Die Klavierfantasien von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann: Analyse – historischer Kontext – Interpretation
Leipzig, 21.-23.09.2015
Von Severin Kolb, Zürich – 01.12.2015 | Unter dem Motto „Die Klavierfantasien von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann: Analyse – historischer Kontext – Interpretation“ stand die erste Sommerschule der Fachgruppe Musiktheorie der Gesellschaft für Musikforschung, die vom Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig organisiert wurde. Mit einem vielseitigen Programm bot sie einen hervorragenden Einblick in das Musikwesen einer Stadt, die die deutsche Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus prägte wie kaum eine andere. In drei dicht gefüllten Tagen sollten – wie der Titel „Analyse – historischer Kontext – Interpretation“ der Tagung ankündigte – ausgehend von diesen beiden Fantasien (op. 28 bzw. op. 17) unterschiedliche Aspekte des Leipziger Musiklebens zum Tragen kommen.
Am ersten Tag gaben vier Dozenten einen Einblick in Kernaspekte des Denkens herausragender, in Leipzig wirkender Vertreter der Musiktheorie. Christoph Hust stellte den Leipziger Dualismus vor, dessen Hauptvertreter Moritz Hauptmann unter hegelianischen Vorzeichen versuchte, die Harmonielehre physikalisch zu verankern und in ein allumfassendes System zu bringen. Sein System baut auf der dialektischen Spannung von „Einheit“ und „Gegensatz“ auf, die zu einer Art „Synthese“ führen: In der Oktave sieht er eine Einheit, zu der als Quinte die Zweiheit tritt. Die große Terz, „Zweiheit als Einheit“, füllt die Leere zwischen Oktave und Quinte zu einem Dreiklang. Auf analoge Weise lassen sich Dreiklänge wiederum zu Tonarten erweitern.
Anhand ausgewählter Analysebeispiele aus Beethovens Klaviersonaten demonstrierte Markus Neuwirth die Problematik von Hugo Riemanns Theorie von Metrik und Rhythmik, die von a priori gesetzten Thesen ausgeht und bei der Anwendung auf historische Beispiele aufgrund von deren unklarer Hierarchie und Systemzwang nicht selten in innere Widersprüche gerät und sich daher dem Vorwurf einer gewissen Willkür aussetzt.
Als Vertreter einer Leipziger Form- und Motivanalysetradition zog Maren Wilhelm den seinerzeit sehr einflussreichen Musiktheoretiker Ernst Friedrich Richter, der am Konservatorium Harmonielehre unterrichtete und Lehrbücher mit hoher Auflagenzahl veröffentlichte, hinzu. Seine Lehre ist zwar in den meisten Punkten nicht genuin neu, doch bietet er einen konzisen Überblick über die zeitgenössische Formenlehre, mit dem sich gut arbeiten lässt, wie sich bei der Probeanalyse an einem Menuett einer Beethoven’schen Klaviersonate feststellen ließ.
Jonathan Gammert bot mit seiner Übersicht über die „Neo-Riemannian Theory“ ein Beispiel, wie die Leipziger Musiktheorie bis heute weiterlebt. Ausgehend vom Tonartenplan von Schuberts B-Dur-Klaviersonate D 960 zeigte er auf, wie über den „Weg der direktesten Stimmführung“ Akkorde, die aus funktionstheoretischer Sicht weit voneinander entfernt sind, netzartig miteinander verbunden werden können.
Nach dem Theorie-Abschnitt rundete ein Konzert im alten Konservatoriumsgebäude, an dem Studierende der Hochschule das Klavierquintett op. 8 von Josef Suk, das Duo für Violine und Viola KV 423 von Mozart und Mendelssohns Streichquartett a-Moll op. 13 zu Gehör brachten, den überaus informativen ersten Tag ab.
Der folgende Morgen war den vorbereiteten Werken, Schumanns Fantasie op. 17 und Mendelssohns op. 28, gewidmet, die in zwei Gruppen besprochen wurden.
Bei der Analyse von Schumanns Fantasie C-Dur op. 17 (Stefan Keym) kamen zunächst Gliederungsversuche des in formaler Hinsicht ambivalenten Kopfsatzes und seine Gattungsbezüge zu Fantasie und Sonate zur Sprache. Hervorgehoben wurde danach Schumanns motivische Durchgestaltung des Satzes, die wohl mit dem „leisen Ton“ gemeint sein könnte, der im mottoartig vorangestellten Gedicht Friedrich Schlegels „durch alle Töne tönet“. Durch die motivische Vernetzung wird auch der Mittelteil, der mit „Im Legendenton“ überschrieben ist und nach dem subjektiven „Durchaus phantastisch und leidenschaftlich vorzutragen“ einen Perspektivwechsel mit sich zieht, mit dem Rest des Satzes verknüpft.
Die Fantasie fis-Moll op. 28 von Mendelssohn (Felix Wörner) wurde nach einer gemeinsamen Rekapitulation, was das Genre „Fantasie“ ausmacht, in Gruppenarbeit analysiert. Bei der Sammlung im Plenum zeigten sich unterschiedliche Herangehensweisen: Während die erste Gruppe „fantasieartige“ Züge im Werk aufzuspüren versuchte, fokussierte die zweite auf das „Sonatenhafte“ der Fantasie, wobei vor allem die Frage, wo der Seitensatz anzusetzen wäre, für Diskussionsstoff sorgte. Der transformierende Charakter des arpeggierenden Anfangsteils der Fantasie, der mehrfach in neuen Gestalten wiederkehrt, wurde von der dritten Gruppe herausgestellt.
Dass der zeitliche Rahmen von je zwei Stunden pro Fantasie – obwohl jeweils nur der Kopfsatz ausführlicher betrachtet wurde – nicht ausreichte, um den Werken bis ins Detail auf die Schliche zu kommen, versteht sich von selbst. Ullrich Scheideler (Mendelssohn) und Peter Niedermüller (Schumann) leiteten die Analyse-Blöcke der anderen Gruppe.
Am Nachmittag bot sich die Gelegenheit zum Besuch zweier Institutionen der Stadt Leipzig, die sich dem Weiterleben von Mendelssohns Vermächtnis widmen. Während die Führung durch das Mendelssohn-Haus allgemeine Aspekte des Lebens und Schaffens des Komponisten in seiner Leipziger Zeit illustrierte, präsentierte Ralf Wehner von der Mendelssohn-Ausgabe an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften mehrere Quellen zur Mendelssohn’schen Fantasie. Das Autograph mit seinen zahlreichen Korrekturen bietet einen faszinierenden Einblick in den Schaffensprozess, da einige zentrale Stellen, die in der Analysesektion besprochen wurden, erst im Laufe der Überarbeitung des Satzes die finale Form annahmen. Es wäre lohnenswert gewesen, diesen Aspekt der Werkgenese etwas zu vertiefen, zumal mit Ullrich Scheideler der Herausgeber der vor einigen Jahren erschienenen Henle-Edition der Mendelssohn’schen Fantasie unter den Dozierenden war.
Im Anschluss präsentierten Helene Dorfner und Christoph Hust Quellen zur Entstehungsgeschichte des Leipziger Konservatoriums. Briefe, Akten, Lehrmittel und Zeugnisse gaben einen tiefen, aber auch unterhaltsamen Einblick in die nicht immer konfliktfreie Gründungszeit des ersten Konservatoriums auf deutschem Boden.
Auf den Erkenntnissen der detaillierten Analyse basierte der abschließende Aspekt der Sommerschule, „Interpretation“. Zwei Studierende der Hochschule, Jan Hugo und Magdalena Hubs, trugen Schumanns und Mendelssohns Fantasie auf dem Flügel des Konservatoriums vor und standen danach Rede und Antwort und führten aus, wie sie sich auf die Interpretation vorbereiten, welche Rolle die Notentext-Analyse für sie spielt, welche Aspekte der Stücke ihre Interpretation beeinflussten und welche weniger. Dabei fiel ins Auge, dass gattungsgeschichtliche und formale Fragen, die in der Analyse-Sektion ausgiebig zur Sprache kamen, für sie zugunsten der Suche nach dem für Musikhistoriker oft schwer fassbaren „Charakter“ eines Stückes in den Hintergrund treten.