Musik als Brücke. Transferbewegungen des 17. bis 19. Jahrhunderts zwischen dem deutschsprachigen Ostmitteleuropa und den westlichen Nachbarländern
Regensburg, 04.-07.08.2014
Von Dieter Haberl, Regensburg – 14.08.2014 | Die Wahl der Bischöflichen Zentralbibliothek als Tagungsstätte (4.–7. August 2014)erwies sich für die musikhistorisch ausgerichtete 51. Arbeitstagung des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte e. V.als sehr günstig, da diese kirchliche Bibliothek eine eigene Musikabteilung mit wertvollen Altbeständen besitzt. Der Leiter der Proskeschen Musikabteilung, Raymond Dittrich, konzipierte passend zu den einzelnen Vorträgen eine Begleit-Ausstellung mit ausgewählten Handschriften und Drucken aus den hauseigenen Beständen. Der Blick in die Vitrinen illustrierte so die meisten Referate mit originalen Musikalien des 17. bis 19. Jahrhunderts. Der Sammlungsbegründer Dr. Carl Proske (1794–1861) war ein gebürtiger Schlesier, der sich ab 1826 dauerhaft in Regensburg niederließ und auf mehreren Italienreisen älteres Notenmaterial sammelte sowie zahlreiche Spartierungen nach italienischen Quellen anfertigte.
Der erste Vorsitzende des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte e. V., Paul Mai (Regensburg), konnte über 40 Tagungsteilnehmer begrüßen. Er legte den Sinn und Zweck des Instituts näher dar und nannte die Erforschung der katholischen Kirchengeschichte in den ehemaligen deutschen Ostgebieten als eine seiner Hauptaufgaben. Dass sich das Institut in der aktuellen Tagung mit Fragen der Kirchenmusikgeschichte in Ostmitteleuropas befasse, sei nur eine logische Konsequenz seines Forschungsauftrags, der eben auch die zum Kultus gehörige Musik (liturgische wie auch paraliturgische) mit einschließe.
Die Moderation dieser deutsch-polnisch-tschechischen Tagung übernahm Dieter Haberl (Regensburg). Von den zehn Referenten stammten vier aus Polen und Tschechien sowie sechs aus der Bundesrepublik Deutschland, ein Zeichen gelungener internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Haberl hob in seiner Einführung hervor, dass musikalische Transferbewegungen mehr beinhalten als nur die Ortsveränderung von Individuen und Mobilien. Transfer meine ebenso die Kommunikation, den Transport, die Adaption, den Austausch und die Wechselwirkungen zwischen den Kulturen. In seinem Überblicksvortrag zu den Transferbewegungen zwischen Ostmitteleuropa und den westlichen kirchenmusikalischen Zentren Regensburg, Wien und Rom wies er die Wurzeln einer generalbassbegleiteten Stile-antico-Pflege nördlich der Alpen nach und zeigte Wechselbeziehungen zwischen Italien und Polen sowie Österreich und Schlesien auf. Carl Proske, der in Schlesien und Wien ausgebildet worden war, wurde zum Initiator einer von Regensburg ausstrahlenden kirchenmusikalischen Reformbewegung im 19. Jahrhundert, die als Regensburger Tradition durch den Allgemeinen deutschen Cäcilienverein, den Regensburger Domchor (Regensburger Domspatzen) und die Regensburger Kirchenmusikschule im In- und Ausland verbreitet wurde. Als Papst Pius X. 1903 ein Motuproprio zur Reform der katholischen Kirchenmusik vorbereitete, wurde die in der Regensburger Tradition praktizierte Kirchenmusik (Gregorianischer Choral und Vokalpolyphonie) zum Vorbild gewählt.
In einem Vortrag über die Breslauer Klöster als Verbindungsorte europäischer Musik beleuchtete Remigiusz Pośpiech (Breslau / Wrocław – Oppeln / Opole) das rege Musikleben ausgewählter Konvente in Breslau (Augustiner-Chorherren, Kreuzherren mit dem roten Stern, Prämonstratenser) und zeigte deren Verbindungslinien (deutsche, italienische, österreichische, tschechische) zur Musikkultur im übrigen Europa auf. Klaus Peter Koch (Bergisch Gladbach), der ehemalige Leiter des Instituts für deutsche Musikkultur im östlichen Europa e. V. (IME), untersuchte die Rezeption Händel’scher Oratorien im östlichen Europa. Er wies auf eine sehr früh einsetzende Rezeption der Werke von Georg Friedrich Händel in Osteuropa hin und konnte durch den Nachweis von über 300 Aufführungen seiner Oratorien bis Mitte des 20. Jahrhunderts den hohen Stellenwert dieser Händel-Rezeption in Ostmitteleuropa belegen. Andreas Wehrmeyer (Regensburg), der Leiter des Sudetendeutschen Musikinstituts in Regensburg, dachte über die Musikhistoriographie der böhmischen Länder unter dem Aspekt der Kulturtransferforschung nach. Er stellte deutsche und tschechische Geschichtsschreibung einander gegenüber, zeigte die Problemfelder einer stark „identifikatorisch“ geprägten Geschichtsschreibung auf und plädierte für eine zukünftige Geschichtsschreibung im „europäischen“ Kontext. Die Kirchenmusik im klösterlichen Bereich untersuchte auch Vít Aschenbrenner (Pilsen / Plzeň)in seinem Referat über das kirchliche Musikleben in Klattau / Klatovy und die Einflüsse aus dem Westen. Er bezeichnete Klattau als ein „Mekka der Kirchenmusik“ und unterstrich diese Aussage durch die Auswertung archivalischer Quellen und ein reichhaltiges Repertoire an Kirchenmusikalien, das durch das Internationale Quellenlexikon der Musik (RISM) noch nicht katalogisiert worden ist. Helmut Scheunchen (Esslingen) beleuchtete die baltischen Lande unter dem Aspekt kirchenmusikalischer Brückenfunktion nach Ost und West sowie nach Innen. Er stellte die verschiedenen territorialen Zugehörigkeiten dieses evangelisch geprägten Landes dar (Schwedenzeit, zaristisches Russland, Russifizierung) und knüpfte anhand von Biographie- und Werkbeispielen zahlreiche Verbindungen in den Westen, für Franz Adam Veichtner (1741–1822) und Johann Christoph Kaffka (1754–1815) sogar bis nach Regensburg. Rainer Bendel (Tübingen), der zweite Vorsitzende des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte, stellte in seinem Referat über Aufklärung und Kirchenlied Ignaz Franz (1719–1790) als Kirchenlieddichter vor – sein bekanntestes Lied „Großer Gott wir loben Dich“, eine deutschsprachige Adaption des „Te Deum laudamus“ erschien 1776. Er betonte den neuen Stellenwert des Kirchenliedes im Zeitalter der Aufklärung und die Möglichkeit des aufklärerischen Kirchenlieddichters Ignaz Franz, mittels Textinhalt auf die aktiv singende Gemeinde einzuwirken. Eine Thematik mit starkem Lokalbezug untersuchte Piotr Tarlinski (Oppeln / Opole) in seinen Forschungen über die Regensburger Bewegung zur Erneuerung der katholischen Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihren Adaptionsverlauf in Schlesien. Er verglich anhand neu aufgefundener Quellen in Breslau die Statuten des Schlesischen Cäcilienvereins (Moritz Brosig, Wilhelm Kothe, Robert Krawutschke) mit denen des Allgemeinen deutschen Cäcilienvereins (Franz Xaver Witt) und stellte Schlesiens eigenen Weg bei der Umsetzung der kirchenmusikalischen Reform dar. Für die Erforschung und Vorstellung eines Musikalien- und Gedankenaustausches zwischen Karlsbad, Landshut und Regensburg hatte sich der Leiter der Proskeschen Musikabteilung, Raymond Dittrich (Regensburg), in seinem Referat über die Proksch-Sammlung in der Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg zur Verfügung gestellt. Er beleuchtete anhand von Briefen, Zeitungsartikeln, Musikdrucken und ‑handschriften den langjährigen Kontakt zwischen dem Karlsbader Chorregenten Wenzl Proksch (1824–1891) und dem Generalpräses des Allgemeinen deutschen Cäcilienvereins Franz Xaver Witt (1834–1888) und zeigte auf, welche Probleme sich für Proksch beim Praktizieren der Kirchenmusikreform in Böhmen ergaben. Grzegorz Poźniak (Oppeln / Opole) nahm sich in seinem Vortrag über Max Filke (1855–1911) der Missa in honorem Sancti Caroli Borromaei, op. 80 an. Er bezeichnete den Komponisten als einen Wanderer zwischen Deutschland und Schlesien und analysierte seine bekannteste Messe unter verschiedenen Aspekten. Er fand darin Belege für zentrale romantische Topoi wie Sehnsucht und Wanderschaft. Durch einen Vergleich der biographischen Hintergründe stellte er anschließend Bezüge zwischen dem heiligen Carl Borromäus und dem Leben des Komponisten her. Friedhelm Brusniak (Würzburg) untersuchte die Rezeption einer Begräbnismotette des slowenischen Komponisten Jakob Handl alias Jacobus Gallus (1550–1591). Dessen Motette ‚Ecce, quomodo moritur iustus’ bezeichnete er in Folge von Werner Braun und in Analogie zu Gregorio Allegris ‚Miserere’ als „ein Miserere des kleinen Mannes“. In ausgewählten Chorliedersammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts (u. a. Kaiserliederbücher) verglich er die unterschiedlichen Notationen, Übertragungen, Übersetzungen und Arrangements dieses Werkes, das über Jahrhunderte hinweg zum Standardrepertoire beider Konfessionen gehörte.
Eine Halbtages-Exkursion führte die Tagungsteilnehmer zu ausgewählten Regensburger Musikinstitutionen: An die Hochschule für katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik Regensburg (HfKM), zu den Regensburger Domspatzen, an das Sudetendeutsche Musikinstitut Regensburg (SMI) und ins Musikarchiv der Künstlergilde Esslingen e. V. Zwei Konzertabende mit speziell auf das Tagungsthema abgestimmten Programmen (Stefan Baier, Orgel – Malinconia-Ensemble Stuttgart, Leitung von Helmut Scheunchen) bildeten eine Brücke von der Historie zur Praxis. Durch die geglückte Auswahl von Referenten und Themenstellungen konnte geographisch gesehen fast das gesamte ostmitteleuropäische Kerngebiet abgedeckt werden. Am Ende der Generaldiskussion zeigten sich die Tagungsteilnehmer, trotz aller Kontroversen in inhaltlichen Standpunkten, erfreut über den konstruktiven und kollegialen Verlauf der Konferenz und versicherten, den wissenschaftlichen Dialog über die Regensburger Zusammenkunft hinaus fortzuführen. Die schriftlichen Fassungen der Vorträge werden in einem Band der Instituts-Reihe „Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands“ erscheinen.