Cipriano de Rore at the Crossroads
München, 20.-21.03.2014
Von Michael Braun, Regensburg – 17.04.2014 | Wenn Cipriano de Rore (1515/16–1565) heute mitunter als Komponist „im Schatten" anderer illustrer Renaissance-Größen wahrgenommen wird, so widerspricht dies vollkommen dem Stellenwert, den er unter Zeitgenossen und noch bis hinein ins 17. Jahrhundert einnahm: In seiner Einführung wies Hartmut Schick (LMU München) darauf hin, dass Rore vielmehr eine „strahlende Gestalt" in der Musik des 16. Jahrhunderts gewesen sei, die wichtigste in zeitlicher Abfolge nach Josquin und vor Monteverdi. Angesichts des Missverhältnisses von einstiger Wertschätzung und heutiger Vernachlässigung sah es die internationale Tagung nicht zuletzt als ihr Ziel an, neue Aufmerksamkeit gegenüber Rore in der Forschung und der Alte-Musik-Szene zu entfachen. Auch in diesem Sinne sei der Titel der Tagung zu verstehen, so Jessie Ann Owens (University of California, Davis), neben Katelijne Schiltz (Universität Regensburg) und Hartmut Schick Hauptorganisatorin der Konferenz. Der überwiegende Teil der Vorträge fand in den hervorragend geeigneten Räumlichkeiten des Orff-Zentrums statt, die Nachmittagssitzung des ersten Tages im Friedrich-von-Gärtner-Saal der nahe gelegenen Bayerischen Staatsbibliothek. Dort lief parallel zur Tagung die Ausstellung Musikalische Schätze der Renaissance aus, die sich auf Rore konzentriert und insbesondere die nur selten gezeigte Prachthandschrift Mus.ms. B präsentiert hatte. Weitere wichtige Unterstützer hatte die Tagung in der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, Villa I Tatti—The Harvard University Center for Italian Renaissance Studies und der Repräsentanz der Flämischen Regierung in Berlin gefunden.
Der erste thematische Abschnitt befasste sich mit dem Mäzenatentum in Rores Biographie. Bonnie J. Blackburn (University of Oxford) eröffnete ihn mit einer Untersuchung zur Frühkarriere Rores, die in Brescia ihren ersten Fixpunkt hatte. Dort war es die Förderung durch kunst- und insbesondere musikliebende Adelige wie Fortunato Martinengo, die dem jungen Komponisten ein Auskommen erlaubte, obwohl er offenbar über keine ordentliche Anstellung als Musiker verfügte. Als Teil ihrer Ausführungen identifizierte Blackburn Martinengos Agenten Palazzo da Fano mit dem anderweitig belegten Komponisten Paolo Jacopo Palazzo.
Franco Piperno („La Sapienza", Rom) zeigte anhand von Rores Verbindung zu Guidubaldo II., Herzog von Urbino, die enge Verflechtung von Kunstsinnigkeit, politischem Programm und protegierter Musik auf. Die Texte, die Rore für Guidubaldo vertonte, vermittelten Kernbotschaften in der Außendarstellung des Herzogs, während der künstlerisch hohe Rang des geförderten Komponisten eine kulturelle Führungsrolle Guidubaldos suggerierte. Rores Musik trat damit ihrer Funktion nach neben hochrangige Kunstwerke wie die Dichtungen Aretinos und die Gemälde Tizians.
Im Mittelpunkt des Vortrags von Laurie Stras (University of Southampton) stand Rores Verhältnis zu den weiblichen Mitgliedern der d'Este-Familie in Ferrara, wo der Komponist 1546–1559 als Kapellmeister wirkte. Insbesondere die problematische Position der Ehefrau Herzog Ercoles II. d'Este, Renée de France, als Protestantin an einem katholischen Hof kam zur Sprache: Anhand von Madrigaltexten und Giambattista Giraldis Tragödie Selene, für die Rore Kompositionen beisteuerte, wies Stras auf eine mögliche direkte Patronage Rores durch Renée hin. Die spätere Distanzierung des Ferrareser Hofes von Rore stehe womöglich damit in Verbindung, da sich zwischen Renée und ihrem Ehemann Ercole zunehmende Spannungen entwickelten und Rores Position bei Hofe dadurch geschwächt worden sein könnte.
Eine kunstgeschichtliche Perspektive brachte Andrea Gottdang (Universität Salzburg) ins Spiel und betrachtete die Prachthandschrift Mus.ms. B – geschmückt mit aufwändigen Illuminationen Hans Mielichs und ausschließlich den Werken Rores gewidmet – in zwei Kontexten: Zum einen stand die Handschrift im Zusammenhang mit einer neuen Blüte der Buchmalerei und veranschaulichte zum anderen Mielichs experimentierende Entwicklung eines idealen Layouts von Bild, Noten und Text. In der wenig später anstehenden, aufwändigen Gestaltung des Codex Mus.ms A, der Bußpsalmen Orlando di Lassos enthielt, konnte Mielich seine gewonnenen Erfahrungen bereits effektiv einsetzen.
Jessie Ann Owens (UC Davis) stellte die Frage, was genau Monteverdi im Sinn gehabt haben mochte, als er zu Anfang des 17. Jahrhunderts Rores Musik als Vorbild für sich in Anspruch nahm. In Rores Dido-Klage Dissimulare etiam sperasti – einem „Durchbruch" in seinem Schaffen – wies Owens auf Parallelen in der Textbehandlung mit Monteverdis Lamento d'Arianna hin. Auch im Umgang mit tonaler Palette und Harmonik zeigte sie ähnliche Strategien auf, die in beiden Fällen die Aufgewühltheit weiblicher Klage zum Ausdruck bringen.
Susannen frumb, eine in der Forschung bislang unbeachtete deutsche Fassung der Rore-Chanson Susann' un jour, bildete das Thema des Vortrags von Bernhold Schmid (Bayerische Akademie der Wissenschaften, München). Der biblische Susanna-Stoff genoss in der Renaissance außerordentliche Popularität und gelangte insbesondere durch die Dichtung Guillaume Guéroults zu zahlreichen Vertonungen. Schmid verglich die deutsche und französische Fassung des Rore-Stücks, wies auf sprachlich motivierte Unterschiede hin und befasste sich mit der möglichen Verbreitung der deutschen Textfassung.
In seinem Vergleich von Rores Missa super Doulce mémoire und der Missa a note negre erörterte Stephen Rice (University of Southampton) die außerordentliche Sensibilität der Textbehandlung, die Rore auch in seinen geistlichen Werken walten ließ. Zwar zeigen sich Ähnlichkeiten etwa mit dem Stil des eine Generation älteren Jachet von Mantua, aber auch eine „rhetorische" Konsequenz Rores, die ihn unter den Zeitgenossen hervorstechen ließ. Als Leiter des Brabant Ensembles ließ Rice auch praktische Erfahrungen mit einfließen und beschloss mit seinem Ausblick in die Aufführungspraxis den ersten Konferenztag.
Die Vorträge des zweiten Tages widmeten sich zunächst analytischen Untersuchungen und richteten sich anfangs auf einen frühen Erfolg Rores. Sein erstes Madrigalbuch stellte 1542 in seiner Verwendung des „Note-negre"-Stils für fünfstimmige Madrigale und der Vertonung vollständiger Petrarca-Sonette ein Novum dar – wenn auch kein völlig unvorbereitetes: Kate van Orden (Harvard University) stellte in ihrem Vortrag „Rore's Black-Note Madrigals and the French Connection" Bezüge zu den programmatischen Chansons Janequins her. Sie verdeutlichte, wie die Eigenart der „note negre" über einen bloßen Notationskniff hinaus zur Bereicherung der rhythmischen und expressiven Möglichkeiten im italienischen Madrigal genutzt wurde.
Als Ausgangspunkt für John Milsom (Liverpool Hope University) diente anschließend die Beobachtung, dass sich zeitgenössische Musiktheoretiker zu Imitationstechniken in auffallender Weise bedeckt halten. Auch die aktuelle Forschung habe sich kaum mit der Art der Imitation beschäftigt, die charakteristisch für Cipriano de Rore sei: eine bestimmte, freie Handhabung der Imitation („flexed fuga"). Anhand mehrerer Beispiele aus Rores Schaffen entwickelte Milsom Thesen zum Kompositionsprozess und wies auf Rores besondere Konzentration auf die eigenständige Melodie gegenüber dem polyphonen Geflecht hin. Seine Ausführungen begriff Milsom dabei stets als Anregung für einen umfangreichen analytischen Einblick, den die Forschung noch zu leisten habe.
Hartmut Schick (LMU München) forschte anschließend nach Gemeinsamkeiten zwischen der Musikästhetik der Florentiner Camerata und der späten Madrigalkunst Rores. Anhand von Se ben il duol und O sonno wies er auf satztechnische Regelwidrigkeiten bei Rore hin, die aber im Dienste der Textdeutung legitimiert sind. Im Vergleich etwa mit den Madrigalen des wenig jüngeren Vincenzo Galilei, der später im Umfeld der Camerata eine wichtige Rolle spielte, sei Rore sogar schon weiter gegangen: Seine Verbindung von Wortverständlichkeit und innovativer Textdeutung weise schon auf den Stil Monteverdis voraus.
Das erste Madrigalbuch Rores rückte erneut in den Mittelpunkt, als Massimo Ossi (Indiana University) die Kriterien der Zusammenstellung und Anordnung hinterfragte, die in den verschiedenen Ausgaben des Drucks mehrfach voneinander abweichen. Neben der Sortierung nach Modus und Finalis der einzelnen Stücke brachte Ossi textinhaltliche Gesichtspunkte ins Spiel, die sich zum Teil an der Struktur von Petrarcas Canzoniere orientieren. Die Neuordnung der Sammlung in späteren Ausgaben zeigt allerdings, wie flexibel und gleichzeitig begründet die Zusammenstellung von Madrigalbüchern gehandhabt werden konnte.
Petrarcas Schlussgedicht seines Canzoniere, die Canzone alla Vergine, wurde erstmals von Cipriano de Rore vollständig vertont. Adelheid Schellmann (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) zeigte die Mittel auf, mit denen Rore der zyklischen Anlage des Textes musikalische Verknüpfungspunkte gegenüberstellte. Rores Pionierleistung blieb nicht ohne Nachfolger. So veröffentlichte unter anderem Giovanni Matteo Asola gut zwei Jahrzehnte später die Vertonung einer religiös konformen Vergine-Umdichtung und übernahm dort trotz grundlegender ästhetischer Unterschiede auch stilistische Details aus Rores Komposition.
Katelijne Schiltz (Universität Regensburg) widmete sich in ihrem Vortrag einer besonderen Gruppe unter den Motetten Rores: den a-voci-pari-Motetten mit insgesamt tiefer Schlüsselung und entsprechend eingeschränktem Tonumfang. Eine zeitliche Einordnung ins frühe Werk des Komponisten sei plausibel, weil dies nicht zuletzt zu stilistischen Gemeinsamkeiten mit Willaerts Musica nova passen würde, die größtenteils in den späten 1530er und frühen 1540er Jahren entstand. Auch innerhalb der a-voci-pari-Motetten Rores lassen sich stilistische Parallelen finden, die für eine Gruppenzusammengehörigkeit dieser Motetten sprechen.
Ausgehend von Alfred Einsteins Darstellung des italienischen Madrigals schlug Sebastian Bolz (LMU München) den Bogen von Rore zur allgemeineren Frage der Musikhistoriographie. Einsteins Rore-Bild zeige auffallende Ähnlichkeiten mit Musikgeschichtsmodellen des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Bezug auf die Beethoven-Rezeption. Dahinter stehe die Grundauffassung einer zyklischen Geschichtsentwicklung, wofür auch die Arbeiten Jacob Burckhardts (Die Kultur der Renaissance in Italien) oder Oswald Spenglers (Der Untergang des Abendlandes) prominente Beispiele sind.
Im abschließenden Vortrag der Tagung beschäftigte sich Anthony Newcomb (University of California, Berkeley) mit der Authentizität dreier posthum veröffentlichter Madrigale, deren Zuschreibung zu Rore mitunter bezweifelt wurde. Die Verlässlichkeit von Sammelausgaben, die Rore im Titel führen, ist ohnehin problematisch, da keine von ihnen eine eigenhändige Widmung Rores enthält. Beinahe ein Viertel seiner Madrigale ist zudem posthum publiziert worden. Durch eine stilistische Analyse der Madrigale Che giova dunque, Alme gentili und Se com'il biondo crin kam Newcomb jedoch zu dem Schluss, dass es sich hierbei aller Wahrscheinlichkeit nach um authentische Rore-Kompositionen handeln müsse.
In der Abschlussdiskussion wurden zunächst Möglichkeiten einer kritischen Überarbeitung der Rore-Edition diskutiert. Auch die höchst lückenhafte Abdeckung der Musik Rores in verfügbaren Aufnahmen stellt einen Mangel dar, der von den Forschern einmütig beklagt wurde. Dafür wurde die Konferenz am Abend des ersten Tages durch Live-Musik bereichert: Das belgische Ensemble La Capilla sang im Orff-Zentrum ein Programm, das sich fast ausschließlich auf Rores Werk konzentrierte und mit den Inhalten der Vorträge sorgfältig abgestimmt worden war. Das Konzert war durch die Repräsentanz der Flämischen Regierung finanziert worden. Die Programmtexte wiederum waren im Zuge eines Seminars verfasst worden, das Katelijne Schiltz im vergangenen Wintersemester an der Universität Regensburg veranstaltet hatte.
Die Veröffentlichung der Beiträge in einem Tagungsband ist bereits abgesichert und soll im kommenden Jahr – denkbar passend zum 500. Geburtstag Cipriano de Rores – in der Reihe Épitome musical (Brepols) erscheinen.