Impulse – Transformationen – Kontraste. Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach.
Magdeburg, 17.-18.03.2014
Von Christine Klein, Halle an der Saale – 11.07.2014 | Anlässlich des 300. Geburtstags Carl Philipp Emanuel Bachs widmete sich die diesjährige Internationale Wissenschaftliche Konferenz im Rahmen der 22. Magdeburger Telemann-Festtage, die vom Zentrum für Telemann-Pflege und -Forschung Magdeburg in Kooperation mit dem Institut für Musik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Abteilung Musikwissenschaft, sowie mit der Internationalen Telemann-Gesellschaft e. V. ausgerichtet wurde, den kulturgeschichtlichen Phänomenen von Kontinuität, Diskontinuität und Generationalität. Die persönliche Verbindung zwischen Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach begann mit Telemanns Taufpatenschaft im Geburtsjahr des zweiten Bach-Sohnes und kulminierte später im Zusammenhang mit der Regelung seiner Nachfolge im Hamburger Kantorenamt. Biographische Fakten boten Anlass genug, um gleichermaßen künstlerischen Impulsen und Transformationen wie auch Brüchen und Kontrasten zwischen den Repräsentanten zweier Generationen nachzuspüren. In seiner Begrüßung umriss Carsten Lange (Magdeburg), Leiter des Zentrums für Telemann-Pflege und -Forschung, das breite Themenspektrum der interdisziplinär ausgerichteten Konferenz mit Schwerpunktsetzungen musikpublizistischer, theologischer, literaturwissenschaftlicher und ästhetischer Art neben rein musikologisch-quellenkundlich und analytisch akzentuierten Beiträgen. Er dankte der Mitteldeutschen Barockmusik e.V. für die Förderung der Tagung, die mit jenen wissenschaftlichen Veranstaltungen in Leipzig und Weimar abgestimmt ist, die in diesem Jahr ebenfalls einen Schwerpunkt auf Carl Philipp Emanuel Bach setzen, und zeigte sich erfreut, unter den 26 Referierenden nicht nur zahlreiche bekannte Telemann-Forscher begrüßen zu dürfen, sondern ebenso namhafte Repräsentanten der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Forschung und junge Wissenschaftler.
In den Beiträgen des ersten Themenkreises ging es um Eruierung und Bewertung von theologischen und wortsprachlichen Quellen zur Geistes- und Sozialgeschichte. So verortete Albrecht Beutel (Münster) die Kirchen- und Theologiegeschichte in Deutschland zur Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen Rationalismus, Aufklärung und Empfindsamkeit und stellte dazu in Korrespondenz kompositorische Lösungen Telemanns und Carl Philipp Emanuel Bachs fest. Die „aufgeklärte Empfindung“ bezeichnete er als „ein Gefühl religiöser Art“, das einer „rationalen Kontrolle“ unterzogen worden sei und damit auch Impulse für bestimmte musikalische Entwicklungen geboten habe. Die Hamburger Publizistik und Musikpublizistik zur Zeit beider Komponisten betrachtete Holger Böning (Bremen) und beleuchtete darüber hinaus deren Beiträge zur Etablierung der Musik sowie des aktiven Musizierens innerhalb der bürgerlichen Kultur. Jürgen Heidrich (Münster) untersuchte in seinen Ausführungen zur Kirchenmusik beider Komponisten im Urteil der Musikpublizistik vergleichende Rezeptionskonstanten. Im Einzelnen verwies er auf die Kritik an den von Telemann vertonten kirchenmusikalischen Texten,auf seine angewandten Tonmalereien und auf den Vorwurf der Vielschreiberei im Vergleich zur Betrachtung Bachs als „Originalgenie“ sowie auf Aspekte nationaler Vereinnahmung. Exemplarisch widmete sich Steven Zohn (Philadelphia, PA, USA) Telemanns „Getreuem Music-Meister“ und Bachs „Musikalischem Vielerley“ als zwei bedeutenden moralischen Zeitschriften, die in Hamburg erschienen sind. Mit Blick auf die Zielgruppen der „Kenner und Liebhaber“ ging er dabei auch auf formulierte Zielsetzungen und Ideale ein, gleichermaßen „zu nutzen und zu belustigen“. Um die Frage zu beantworten, ob die Taufpatenschaft Georg Philipp Telemanns für Carl Philipp Emanuel Bach mehr als ein bloßes Indiz für eine oberflächliche Verbindung gewesen sei, die sich immerhin in der Unterstützung Telemanns in Bewerbungsverfahren Bachs zeigte, wertete Ellen Exner (Columbia, SC, USA) historische Dokumente aus, die die Taufe in den entsprechenden theologischen und gesellschaftlichen Kontext stellten.
Einen zweiten Tagungsschwerpunkt des ersten Konferenztages bildeten Referate zur Auswertung und analytisch vergleichenden Betrachtung musikalischen Quellenmaterials. Dazu präsentierte Peter Wollny (Leipzig) neueste Ergebnisse seiner Ermittlungen zu regulären Kirchenkantaten Telemanns, die Carl Philipp Emanuel Bach verwendet bzw. besessen hat. Zu den nachweisbaren Eintragungen von der Hand des Hamburger Amtsnachfolgers in den Partiturabschriften von Telemanns Werken zählen demnach Ergänzungen im Bereich des Instrumentariums, Spielanweisungen, Aufführungsdaten oder Anweisungen für Kopisten. Neue Indizien führen Wollny zufolge darüber hinaus zu weiterführenden Aussagen zur Telemann-Pflege im 18. Jahrhundert in Mitteldeutschland. Am Beispiel der Natur-Schilderungen in Telemanns Tageszeiten TVWV 20:39 und Bachs Klopstocks Morgengesang am Schöpfungsfeste Wq 239 exemplifizierte Andreas Waczkat (Göttingen) wesentliche Positionen der Aufklärung zur Musik als einer natürlichen Ausdrucksform des Menschen sowie kritische Positionen zur musikalischen Malerei. Über die Dramaturgien des Erhabenen in Telemanns Donnerode und in C. Ph. E. Bachs Morgengesang am Schöpfungsfeste reflektierte Kathrin Kirsch (Kiel) und stellte mit Bezug zum zeitgenössischen Erhabenheitsbegriff konkrete kompositorisch-satztechnische Kriterien fest. Ebenfalls um musikalische Abbildung, jedoch nicht der „unmusikalischen“ Natur, sondern menschlicher Charaktere, ging es Sarah-Denise Fabian (Heidelberg), die in ihrem Beitrag die musikalische Darstellung des Melancholikers in der Instrumentalmusik beider Komponisten thematisierte. Im anschließenden Referat richtete Klaus Hofmann (Göttingen) den Fokus auf Carl Philipp Emanuel Bachs frühe Triosonaten, auch mit Seitenblick auf Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann. Inwiefern der Originalitätsanspruch des zweiten Bach-Sohnes auch auf die Gattung des Liedes zutraf, führte Hans-Günter Ottenberg (Dresden) aus. Dabei ging er auch auf die Zusammenarbeit des bedeutenden Repräsentanten der Liedentwicklung mit den Autoren der Lieder ein, so mit den Dichtern des Göttinger Hains, insbesondere mit Johann Heinrich Voß, sowie auf den Paradigmenwechsel in der Entwicklung des deutschen Liedes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in dessen Folge die Beliebtheit des hochartifiziellen Liedes zu Gunsten des Liedes im Volkston zunehmend verblasste. Den je eigenen Beitrag zur deutschen Liedgeschichte von Telemann und seinem Hamburger Amtsnachfolger nahm Katharina Hottmann (Hamburg) zum Anlass, um auf die Entwicklungen des weltlichen Liedes zwischen 1730 und 1780 einzugehen, welche nicht nur einen literarischen Geschmackswandel dokumentieren, sondern auch in musikalischer Hinsicht durch Kontinuitäten und Diskontinuitäten gekennzeichnet sind. Dergleichen Kriterien von Tradition und Wandel zeigte auch Markus Rathey (New Haven, CT, USA) in seinem Referat zu Bachs und Telemanns Kompositionen der Texte des Theologen und Poeten Christian Wilhelm Alers auf.
Zwei Beiträge des zweiten Konferenztages widmeten sich zunächst äußeren Umständen der unter Leitung Carl Philipp Emanuel Bachs in Hamburg veranstalteten Konzerte. Auf der Basis ihrer Studien von kirchenhistorischer Literatur und architektonischen Darstellungen referierte Dorothea Schröder (Hamburg) über die von Telemanns Amtsnachfolger insbesondere für Wohltätigkeitskonzerte gern genutzten Hamburger Konzertorte, die „Nebenkirchen“ im Waisenhaus, Spinnhaus und Lazaretthof, sowie über den Concertsaal auf dem Kamp. Ulrich Leisinger (Salzburg, Österreich) ließ in einer kulturgeschichtlichen Studie zur Wahl und Einführung hamburgischer Prediger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Überlegungen zu den eigens von Telemann und später von Bach komponierten Predigereinführungsmusiken folgen und wertete dazu von der Forschung bislang unbeachtete Ratsprotokolle aus. Vergleichende Betrachtungen zum Magnificat Wq 215 von Carl Philipp Emanuel Bach, einer Art Referenzkomposition, deren erste Fassung in das Jahr 1749 zu datieren ist, ließ Clemens Harasim (Leipzig) folgen und stellte die Komposition in den Kontext zeitgenössischer Marienkompositionen und der von Bach angewandten Parodiepraxis.
Mit den Folgereferaten des zweiten Konferenztages speziell zur Quellenproblematik gelang es wiederum, der Telemann- wie auch der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Forschung neue Impulse zu verleihen. Im direkten Vergleich von Bachs Johannespassion von 1772 mit ihrem Modell, der Johannespassion von Telemann aus dem Jahr 1745, sah Wolfgang Hirschmann (Halle) Kriterien von Kontinuität, aber auch des Bruches gegeben. Vor dem Hintergrund der Originalitätsdoktrin habe Bach Telemanns kompositorisches Vorbild unter Hinzuziehung von Musik anderer Komponisten zu einer Passionsmusik eigener Prägung arrangiert. Doch während Telemann auf Kontrast der Affekte und deren Vielfalt gezielt habe, ging es Bach um nuancierte Empfindung und Einfühlung sowie um emotionale Identifikation mit dem Passionsereignis. Ebenfalls vergleichend beschäftigte sich Kota Sato (Tokyo/Halle) mit Telemanns Lukaspassion von 1760 und deren späteren Bearbeitungen, so einer durch den Komponisten selbst erstellten Neufassung aus dem Jahr 1764, einer Pasticcio-Bearbeitung durch Carl Philipp Emanuel Bach von 1771 sowie mit den Aufführungsmaterialien des Enkels Georg Michal Telemann für Riga von 1778, 1789 und 1790. Dabei gelang es dem Referenten, Unterschiede in der Rezitativgestaltung bei Telemann im Vergleich zur Bachschen Bearbeitung deutlich zu machen, und er stellte Überlegungen zur Rekonstruktion der Originalfassung von 1760 an, von der nur einige wenige originale Instrumentalstimmen erhalten sind. Ausgehend vom Briefwechsel zwischen dem Hamburger Amtsnachfolger Telemanns und Georg Michael Telemann ging Ralph-Jürgen Reipsch (Magdeburg) der Frage nach, welche sonn- und festtäglichen Kirchenmusiken Carl Philipp Emanuel Bach zu Beginn seiner Hamburger Amtszeit, zwischen 1768 und 1771, aufgeführt hat. In Korrespondenz mit den neuen Erkenntnissen Peter Wollnys wertete er dazu einige bislang wenig beachtete Beschriftungen von „verwaisten“ Umschlagblättern aus, die in dem durch den Enkel überlieferten musikalischen Nachlass Telemanns zu finden sind. Sie enthalten Bachs eigenhändig vermerkte Aufführungsdaten und teilweise Kopistenanweisungen. Carl Philipp Emanuel Bachs Osterkantate aus seiner Berliner Zeit (1756) Gott hat den Herrn auferwecket Wq 244 und deren im selben Jahr entstandene und durch Telemann aufgeführte frühe Hamburger Fassung untersuchte Mark W. Knoll (Cambridge, MA, USA) und erschloss aus den betrachteten Quellen vor allem Unterschiede in der Auswahl und Platzierung der Choräle, daneben kleinere Text- und Musikvarianten, welche jedoch stets Bachs Originalkonzept verdeutlichen. Dies sei als Indiz hinsichtlich großer Kontinuitäten in der Aufführungstradition zu werten und lasse den Schluss zu, dass dieses besondere Werk in verschiedener Hinsicht kontextualisierbar gewesen sei. Ute Poetzsch (Magdeburg) nahm eine Äußerung Carl Philipp Emanuel Bachs aus einem überlieferten Gespräch mit Gotthold Ephraim Lessing auf, in welchem Georg Philipp Telemann als „großer musikalischer Maler“ bezeichnet wird. Die Erwähnung einer Arie aus dem sogenannten Zellischen oder großen oratorischen Jahrgang veranlasste sie dazu, den Kantatenjahrgang von Albrecht Jacob Zell näher zu beschreiben, dessen Quellenlage zu beleuchten sowie die entsprechende Arie zu identifizieren.
Auf die Problematik der Rezeptions- und Wirkungsforschung gingen auch nachfolgende Referenten ein, so Nicholas Taylor (Washington, D.C., USA), der über die Rezeption der gedruckten Telemannschen Kirchenkantaten durch die Mitglieder der Bach-Familie berichtete. Quellen zu Telemanns Harmonischem Gottesdienst (1725/26) in Kopenhagen bieten einen Beleg dafür, dass auch Wilhelm Friedemann Bach als Kantor an der Marienkirche in Halle diesen Jahrgang für Aufführungszwecke benutzte. Auch Carl Philipp Emanuel verwendete in Hamburg verschiedene Telemann-Kantaten, so aus dem Engel-Jahrgang. Rashid-S. Pegah (Würzburg) wertete einige Befunde zur Telemann- und Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Rezeption im 18. Jahrhundert in Memmingen aus und konnte anhand überlieferter Protokollbücher Aktivitäten des Collegium musicum der damaligen schwäbischen Reichsstadt belegen. Außerdem verwies er auf einen bis dato unbekannten Brief Telemanns an den markgräflichen Hof zu Bayreuth, der Aufschluss über die Übermittlung von Instrumental- und Opernmusik gibt. In den begrenzten Kommunikationsmechanismen innerhalb der englischen Musikerbiographik sah Timo Evers (Göttingen) wesentliche Ursachen für die Verkürzung und Negativierung ursprünglich positiver Rezeptionstopoi hinsichtlich der Telemann- wie auch der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Bewertungen im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Schlussreferat zeichneten Axel Fischer (Berlin) und Matthias Kornemann (Berlin) am Beispiel der Musikerkarrieren von Johann Friedrich und Carl Friedrich Fasch in gewisser Analogie zu denen Telemanns und Carl Philipp Emanuel Bachs für das ausgehende 18. Jahrhundert ein differenziertes ästhetisches Epochenbild. In den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellten sie eine gründliche Analyse der von Zelter verfassten Biographie von Carl Friedrich Fasch, welche den Wandel hin zum frühromantischen Denken verdeutlicht.
Ralph-Jürgen Reipsch (Magdeburg) resümierte eine ertragreiche Tagung und kündigte eine baldige Drucklegung der Beiträge innerhalb der Reihe „Magdeburger Konferenzberichte“ an.