Die Oratorien Louis Spohrs: Kontext – Text – Musik
Münster, 15.-17.11.2013
Von Attila Kornel – 14.08.2014 | Vom 15. bis 17. November 2013 veranstaltete das musikwissenschaftliche Forschungsprojekt im Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster eine interdisziplinäre Tagung zum Oratorienschaffen Louis Spohrs. Im Rahmen der Tagung wurden sämtliche vier Oratorien Spohrs aus der Perspektive verschiedener Disziplinen in den Blick genommen und übergreifende Fragen zur Gattungsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diskutiert.
Nach einer forschungsgeschichtlichen Einführung von Dominik Höink (Münster) stand am Freitag zunächst die Biographie des Komponisten im Mittelpunkt. Clive Brown (Leeds) zeichnete in seinem Vortrag „Spohr’s quest for form and expression in sacred drama: his oratorios in their biographical context“ die Lebensstationen anhand der jeweils entstandenen Werke nach und setzte dabei das Oratorienschaffen in ein Verhältnis zu den übrigen Kompositionen Spohrs. Diskutiert wurde, inwiefern Spohrs politische Gesinnung relevant für sein Oratorienschaffen war. Hier knüpfte Martina Wagner-Egelhaaf (Münster) mit ihrem literaturwissenschaftlichen Vortrag an. Sie analysierte die 1860/61 in zwei Bänden erschienene autobiographische Schrift Spohrs hinsichtlich der literarischen Strategien der Selbstdarstellung, wobei sie den Fokus auf die Leitmotive „Komposition“ und „Aufführung“ lenkte. Im zweiten Teil des Tages wurde der Blick auf die Ebene der Institutionen gerichtet. Eva Verena Schmid (München) referierte über die Musikfeste im frühen 19. Jahrhundert und deren Funktion als Foren für Oratorienaufführungen. Sie hob dabei vor allem die gemeinschaftsbildende Funktion der Feste hervor und stellte heraus, dass mitunter eine Gefühlswelt angesprochen wurde, die an die (religiösen) Erfahrungen der Befreiungskriege erinnerte. Peter Schmitz (Münster) wandte sich anschließend der Publikation von Oratorien im 19. Jahrhundert zu und warf die Frage auf, inwiefern es für die Verleger ein rentables Geschäft gewesen sei, die Kompositionen zu vermarkten. Anhand neuer Quellen beleuchtete er Spohrs geschickte Verhandlungsführungen mit den Verlagen Simrock sowie Breitkopf & Härtel und wies überdies auf die Lenkung der Rezeption durch die Verlage hin.
Am zweiten Tag, der zugleich den Auftakt der werkbezogenen Sektionen bildete, betrachtete Kirstin Buchinger (Berlin) zunächst das zeithistorische Panorama im frühen 19. Jahrhundert zwischen Endzeiterwartung und „Napoléomanie“ und stellte dies in Beziehung zu Spohrs apokalyptischen Oratorien. Die durch Rettermythen und Karikaturen ambivalente „Napoléomanie“ blieb von ihm auffällig unreflektiert. Im Anschluss nahm Rebekka Sandmeier (Kapstadt) eine Einordnung der Spohrschen Oratorien in die Tradition der Apokalypse-Oratorien seit Georg P. Telemanns Der Tag des Gerichts vor. Insbesondere der enge Bezug der Spohrschen Werke zum Weltgericht Friedrich Schneiders sowie Möglichkeiten der politischen Interpretation der Oratorien standen im Zentrum ihrer Ausführungen. Der Alttestamentler Rüdiger Schmitt (Münster) diskutierte sodann die Libretti der ersten beiden Oratorien (Das jüngste Gericht und Die letzten Dinge) aus bibelwissenschaftlicher Perspektive und arbeitete dabei sowohl die starken Einflüsse aufklärerischen Gedankenguts als auch die konfessionelle Offenheit in Das jüngste Gericht heraus. Anschließend folgte in jeweils einem Vortrag die Betrachtung der musikalischen Beschaffenheit der beiden Apokalypse-Oratorien: Andreas Jacob (Essen) beleuchtete in seiner Werkanalyse von Das jüngste Gericht zunächst den Einfluss von F. W. Marpurgs „Abhandlung von der Fuge“ und wies überdies Parallelen in der musikalischen Gestaltung des Oratoriums und der Faust-Oper Spohrs nach. Daniel Glowotz (Münster) stellte die Chorpartien in Die letzten Dinge in das Zentrum seines Referates und wandte sich dabei der Rezeption älterer Kirchenstile im Oratorium zu. In der Auseinandersetzung mit den Chorsätzen wurde deutlich, wie Spohr zwar ältere Stile des 16. bis 18. Jahrhunderts aufgriff, diese allerdings im Verständnis des frühen 19. Jahrhunderts verwendete. Jürgen Heidrich (Münster) verortete anschließend Spohrs drittes Oratorium Des Heilands letzte Stunden in der Tradition der Passionsvertonungen. Vor dem Hintergrund von Rochlitz' Bach-Begeisterung und im Kontext der älteren Diskussion um eine lyrische bzw. dramatische Librettogestalt plädierte er mit Blick auf Rochlitz'/Spohrs Komposition für einen „lyrisch-dramatischen“ Mischtyp. Hermut Löhr (Münster) schloss aus exegetischer Perspektive daran an und untersuchte die Verarbeitung der kanonischen Passionserzählungen im Libretto. Neben der Darstellung der Christologie und Soteriologie im Libretto wies er dabei auf antijudaistische Elemente bei der Gestaltung der Textgrundlage hin.
Der letzte Tag begann mit dem Vortrag Karl Traugott Goldbachs (Kassel), welcher sich der kontroversen englischen Rezeption von Des Heilands letzte Stunden zuwandte. Anhand neuer Quellen entstand ein präziseres Verständnis der konfessionellen Hintergründe, die zur kritischen Sicht auf das Oratorium geführt haben. Im Fokus der drei folgenden Vorträge stand das letzte Oratorium Der Fall Babylons. Zunächst ordnete Dominik Höink (Münster) das Werk in die Tradition der „Belsazardramen“ seit Georg Friedrich Händel ein. Dabei arbeitete er heraus, wie der Librettist Edward Taylor auf verschiedene existierende Texte zurückgegriffen und diese in seinem Werk verarbeitet hat. Auf diese Weise entstand ein völlig neuer Blick auf die Textgrundlage, der die enge Verbindung zur englischen Oratorientradition deutlich gemacht hat. Johannes Schnocks (Münster) ergänzte dies um eine rezeptionshermeneutische Analyse der Textgrundlage aus bibelwissenschaftlicher Sicht. Das Oratorium weise demnach gravierende Unterschiede zu Bibeltexten auf, die sich auf konzeptionellen Verschiebungen des Herrscherbildes gründen. Überdies wurde deutlich, welche Rolle gerade den Psalmen als Rahmen zufällt. Im letzten Vortrag stellte Michael Werthmann (Münster) seine analytischen Beobachtungen zur musikalischen Darstellung der verschiedenen Personengruppen vor. Dabei wurde deutlich, mit welch unterschiedlichen musikalischen Mitteln Spohr zwischen Juden, Persern und Babyloniern differenzierte. Bereits die Ouvertüre von Der Fall Babylons offenbare beispielsweise die konträre Charakterisierung einerseits der verzweifelt-elegischen Juden und andererseits der siegessicheren Perser. Es folgte eine Präsentation der derzeit im Aufbau befindlichen Online-Datenbank „Verzeichnis der deutschen Oratorien 1800–1950“ durch Dominik Höink und Robert Memering (Münster) sowie Rebekka Sandmeier (Kapstadt). Die Datenbank soll einen Überblick über das reichhaltige Repertoire bieten und erfasst sowohl die Basisdaten als auch Quellen, Literatur und Aufführungsdaten. Abgeschlossen wurde die Tagung durch einen Kommentar von Klaus Wolfgang Niemöller (Köln), in welchem dieser die Ergebnisse der Tagung zusammenführte und in Relation zur Frage nach dem Verhältnis von Kirchenmusik und Oratorium brachte.
Insgesamt hat die Tagung zahlreiche neue Erkenntnisse in Bezug auf das bisher wenig erforschte Oratorienschaffen Spohrs zutage gefördert. Insbesondere die interdisziplinäre Sicht auf die Werke hat dabei zu interessanten und aufschlussreichen Diskussionen und Ergebnissen geführt, die zu einem tiefergehenden Verständnis der Werke führte. In einem Abschlusskonzert wurden schließlich Die letzten Dinge von der Nordwestdeutschen Philharmonie und dem Kammerchor der Herz-Jesu-Kirche Münster unter Leitung von Michael Schmutte in der Mutterhauskirche dargeboten.