Barcarola. Alltags- und Imaginationsgeschichte des venezianischen Gondelliedes / Barcarola. Il canto del gondoliere nella vita quotidiana e nell'immaginazione artistica
Venedig, 13.-14.06.2013
Von Henrike Rost, Berlin – 13.07.2013 | Das venezianische Gondellied (ital. Barcarola) ist eng an die Geschichte der Lagunenstadt gebunden. Ungefähr seit Mitte des 18. Jahrhunderts greifbar, hat sich die Barkarole bis in das 20. Jahrhundert hinein, auch in instrumentaler Form und innerhalb der Oper, zu einer europäischen Gattung entwickelt. Dabei hat sie sich weitgehend von ihrem venezianischen Ursprungskontext entfernt und zur Verbreitung von Imaginationen Venedigs in ganz Europa beigetragen.
Das Forschungsprojekt „Barcarola. Alltags- und Imaginationsgeschichte des venezianischen Gondelliedes" unter der Leitung von PD Dr. Sabine Meine (Direktorin des Deutschen Studienzentrums in Venedig) widmet sich dem weiten Spektrum des venezianischen Gondelliedes. Im Fokus stehen neben diversen Barkarolen und den Canzoni da battello – also „Liedern, die auf einem Boot gesungen werden" – aus dem 18. Jahrhundert insbesondere auch die legendären Gesänge der Gondolieri, die einander Stanzen aus Torquato Tassos La Gerusalemme liberata zugesungen haben sollen. Durch die Berichte von Rousseau und Goethe wurde der Topos des „singenden Gondoliere" integraler Bestandteil des Venedig-Bildes in ganz Europa. Komponisten wie Frédéric Chopin, Felix Mendelssohn Bartholdy, Richard Wagner und viele andere haben in venezianischen Gesängen und Gondelliedern eine Inspiration gefunden. Die „Barcarola" entwickelte sich zugleich im venezianischen Kontext weiter: Als Facette der Canzone veneziana wurde sie von Giovanni Battista Perucchini (1784-1870) über Antonio Buzzolla (1815-1871) bis zu Guido Bianchini (1885-1971) maßgeblich geprägt. Die Wirkungsgeschichte der Barcarola in der Lagunenstadt ist dabei eng gebunden an das venezianische Musikleben und den Alltag in Musikvereinen, Akademien und Salons, aber auch an die Geschichte des Tourismus.
Die musikwissenschaftliche Tagung im Rahmen des Forschungsprojekts fand in italienischer Sprache statt und setzte sich zum Ziel, den aktuellen Forschungsstand zum Thema in Italien zu überblicken und zusammenzutragen.
Ausgehend von der Beobachtung, dass die heute am häufigsten von Gondolieri praktizierten Gesänge – „O sole mio" und „Volare" – in keinerlei Verbindung zur venezianischen Tradition stehen, begründete Sabine Meine (Venedig/Hannover) in der Einleitung ihre Hinwendung zur „Barcarola" als Forschungsthema mit der Relevanz einer noch weitgehend ausstehenden Erforschung historischer populärer Musik. In Hinblick auf die vielfältigen Ausprägungen des Phänomens „Barcarola" verwies sie auf die Notwendigkeit eines umfassenden Gattungsbegriffes, der die gesellschaftliche Praxis und Wirkung der Musik als ebenso zentral begreife wie ihre konkrete musikalische Gestaltung. Die Barkarole (vom ital. „barca" für Boot) fasste Meine demnach im weitesten Sinne als ein Musikstück auf, das mit dem Gesang auf einem – meist venezianischen – „batélo" bzw. auf einer Gondel assoziiert wird. Die Gattung leiste darüber hinaus ihren spezifisch musikalischen Beitrag zur Imagologie als literatur- und kulturwissenschaftlicher Image-Forschung. Im Wechselspiel zwischen den Imaginationen europäischer Venedig-Reisender und den Bemühungen um die Tradierung einer genuin venezianischen Musikkultur, somit auch zwischen Tourismus- und Regionalgeschichte, ist das Thema Teil des aktuellen Forschungsprofils „Der Terrassenblick. Deutsche Perspektiven auf Venedig" am Deutschen Studienzentrum in Venedig, mit dem das Haus 2011 bis 2014 die Wahrnehmung Venedigs in Wissenschaften und Künsten fokussiert. Dem Bundesbeauftragen für Kultur und Medien (BKM) dankte Meine für die Förderung der Tagung.
Im ersten Vortrag beschäftigte sich Carlida Steffan (Modena) mit der Barkarole in der Salonmusik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Barcarola bezeichnete sie – Sirch folgend – als „etichetta" (Etikett) und weniger als „sottogenere" (Untergattung) der Arietta bzw. Canzone veneziana. Während noch zu Beginn des Ottocento in Verlagskatalogen keine Barkarolen enthalten waren, hielt die Gattung in den 1830er Jahren verstärkt Einzug in das Salon-Repertoire. Zu bedenken gab Steffan, dass das Musikverlagswesen in Venedig kaum präsent war. Im Katalog von Ricordi (Milano, 1855) konnte sie neben einer einzigen Barcarola veneziana ca. 20 Canzoni bzw. Ariette veneziane und noch einmal ca. 20 Barkarolen nachweisen. Als weitere Beispiele präsentierte Steffan Barkarolen von Gioacchino Rossini (Soirées Musicales, 1835), die für die Pariser Salonwelt entstanden. Abschließend erinnerte sie an den in Vergessenheit geratenen Musikliebhaber und Mäzen Giovanni Battista Perucchini, dessen venezianische Arietten in den Salons europaweit Erfolge feierten.
Alessandra Di Vincenzo (Venedig) setzte sich in ihrem Tagungsbeitrag, der in ihrer Abwesenheit von David Bryant präsentiert wurde, mit der „Serenata sull'acqua" auseinander. Dabei stützte sie sich überwiegend auf Zeitungsberichte („Gazzetta di Venezia") aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In ihrem Vortrag stellte sie insgesamt vier Typen der Serenata vor: 1) fresco / corso di barche con musica: im Sommer wöchentlich von der Stadt organisiert; Musik von der Militärkapelle – 2) serenata popolare: gemischtes, auch populäres Repertoire, meist von Dilettanten musiziert – 3) serenata privata: privat organisiert, bezahlte professionelle Musiker – 4) serenata pubblica: nur wenige Male im Jahr von der Stadt organisiert; 14-15 Haltepunkte der schwimmenden Bühne; Chor und Orchester, häufig Vokalsolisten. Die Serenate pubbliche waren als touristische Attraktion darauf ausgerichtet, finanziellen Gewinn zu erzielen. Das Musikprogramm schöpfte überwiegend aus der Oper, akzentuiert durch „colore locale" (z. B. Barkarolen von Buzzolla, Tessarin).
Aus einem ganz anderen Blickwinkel untersuchte Henrike Rost (Berlin) die Barkarole als Souvenir und Reiseerinnerung. Dabei stellte sie venezianisch inspirierte Kompositionen der Italienreisenden Ferdinand Hiller, Maurice Strakosch und Felix Mendelssohn Bartholdy einem Gondellied des venezianischen Komponisten Antonio Buzzolla gegenüber. Sowohl Buzzolla als auch Hiller widmeten ihre Arietten, die eine stereotypisierte „nächtliche Gondeleinladung" in Szene setzen, Antonietta Hiller, Sängerin und Ehefrau Hillers. Anhand dieser vertonten Reiseandenken konnten die Eheleute Hiller die Zeit in Italien in ihrer Heimat musikalisch wieder aufleben lassen. Von den konkreten Kompositionen aus den 1840er Jahren ausgehend verdeutlichte Rost, wie die Barkarole als Erfolgsgarant der Salonmusik gleichzeitig der Inszenierung und Vermarktung Venedigs diente. Als romantische Kulisse lockte die Lagunenstadt auch im Gondellied mit einer gewissen sexuellen Freizügigkeit und lud zur Realitätsflucht.
Für die venezianischen Canzoni da battello des 18. Jahrhunderts, die als hybride Gattung Hoch- und Volkskultur in sich vereinen, erwies sich die musikethnologische Perspektive von Paola Barzan (Padua) als besonders fruchtbar. Gestützt auf eine breite Quellenbasis – von historischen Reiseberichten bis hin zu kürzlich entstandenen Interviews mit Gondolieri und Touristen – präsentierte Barzan einen umfassenden Überblick zur Disposition und Entwicklung der Canzoni da battello. In ihrem Vortrag wies sie im Genre zahlreiche Einflüsse aus der Folklore (Tänze: Villotta, Gagliarda) und mündlichen Überlieferung nach. Die Canzone Cara Nina mio tesor von 1742 adaptiert die bekannte volksläufige Melodie Ah! Vous dirai-je, maman. Barzan entdeckte mit dieser Canzone die früheste Niederschrift der französischen Melodie, die bis dato erst in den 1760er Jahren in Handschriften nachweisbar war. Einst durch die Londoner Ausgaben (1742-48) von John Walsh in den Salons europaweit präsent, sind die Canzoni da battello heute aus dem Musikrepertoire verschwunden.
Marco Rosa Salva (Venedig), Blockflötist und Leiter der Scuola di Musica Antica di Venezia, stellte Bearbeitungen von Canzoni da battello für Flauto dolce vor, die er im Laufe seines Vortrags auf verschiedenen Flöten zum Klingen brachte. In einer kurzen Einführung zur Geschichte des Instruments wies Rosa Salva darauf hin, dass die Flauto dolce bereits in den 1720er Jahren von der Traversflöte aus der professionellen Kunstmusik verdrängt worden war und in der Blütezeit der Canzoni da battello in den 1740er und -50er Jahren vor allem im häuslichen Bereich und zu didaktischen Zwecken verwendet wurde. In einem Fondo musicale der Biblioteca Civica in Parenzo (Kroatien) war er auf ca. 30 Transkriptionen von Canzoni da battello für Blockflöte gestoßen. In passende Tonarten transponiert sind diese einstimmig, ohne Bass und meist ohne Text notiert.
Als musikalischen Ausklang des Abends präsentierte die Folk-Sängerin Rachele Colombo (Padua), die sich selbst auf der Gitarre begleitete, auf der Terrasse des Palazzo Barbarigo, dem Sitz des Deutschen Studienzentrums in Venedig, eine gemeinsam mit dem Musik- und Tanzethnologen Guglielmo Pinna (Padua) entwickelte Neuinterpretation von Canzoni da battello. Unter dem Titel „Per cantar ste canzonete" gelang eine zeitgemäße Neuverortung des Repertoires. Als Grundlage diente die von Sergio Barcellona und Galliano Titton herausgegebene Sammlung Canzoni da battello (1740-50) (Rom 1990), die über 500 Canzoni umfasst.
Ivano Cavallini (Palermo) beschäftigte sich mit den Konzepten von Natur und Alterität bei Giuseppe Tartini. Seine Überlegungen machte er am Beispiel der sogenannten „Aria del Tasso" fest, die Tartini in gleich vier Geigenkompositionen aufgegriffen hat. Aus der Auseinandersetzung mit dieser volksläufigen Melodie, zu der die Gondolieri Tasso-Stanzen gesungen haben sollen, ließe sich jedoch keineswegs ableiten, dass Tartini den Erhalt oder die Überlieferung einer mündlichen Tradition intendiert habe. Mit der „Aria del Tasso" fand er Inspiration im „Anderen", nämlich in einem Volksgesang, der in seiner Einfachheit – genauso wie die antike griechische Musik oder die Musik der Urvölker – für ihn Ursprünglichkeit, Naturnähe und damit Wahrheit in der Musik bedeutete. Die theoretischen Überlegungen des Komponisten illustrierte Cavallini anhand von dessen Schriften und Briefen (an Decio Agostino Trento, Giordano Riccati), die er in Bezug setzte zu zeitgenössischen Denkmodellen (u. a. Antonio Conti, Newton, Descartes, Rousseau).
Wie schon vor ihm Goethe und Rousseau war auch Richard Wagner fasziniert von den Klängen des nächtlichen Venedigs und den legendären Tasso-Gesängen der Gondolieri. Sabine Meine nahm dies zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu den Imagologien der Lagunenstadt und ihrer Wirkungsmacht im 19. Jahrhundert. Mit dem Hirtenreigen aus dem III. Akt des Tristan stellte sie eine von der „Klage ohne Trauer" – so hatte Goethe den Tasso-Wechselgesang bezeichnet – inspirierte Komposition Wagners der Tasso-Melodie („Tasso alla veneziana" bei Rousseau) gegenüber und erläuterte Ähnlichkeiten. Als weiteres Beispiel analysierte Meine Liszts Klavierstück La lugubre gondola I (1884), das einige typische Merkmale der Barcarola aufweise. Das düstere Stück – eine „Klage mit Trauer" – setzte sie in einen biografischen Kontext und stellte Bezüge zum Tod Wagners und Liszts her. Anhand von Franz Werfels Verdi. Roman der Oper (1924) zeigte Meine wie der Mythos des Gondelgesangs auch in der deutschsprachigen Literatur Spuren hinterließ.
Auf der Basis vielfältiger literarischer Quellen nahm die Italianistin Daria Perocco (Venedig) den Mythos des Tasso singenden Gondoliere ins Visier. Anlässlich der Regatten, die in Venedig ein integraler Bestandteil der öffentlichen Festkultur waren, entstanden zahlreiche Poesien, die auf allgemein bekannte Melodien, z. B. La Biondina in gondoletta, gesungen wurden. Um die Erfolgsgeschichte des Tasso singenden Gondoliere zu beleuchten, zog Perocco einschlägige Werke heran. Sie verwies darauf, dass in fast allen Berichten der Tasso-Gesang in der Vergangenheit angesiedelt wäre. Bis heute lebe Venedig gerade auch von seinen „erfundenen Traditionen". Nach dem Verlust des Ruhms vergangener Tage, habe sich der Stolz der Stadt auf die „Venezianità" verlagert, die eng an die Gestalt des Gondoliere gebunden sei, z. B. bei Renier Michiel: Origini delle feste veneziane (1829). Perocco stellte weiterhin Mondinis El Goffredo del Tasso cantá alla barcariola vor – eine auch inhaltlich „venezianisierte" Übersetzung von La Gerusalemme liberata ins Venezianische.
Licia Sirch (Mailand) erläuterte, wie die Barkarole des 18. Jahrhunderts als pittoreskes Gestaltungsmerkmal Eingang in die Oper des 19. Jahrhunderts fand. Zunächst präsentierte sie eine handschriftliche Sammlung: Barcarola alla veneziana von Leonardo Leo (datierbar ca. 1733-44). Eine der Barkarolen verweise mit ihrem 2/4-Takt und der lang gehaltenen Note, nach der die Melodie in Verzierungen mit Triolen abwärts führe, auf den Gesang der Gondolieri bzw. die Tasso-Melodie („Canto l'armi pieto"), wie sie bei Rousseau, Tartini/Burney und später in der Barozzi-Ausgabe (ca. 1835-40) auftauche. Sirch führte weiterhin in die Ästhetik des Pittoresken ein, die aus der Natur Inspiration für die Kunst schöpfe. Die Barkarole versinnbildliche in diesem Kontext musikalisch eine Landschaft mit Wasser. Der Gesang des Gondoliere repräsentiere die melancholisch gefärbte Erinnerung an die Vergangenheit. Sirch machte schließlich ihre Überlegungen an konkreten Beispielen fest (u. a. Rossinis Otello und Guillaume Tell, Verdis I due Foscari, Boitos Mefistofele).
Die Abschlussdiskussion einleitend verwies Cavallini auf die Relevanz von ikonografischem Material für das Forschungsthema und regte dessen zukünftige Einbeziehung an – gerade da die Barkarole und die „Aria del Tasso" in so enger Verbindung zu Poesie und Bild stünden. Steffan, die das Resümee der Tagung zog, machte noch einmal deutlich, dass die Barkarole angesichts der Pluralität ihrer Funktionen und Kategorien schwer zu greifen und kaum zu definieren bliebe. Diese Disposition spiegele sich schon im Plural „Barcarolles" bei Rousseau im Dictionnaire de musique (Paris 1768) wider. Steffan lobte die Vielfalt der Perspektiven der verschiedenen Tagungsbeiträge. Als besonders interessant erachtete sie, dass die Barkarole sich durch die Parallelität von Innen (Salon, Oper) und Außen (Serenate, Freschi) auszeichne. Wie venezianisch die Gattung tatsächlich sei, bliebe ein sehr fragwürdiger Punkt. Meine resümierte, dass das Gondellied vor der Kulisse Venedigs stets zwischen den Polen Nähe und Ferne schwebe. Gerade im Hinblick auf die besondere Akustik Venedigs sei die Barkarole immer auch ein Erinnerungstopos.