Lateinamerika und der Kanon. Erste Konferenz der Regionalsektion für Lateinamerika und die Karibik der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft (ARLAC/IMS)
Havanna, 17.-21.03.2014
Von Daniela Fugellie, Berlin und Cristina Urchueguía, Bern – 27.04.2014 | Über 120 Musikwissenschaftler aus dem lateinamerikanischen Raum, Spanien und Portugal trafen sich in Havanna bei der ersten Konferenz der Regionalgruppe für die Länder aus Lateinamerika und der Karibik der IMS (ARLAC). Gastgeber der Veranstaltung war das Forschungs- und Kulturzentrum Casa de las Américas, das seit seiner Gründung 1959 eine zentrale Rolle bei der Förderung und internationalen Vernetzung der Künste und der Geisteswissenschaften innerhalb Lateinamerikas gespielt hat.
Es vergibt zweijährlich den renommierten Musikwissenschaftspreis Premio Casa de las Américas, der von einer internationalen Tagung umrahmt wird. Die diesjährige Tagung wurde zugleich zur ersten Konferenz des ARLAC/IMS unter der Leitung und Organisation von María Elena Vinueza (Vizepräsidentin und Leiterin der Musikabteilung von Casa de las Américas) und Malena Kuss (Vizepräsidentin der IMS und Zuständige für die Lateinamerika-Sektion). Neben den zahlreichen Teilnehmer aus dem lateinamerikanischen Raum traten Vertreter der wichtigsten Arbeitsgruppen und Projekte der IMS sowie anderer internationaler Vereinigungen auf – ICTM, RISM, RILM, RIPM und RIdIM. Zeitgleich mit der Konferenz tagte die Findungskommission des diesjährigen Preisträgers; die Plenumssitzungen der Konferenz wurden von den Jurymitgliedern verantwortet.
Die Konferenz war dem Thema „Lateinamerika und der Kanon“ gewidmet. Einerseits fokussierten viele Sektionen die Wechselbeziehungen zwischen Lateinamerika und dem europäischen Kanon der Kunstmusik sowie die Wahrnehmung lateinamerikanischer Kunstmusik und Popularmusik in anderen Kulturräumen. Andererseits wurden Prozesse der Kanonbildung innerhalb Lateinamerikas und im Kontext unterschiedlicher musikalischer Genres behandelt. Die diesjährigen Jurymitglieder des Premio Casa de las Américas beschäftigten sich in ihren Festvorträgen, die jeweils einen Konferenztag eröffneten, mit unterschiedlichen Aspekten, darunter die Topoi argentinischer Nationalmusik (Melanie Plesch), die Stellung der chilenischen Kunstmusik in der chilenischen Gesellschaft (Luis Merino), die Kanonisierung der Inka-Musik im Kontext musikwissenschaftlicher Diskurse (Julio Mendívil) und die Entwicklung der kubanischen Musikwissenschaft durch den Musikwissenschaftler Argeliers León (Miriam Villa).
Die Sektionen behandelten Musik von der Kolonialzeit bis ins 21. Jh. aus verschiedenen historischen, ethnologischen, theoretischen und methodischen Perspektiven, die insgesamt einen repräsentativen Rundumschlag der unterschiedlichen Ansatzweisen aus den verschiedenen Ländern und Wissenschaftstraditionen im südlichen Amerikanischen Subkontinent einschließlich des Karibischen Raumes darboten. Außerdem wurden in der Konferenz aktuelle Publikationen (Cuadernos de Música Iberoamericana, Revista Musical Chilena, Boletín Música. Casa de las Américas u.a.), Archive und bibliografische Projekte vorgestellt. Einen Impuls für die Zukunft der Forschung bot die Ankündigung eines neuen Wissenschaftspreises für Forscher aus der Region, der von der Fondatione Ruspoli gestiftet wird.
Das Treffen hat einerseits sehr lebhaft und anschaulich die enorme Vielfalt an Interessen, den Reichtum an Themen und Objekten sowie das ausgezeichnete Niveau der Beiträge bewiesen. Andererseits waren die enormen infrastrukturellen und akademischen Unterschiede zwischen den Ländern immerwährendes Gesprächs- und Diskussionsthema. Zudem wurde offenkundig, dass die gegenseitige Wahrnehmung innerhalb der Region, aber auch darüber hinaus ungleichgewichtig ist. Dies betrifft innerkontinental besonders die lateinamerikanische Sprachgrenze zwischen den hispanophonen Ländern und Brasilien. Obwohl sich viele Beiträge mit transnationalen Gegenständen beschäftigten, wurde mehrmals festgestellt, dass der Austausch innerhalb der unterschiedlichen Länder Lateinamerikas und der Karibik noch intensiver gepflegt werden sollte, da viele Forschungsbereiche von einer internationalen Perspektive profitieren können.
Aber auch bezüglich der interkontinentalen Vernetzung wurden Verbesserungspotentiale sichtbar. Fristen musikwissenschaftliche Lateinamerikastudien in Deutschland, wie übrigens auch im restlichen Europa, ein Nischendasein – einzig Spanien und Portugal fördern explizit dieses Thema aufgrund der gemeinsamen Kolonialgeschichte – so beschränkt sich die Kenntnisnahme internationaler Forschung von Seiten der lateinamerikanischen Kollegenschaft fast ausschließlich auf die USA und dabei vor allem auf methodische Entwürfe allgemeineren Charakters. Für die Rezeption deutscher Forschungsergebnisse in Übersee stellt die Sprache eine kaum zu überwindende Hürde dar.
Schließlich wurde vom IMS-Direktorium zu einem vermehrten Engagement spanisch- und portugiesisch-sprachiger Musikwissenschaft im internationalen Kontext aufgerufen. Die Konferenz und ihre Ergebnisse versprechen, dass die Arbeit des ARLAC/IMS eine bedeutende Rolle zum Erreichen dieses Ziels spielen wird.