Growing UP: Jazz in Europa 1960-1980
Luzern, 06.-08.11.2014
Von Christian Broecking, Berlin – 22.12.2014 | In diesem ersten gemeinschaftlich von der Hochschule der Künste Bern, der Hochschule Luzern und der Haute Ecole de Musique Lausanne veranstalteten Jazz-Symposium wurde die Frage nach einer europäischen kulturellen Identität in unterschiedlichsten Facetten aufgefächert und differenziert. War zu Beginn noch von einer europäischen Jazz-Emanzipation von seinen US-amerikanischen Leitbildern die Rede, wurde es im Laufe der 1970er Jahre üblich, von national differenzierten Arten der Klangforschung zu sprechen. Ekkehard Jost rückte nun – 27 Jahre nach seinem Standardwerk „Europas Jazz 1960-1980“ – die regionalen und nationalen Jazz-Dialekte ins Zentrum.
Wie unterschiedlich die ästhetischen Diskurse sich gestalten, wurde gleich im ersten Themenblock deutlich, der Thesen zur politischen Wirkung der militanten afroamerikanischen Bewegung auf die französische Szene, zur introvertierten ECM-Ästhetik und den orchestralen Free Jazz Kompositionen Alexander von Schlippenbachs nebeneinander stellte (Jedediah Sklower, Immanuel Brockhaus, Petter Frost Fadnes). Dass die Professionalisierung und Akademisierung der Jazzausbildung bei diesem Symposium einmal nicht als Reizthema auftrat, sondern als empirischer Untersuchungsgegenstand am Beispiel der Schweiz und Österreichs (Thomas Gartmann, Michael Kahr), war begrüßenswert. Wie unterschiedlich sich nationale Identitäten ausprägen, wurde an Fallbeispielen aus Österreich, England und Italien deutlich (Christa Bruckner-Haring, Franz Kerschbaumer, Tom Sykes, Francesco Martinelli).
Als Vorboten eines Aufbruchs beschrieb Bruno Spoerri den Jazz der 1960er Jahre in der Schweiz, der mit einer eigenständigen und selbstbewussten Amateurkultur die kulturelle Enge der Nachkriegszeit zu überwinden hatte, jedoch hinsichtlich der heutigen Professionalisierung vermutlich kaum das qualitative Niveau einer Aufnahmeprüfung an einer Jazzhochschule erreichte. Der Frage nach dem „Schweizerischen“ im Schweizer Jazz gingen Studien zum Festival „JazzNyon“ und zur Geschichte der Band OM nach (Christian Steulet, Olivier Senn). Wie unterschiedlich der Jazz im Zeichen des Kalten Kriegs politisch funktionalisiert wurde, wurde am Beispiel der DDR, Ungarns und der BRD diskutiert (Katharina Weissenbacher, Ádám Ignácz, Mario Dunkel). Der Themenblock Gender fokussierte empirische Studien zu den Bedingungen und Perspektiven Schweizer und internationaler Jazzmusikerinnen (Christian Broecking, Angelika Güsewell, Katharina Schmidt). Eine Diskussion der Rezeption und medialen Wirkungen des sich verändernden europäischen Jazz (Loes Rusch, Walter van de Leur, Tony Whyton) beschloß einstweilen diese erste große Schweizer Konferenz zur jüngeren europäischen Jazzgeschichte.
In den Sound-Lectures, die gleichberechtigt zwischen den Vortragsblöcken platziert waren, demonstrierte Pierre Favre seine Kunst des Schlagwerkspiels. Thomas Mejer sprach über die Kompositionstechnik von Mani Planzer und ließ Beispiele von Studierenden spielen, die im abendlichen Konzert Werke des Luzerner Komponisten aufführten. In weiteren Rahmen-Konzerten mit Werken Schweizer Jazzkomponisten stellten sich Ensembles und Big Bands der drei veranstaltenden Hochschulen vor. Auf dem Programmflyer war Irène Schweizer 1968 bei einem Konzert in Willisau zu sehen, bei dem auch Pierre Favre mitwirkte. Mit Favre zusammen gab Schweizer jetzt in der hauseigenen Jazzkantine ein fulminantes Duo-Konzert.
Drängende Fragen nach den gesellschaftlichen und ökonomischen Perspektiven des Jazz, nach staatlicher Subventionierung und künstlerischer Unabhängigkeit, nach Musiker- und Publikumszahlen oder den internationalen Wechselwirkungen von Musikernetzwerken könnten Stoff für anschließende Konferenzen sein. Dass das transatlantische Jazz-Verhältnis für die europäischen Szenen bis auf wenige Ausnahmen wie Enrico Rava, Tomasz Stanko oder Peter Brötzmann eine Sackgasse geblieben ist, gehört wohl zu den unbewältigten Folgeschäden jener „europäischen Emanzipation“. Die aktuelle Diskussion dieses Symposiums machte eher deutlich, dass eine „europäische Jazz-Identität“ gar nicht angestrebt wurde, es sei denn als eine widerständig geprägte Haltung, die sich kommerziellen und politischen Zwängen bewusst verschließt.