebenfalls auf Migration konzentriert waren die Vorträge von Klaus-Peter Koch (Bergisch Gladbach) und Luba Kijanowska-Kamińska (Lwiw / Lemberg). Während Koch an Listen eindrücklich zeigte, wie stark allein zahlenmäßig der Musikeraustausch zwischen Mitteldeutschland und Schlesien war, warf Kijanowska-Kamińska die Frage auf, warum die intensive schlesische Prägung der Lemberger Kultur im 16. und 17. Jahrhundert sich auf die bildenden Künste, das Handwerk eingeschlossen, bezogen hatte, Musikalisches aber ausklammerte.
Dass sich auffallend wenige Redner mit Chopin oder anderen Größen der polnischen Musikgeschichte beschäftigten, erklärt sich damit, dass die Musikkultur Schlesiens erst seit gut siebzig Jahren zur neueren polnischen Musikgeschichte gehört und die Größen sämtlich vor dieser Zeit geboren wurden – in anderen, auch damals schon polnischen Landesteilen.
Für eine schlesische Geschichte der Musik um den Ersten Weltkrieg ist Max Gulbins wichtig. Lange Jahre wirkte er an der Breslauer Elisabethkirche, und anhand von Beispielen aus seinen zahlreichen religiösen Gebrauchsmusiken sprach Ilona Dulisz (Olsztyn/ Allenstein) über die Weise, wie Plagiierungen bzw. Einarbeitungen weithin bekannter Lieder Gulbins eigene, in einer gediegenen Mendelssohnnachfolge stehende Stücke inhaltlich klären und ihnen zugleich ungeheure Stadtbekanntheit und -beliebtheit verschafft haben müssen. In einer Übernahme von Stille Nacht kulminiert ein für Weihnachtsfeiern gedachter Chorsatz des Komponisten, und seine 1916 fertig gewordene fünfte Orgelsonate, Kriegssonate betitelt, wird mit ihren Zitaten patriotischer und religiöser Gesänge sogar noch in jenem Jahr mit der Verbindung von Krieg mit Kirche für soldatische Opferbereitschaft gesorgt haben.
Breiten Raum nahmen auf der Konferenz Studien zur neueren Musik ein. Dies ist charakteristisch für die polnische Musiktheorie und -geschichte, vielleicht auch für die Musikforschung in den östlicheren Staaten der Europäischen Union insgesamt. Zu hören waren Vorträge über hierzulande weithin Unbekannte wie Ryszard Bukowski (Aleksandra Pijarowska, Breslau, und Elżbieta Szcurko, Bydgoszcz / Bromberg), Boleslaw Szabelski (Tomasz Kienek, Breslau), Andrzej Dziadek (Joanna Schiller-Rydzewska, Allenstein), Andrzej Krzanowski (Andrzej Tuchowski, Zielona Góra/ Grünberg und Breslau), über drei Schlesierinnen unter den vielen polnischen Komponistinnen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, Jadwiga Szajna-Lewandowska, die Messiaen-Schülerin und heutige Leiterin der Breslauer Kompositionsabteilung Grażyna Pstrokońska-Nawratil– sie bot bei der Konferenz einen Workshop an – und Agata Zubel (Anna Granat-Janki und Katarzyna Bartos, beide Breslau) sowie über Andrzej Markowski und seine elektronischen Klänge zu dem Film Der schweigende Stern, einer Koproduktion zwischen Polen und der DDR (Gesine Schröder, Wien und Leipzig). Der Zwischenkriegzeit widmeten sich unter anderem Helmut Loos (Leipzig) und Anselm Eber mit Michael Heinemann (beide Dresden). Loos verfolgte die Spuren der alldeutschen Bewegung im Breslauer Musikleben vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945; Eber und Heinemann vermittelten anhand von Feldforschungen zur Operette an Breslauer Theatern und anderen Spielstätten in den 1920er-Jahren am Beispiel von Eduard Künnekes Lady Hamilton eine Vorstellung davon, wie umwerfend eine Rekonstruktion der Aufführungspraxis der Operette in der Zwischenkriegszeit zu sein verspricht. Unter den weiteren Vorträgen seien diejenigen zum Breslauer Musikleben (Bogumiła Mika, Kattowitz), zur Nachkriegs-Musikkritik in Breslau (Isabella Starzec-Kosowska, Breslau) und zum Schlesischen Kulturzentrum in Kattowitz (Hanna Bias, Kattowitz) hervorgehoben. Es ist erfrischend, dass polnische Musikforscher akademische Standesunterschiede zwischen Theoretikern und Historikern nicht kennen beziehungsweise ignorieren. Man veranstaltet gemeinsame Konferenzen und hört sich gegenseitig zu, sicherlich ein Erbe der Tatsache, dass Theoretiker und Historiker aus Ländern des Warschauer Pakts in Komponistenverbänden organisiert waren. So traten bei der Konferenz auch Komponisten mit Vorträgen auf, und die beiden Konzerte wirkten nicht nur als Beigabe. Ihre Programme rahmten mit sehr Altem und ganz Neuem die Zeit ein, über deren Produkte in den Vorträgen zu hören war. Das gemischt vokal-instrumentale Breslauer Ensemble Ars Cantus bot Musik nach schlesischen Manuskripten des 14. und 15. Jahrhunderts, darunter etliches aus dem Glogauer Liederbuch (Śpiewnik głogowski) und Rekonstruktionen, denen handschriftliche Fragmente aus Sagan / Żagańund Grünberg zugrunde lagen. Das Kwartet Śląski (Schlesisches Streichquartett) trat mit Klängen vom Tonband und elektronisch Produziertem in einen Dialog: Bereits 1988 entstandene Werke des Breslauer Computermusik-Altmeisters Stanisław Krupowicz und des früh verstorbenen Akkordeonisten Andrzej Krzanowskiumgaben die Uraufführung eines Werks von Marcin Rupociński, der sich auch mit interaktiven Projekten einen Namen gemacht hat und wie Kropowicz an der Breslauer Musikakademie lehrt. Die Ausstellungen erinnerten an zwei Größen des Hauses, die Musikhistorikerin Maria Zduniak und den Komponisten und Musikschriftsteller Ryszard Bukowski. Musikalische Handschriften und seltene Drucke konnten in der Breslauer Universitätsbibliothek und im Nationalinstitut Ossolineum besichtigt werden. Letzteres bezeugt, wie wichtig Migrationen für die Geschichte insbesondere städtischer Kulturen waren. Infolge der Grenzänderungen nach dem Zweiten Weltkrieg vom zuvor polnischen Lwow / Lwiw / Lemberg nach Breslau umgezogen, beruht das Ossolineum auf der Sammlung des slawophilen Beethoven-Gönners Józef Maksymilian Ossoliński.
Der Konferenzbericht wird mit Beiträgen auf Polnisch, bei den Beiträgen auswärtiger Sprecher in den meisten Fällen zusätzlich mit deren englischer oder deutscher Version, sowie jeweils mit einem englischen Abstract im hauseigenen Verlag der Musikakademie publiziert werden und die mittlerweile bis zum 13. Band gediehene Reihe Tradycje śląskiej kultury muzycznej fortsetzen.