Richard Wagner in München. Interdisziplinäres Symposium zum 200. Geburtstag des Komponisten
München, 25.-27.04.2013
Von Sebastian Bolz, München – 28.05.2013 | Die Beziehungen einer Stadt zu der Musik, die dort erklingt, ebenso wie zu den Musikern und Komponisten, die dort wirken, sind komplex und erlauben, ja erfordern Betrachtungen aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven. So erscheint es konsequent, dass im Jahr des 200. Geburtstages von Richard Wagner – mithin eine Figur, die seit jeher Kommentatoren aus zahllosen Disziplinen herausgefordert hat – das Verhältnis des Komponisten zu seinen Wirkungsorten in den Blick rückt, wobei "München neben Bayreuth als Wagner-Stadt schlechthin" (so jüngst Dieter Borchmeyer) zentrale Bedeutung für die Aufführung und Ausstrahlung der Werke zukommt.
Auf Einladung des Instituts für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Gesellschaft für bayerische Musikgeschichte kamen vom 25. bis 27. April 2013 Vertreter aus den Fachbereichen Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Geschichte, Germanistik und Philosophie zusammen, um die wechselseitigen Beziehungen Wagners und der Stadt München auf den Grund zu gehen. Ausgetauscht wurden Erkenntnisse über einen Ort in Wagners Leben und Wirken, für den eine bündige Beurteilung noch aussteht, wie Hartmut Schick in seinem Einführungsvortrag betonte. Folglich fand nicht nur die unmittelbare Zeit der Aufenthalte Wagners in der bayerischen Landeshauptstadt Beachtung, sondern es rückte explizit auch die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart in den Blick.
Den Auftakt bildete ein Gesprächskonzert, in bestem Wagner-Habitus als Vorabend des Symposiums. In unmittelbarer räumlicher Nähe zur Sonderausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek, die Dokumente aus Wagners Münchner Zeit vereint, ergaben sich in der Lesung von Briefen und Aufzeichnungen lebendige Einblicke in eine spannungsreiche Periode zwischen öffentlichen Anfechtungen, persönlichem Glück und finanziellen Weichenstellungen. Die Gespräche und Kommentare von Daphne Wagner, Urenkelin des Komponisten, Dieter Borchmeyer, Markus Kiesel und Hartmut Schick, wurden umrahmt von Darbietungen der Sopranistin Hanna Herfurtner, die begleitet von Stefan Paul am Flügel Liedraritäten zu Gehör brachte: neben den selten zu hörenden Beiträgen Wagners zu dieser Gattung auch Werke des oft unterschätzen Münchner Hofkapellmeisters und Wagner-Zeitgenossen Franz Lachner.
Im Zentrum des ersten Kongresstages stand vor allem das unmittelbare Wirken Richard Wagners in München, das untrennbar mit der Beziehung zum jungen Monarchen Ludwig II. in Verbindung steht, für den Komponisten aber auch in musikalisch-künstlerischer Hinsicht entscheidende Erfahrungen am Münchner Hoftheater bedeutete.
Die Grundlage für die folgenden Einzeluntersuchungen bildete Harmut Schicks historisch-biographischer Überblick über die Zeit von 1864 bis 1869; er skizzierte Stationen auf dem Weg vom „Traum" des Künstlers von München als künftiges Lebenszentrum hin zum „Alptraum" mit scheiternden Plänen, politischer Selbstisolation gegenüber der bayerischen Regierung und wachsenden Differenzen zwischen König und Komponist. Die Komponente der politischen Rahmenbedigungen für die Handlungsmöglichkeiten Ludwigs II. (und Wagners) griff Katharina Weigand heraus. Aus dem Zusammenwirken von Personenkonstellationen in den bayerischen Ministerien und der Verfassungsrealität der konstitutionellen Monarchie, die sich besonders in Konflikten um die finanziellen Verfügungsgewalt des Königs niederschlug, entwickelte sie die These eines inneren Widerspruchs in Ludwigs Denk- und Handlungsmustern: Der Wunschvorstellung einer Selbstüberhebung als absoluter Herrscher beim Antritt standen die realen Machtverhältnisse gegenüber, die den Monarchen, so Weigand, unter Legitimationsdruck gebracht und schon bald zu dessen Rückzug aus der Tagespolitik geführt hätten. Jens Malte Fischers Beitrag diagnostizierte dann auch bei Wagner eine Art inneren Widerspruch zwischen revolutionär-idealistischem Gestus und realer Abhängigkeit von einem Monarchen; dieser habe sich mit der von Weigand gezeigten politischen Funktion Ludwigs II. zu einem grundsätzlich „windschiefen Verhältnis" verbunden, in dem der bürgerliche Nutznießer sich dem hochadligen Schwärmer gegenüber einerseits als Vaterfigur, andererseits als politischer Einflussnehmer gerierte.
Günter Zöller hob in seinen Ausführungen auf den philosophischen Gehalt in den Schriften Wagners ab und plädierte für eine Lesart, die Wagner als eigenständigen Denker begreift. Nach Zöllers Einschätzung sei dabei bisher allerdings zu stark die Verbindung zu Wagners Zeitgenossen, etwa Feuerbach und Schopenhauer, betont worden. Vielmehr sei Wagners Denken als moderne Modifikation des deutschen Idealismus zu deuten, der in der Spätzeit durchaus anachronistisch erschien, wie Zöller in einer Kontextualisierung der Schrift „Über Staat und Religion" (1864) mit dem sogenannten „Ältesten Systemprogramm" herausarbeitete.
Der institutionellen Bedeutung der Musik Richard Wagners in München wandten sich Manfred Hermann Schmid und Klaus Aringer zu. Schmid präsentierte Überlegungen zur Münchner Orchesterpraxis um 1865 und untersuchte die Rolle des Dirigenten wie auch Anforderungen an das Instrumentarium, die sich in Spezialanfertigungen und Umbauten niederschlugen. Aringer richtete den Blick auf einen Quellentyp, der bislang kaum beachtet worden ist: Anhand der Dienstlisten des Hoforchesters konnte er Rückschlüsse auf die Orchesterpraxis nicht nur in Verwaltungsperspektive, sondern auch in musikalischer Hinsicht ziehen. So seien einerseits die (nicht seltenen) Privatvorstellungen für Ludwig II. nicht in den Dienstlisten, die auch als Abrechnungsgrundlage dienten, nachweisbar und somit offenkundig aus dessen privaten Mitteln finanziert worden; mit Blick auf die Besetzungen der Münchner Wagner-Aufführungen konnte Aringer sodann eine relative Stabilität in der Größe des Streicherapparats trotz vermeintlich wachsender orchestraler Anforderungen zeigen.
Den ersten Tag beschloss Markus Kiesel mit seinem Vortrag zu Gottfried Sempers Plänen für ein Münchner Festspielhaus, wobei er Wagners Rolle als Pragmatiker unterstrich, der – stets im Gespräch mit Bühnentechnikern – situativ auf auftauchende Probleme reagierte und so primär nicht als Sachwalter einer ästhetisch-architektonischen Vision, sondern als Theaterpraktiker agiert habe.
Die Referate des zweiten Tages erweiterten noch einmal die Perspektive auf die Personen im Umfeld Wagners, um schließlich auf analytische Werkbetrachtungen und zuletzt auf Fragen der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte überzugehen.
In seinem Vortrag über Hans von Bülow stellte Hans-Joachim Hinrichsen die zentrale Bedeutung des Dirigenten für die Interpretationsgeschichte der Werke Wagners heraus. Bülow sei zunächst als „Agent" der Sache Wagners in Erscheinung getreten und in produktiver Arbeitsteilung zwischen Dirigent und Regisseur (Wagner selbst) maßgeblich an den Münchner Musteraufführungen von Tristan und Isolde, Die Meistersinger von Nürnberg und Lohengrin beteiligt gewesen; bald jedoch sei es zur künstlerischen „Emanzipation" gekommen, bereits in der Wiederaufnahme des Tristan 1869 habe Bülow etwa mit der Durchsetzung von Strichen tief in die Werkgestalt eingegriffen und müsse daher als Gründungsfigur der Wagner-Interpretation eingeschätzt werden.
Robert Maschka und Bernd Edelmann wandten sich in ihren Ausführungen genuin musikalischen Fragestellungen zu. Maschka hob die Bedeutung der Bühnenmusik im Tristan hervor und arbeitete vier Funktionen heraus: Bühnenmusik sei zunächst sowohl als „klingendes Requisit" wie auch als „Realitätsraum" (etwa als Lied oder Jagdmusik) Teil der dramatischen Handlung, sie diene darüber hinaus der Abgrenzung des Protagonistenpaares von der Umgebung und sei somit nicht zuletzt tragendes Element im „Wirklichkeitsdiskurs" des Tristan. Bernd Edelmann nahm sich zunächst Gottfrieds Tristan-Epos vor und arbeitete im Detail jene personellen und auch rechtlichen Konstellationen heraus, die bei Gottfried die Handlung tragen, um in einem zweiten Schritt deutlich zu machen, wie eben jene Handlungssäulen bei Wagner, sei es durch dramaturgische Raffung, sei es durch die Tilgung anachronistisch anmutender Macht- und Personengefüge, herausfallen und einer genuin musikalischen Deutung der so entstehenden Leerstellen im Drama den Boden bereiten.
Mit Robert Braunmüllers Beitrag gerieten zuletzt Aufführungen und Rezeption der Werke Richard Wagners in den Blick. Braunmüller skizzierte eine interpretationsgeschichtliche Kreisbewegung in den Münchner Inszenierungen der Meistersinger, die anfänglich – und trotz des massiven Aufwandes, der in jeder Hinsicht dem einer großen Oper entsprach – als Komödie auf die Bühne gebracht wurden und bis zur Jahrhundertwende in dieser Tradition standen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Werk durch eine nationale Ideologie vereinnahmt und in repräsentativen Festaufführungen in Szene gesetzt. Die Ästhetik dieser nationalen Überhebung der Meistersinger wirkte – so Braunmüllers These – auch über 1945 hinaus, indem etwa die 1943 verbrannten Kulissen für die Wiederaufnahme nach Kriegsende rekonstruiert wurden. Erst in jüngerer Zeit knüpften Lesarten wieder an den Komödientopos an, aus der Festtagsoper sei ein Repertoirestück geworden.
Nochmals zurück auf die Entstehungsumstände richtete Jürgen Schläder seine Aufmerksamkeit. Er deutete Ludwigs Rezeption der Wagnerschen Opern als Agenda eines kulturellen „Programms" nationaler Integration im Kontext der bayerischen Kriegsniederlage gegen Preußen; die Meistersinger müssten dabei im Besonderen als „kulturpolitische Avantgarde", mithin als „erster Schritt zu einer kulturellen Selbdefinition" verstanden werden, in der dem Künstler staatstragende Bedeutung zukommt. Wie Schläder zeigen konnte, imaginierte sich Ludwig, der Briefe an Wagner in Anlehnung an die paradigmatische Figur aus den Meistersingern mit „Walther" unterzeichnete, selbst als dieser Künstler, was freilich Fragen nach der Rolle von Adel und Bürgerlichkeit in der Wahrnehmung Ludwigs aufwerfe.
Martin Schneider wies in seinem Beitrag auf eine ganz ähnliche Projektierung im Musiktheater Hans Pfitzners hin: Im Palestrina stehe, so die These, nicht mehr die Nation, sondern die Gemeinschaft und die gemeinschaftsstiftende Funktion der Kunst Zentrum des dramatischen Diskurses. Diese Gemeinschaft sei in der Ästhetik des Palestrina vor allem als Steuerung des Blicks, mithin als Herstellung einer gemeinschaftlichen Perspektive angesprochen. Wie Schneider anhand von Text und Nebentext zeigen konnte, muss dieser gemeinsame Blick im Palestrina als problematisch gelten. Auf die Bühnen gelangt nicht mehr, wie noch in den Meistersingern, die im Jubel vereinte Gemeinschaft, sondern die „Krise der kollektiven Bildwahrnehmung", die für den Zuschauer nicht zuletzt eine „Krise des Illusionstheaters" bedeutet.
Schließlich spürte Sebastian Werr zentralen Faktoren der Münchner Wagnerpflege nach: Ausgehend von der massiven Kritik, die um 1910 die Interpreten des Wagnerschen Œuvres traf und die Vergangenheit verklärte, problematisierte Werr diese Idealisierung und damit die fordernde Vorstellung von vermeintlicher Werktreue: So dürften bereits zu Zeiten Wagners die Aufführungen seiner Werke alles andere als ideal verlaufen, gravierende musikalische und szenische Mängel beinahe die Regel gewesen sein. Wie Werr abschließend feststellte, sei trotz aller nachweisbaren Probleme der historischen Wagner-Interpretation die Rede vom Verfall der Interpretations- und Aufführungskultur bis in die jüngere Zeit ein stabiler Topos im Wagner-Diskurs – wohl nicht nur in München.
Ingesamt ergab sich durch die unterschiedlichen fachlichen Perspektiven einmal mehr ein bemerkenswert breites Bild des Wirkungsspektrums von Richard Wagner. Gleichwohl bedarf es im Hinblick auf die eingangs anvisierte Möglichkeit einer „bündigen" Beurteilung des Komplexes „Wagner und München" der Feststellung, dass sowohl Richard Wagners unmittelbares Wirken und Handeln wie auch seine langfristige Wirkung in München kaum als konsistent aufzufassen sind. Ein Gesamtüberblick wird vielmehr Widersprüche und Zwischentöne als Signum dieser Beziehung und Wagners Münchner Zeit als Brennpunkt ganz unterschiedlicher Entwicklungen begreifen müssen, sei es in der Gleichzeitigkeit von revolutionärer Attitüde und dem Verhaftetsein in elitärem Kunstethos, sei es im Gegenüber von politisch-philosophischem Idealismus und allzu menschlicher Anfechtung.
Der Förderung durch den Verein der Freunde der Musikwissenschaft München, die Bayerische Volksstiftung, S. K. H. Herzog Franz von Bayern und die Stiftung Bayerischer Musikfonds ist es zu danken, dass Vorträge und Begegnungen in angenehmer Atmosphäre im pittoresken Gartensaal des Münchner Prinzregententheaters stattfinden konnten. Eine Publikation der Ergebnisse der Tagung in der Reihe „Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte" befindet sich in Vorbereitung.