Das Autograph – Fluch und Segen. Probleme und Chancen für die musikwissenschaftliche Edition
Berlin, 19.-21.04.2013
Von Jakob Hauschildt, Kiel – 07.05.2013 | Die Vorgeschichte dieser Tagung reicht weit zurück: Bereits 1998 und 2000 fanden zwei ‚Editorenseminare' im Curt-Sachs-Saal des Berliner Musikinstrumenten-Museums statt, ein drittes, ebenfalls von Helga Lühning geleitetes, schloss sich 2002 in Düsseldorf an. Das ‚Editorenseminar IV' nun wurde noch von Klaus Döge vorbereitet, dem 2011 verstorbenen Sprecher der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute (fffi); seinem Andenken war diese Tagung gewidmet.
Im Zentrum der von der fffi unter der Leitung ihres neuen Sprechers Armin Raab veranstalteten Tagung stand das Autograph, dessen Gewicht und Geltung für die editorische Praxis unterschiedlicher Editionsprojekte die Referenten und Referentinnen hinterfragten. Als Gastgeber fungierte das Staatliche Institut für Musikforschung (SIM), gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung mit Unterstützung von Schott Music International, Mainz.
Michael Struck (Brahms-Ausgabe Kiel) näherte sich in seiner Einführung dem ebenso vielschichtigen wie auratisch aufgeladenen Begriff aus den unterschiedlichen Perspektiven von Sammlern (Stefan Zweig), Verlagen, Musikwissenschaftlern und Editoren historisch-kritischer Ausgaben, wobei die letzteren im Autograph „das Werdende und das Gewordene aufeinander beziehen".
Wie sehr solche changierenden Positionen im Prozess der Werkentstehung auch für das Particell geltend zu machen sind, wurde in den Beiträgen von Ulrich Krämer (Schönberg-Ausgabe Berlin) und Thomas Ertelt (SIM Berlin) über Schönberg und Berg deutlich. Während Schönberg Particelle zeitweilig als „vereinfachte Studien- und Dirigierpartitur" zur Komprimierung großformatiger Partituren im Druckformat präferierte, trägt das Particell zum 3. Akt der „Lulu" Skizzen- und Partituranteile und steht damit zwischen Arbeitsmanuskript und verbindlicher Fassung. Reinhard Kapp (Wien) übernahm kurzfristig den öffentlichen Hauptvortrag anstelle des erkrankten Rudolf Stephan. Ausgehend von der frühesten schriftlichen Überlieferung und den wechselnden Proportionen zwischen mündlicher Weitergabe und schriftlicher Fixierung schlug er einen weiten musikgeschichtlichen Bogen und plädierte abschließend für einen vertieften Austausch zwischen Philologie und Historischer Musikwissenschaft.
Die Differenzierung verschiedener Schreibtinten in J. S. Bachs Autograph der h-Moll-Messe verfolgte Uwe Wolf (früher Bach-Archiv Leipzig, jetzt Carus-Verlag Stuttgart) mit der Röntgenfluoreszenzanalyse. Die in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung ausgeführte Untersuchung ließ – in Verbindung mit schriftkundlichen Befunden – vier Stadien der Überarbeitung durch C. Ph. E. Bach erkennen. Heide Volckmar-Waschk (Haydn-Ausgabe Köln) stellte die heterogene Quellenlage von J. Haydns Sinfonie Hob. I:73 „La Chasse" in den Mittelpunkt ihres Vortrags, deren Sätze in verschiedenartigen Vorlagen überliefert sind und zudem nur teilweise autograph vorliegen. Grundsätzliche vergleichende methodische Überlegungen zu Editionen von Werken J. A. Scheibes und C. Nielsens entwickelte Peter Hauge (Danish Centre for Music Publication Kopenhagen).
Ein Doppel-Referat von Michael Struck und Kathrin Kirsch (Kiel) veranschaulichte „Werkgenetische Phasen von Johannes Brahms und ihre editorische Bedeutung". Struck machte deutlich, dass der Komponist bei der Herausgabe eigener wie auch fremder Werke (zum Beispiel R. Schumanns) die autorisierte Druckfassung als verbindlich ansah und ein Editionskonzept vertrat, welches das Gewicht autographer Lesarten abschwächt. Kirsch konzentrierte sich auf späteste Phasen der Werkentstehung. Die für das 2. Klavierkonzert op. 83 und das 1. Streichquintett op. 88 erhaltenen Korrekturabzüge erhellen jene kompositorischen Änderungen und „Feinjustierungen", die Brahms – teilweise auf Grundlage von Spielproben – noch bis zum Abschluss der Drucklegung vornahm. Zur Gewichtung von autographen Handschriften und Frühdrucken bei Dvořák sprach Daniela Philippi (Frankfurt). Für die beiden späten Streichquartette op. 105 und 106 variieren Autograph und Druck erheblich, doch stößt dort die Rekonstruktion des verlegerischen Prozesses sowie möglicher Eingriffe durch den Komponisten auf Schwierigkeiten.
Mehrere Vorträge behandelten in verschiedener Gestalt überlieferte Werke. Helga Lühning (Beethoven-Ausgabe Bonn) führte vor, dass Beethoven für die „Fidelio"-Fassung von 1814 auch bei weitergehenden Änderungen auf seine Kopistenabschriften der „Leonoren"-Fassungen von 1805 und 1806 zurückgegriffen hat, um sie daraufhin erneut kopieren zu lassen. Am Beispiel des Terzetts Florestan-Leonore-Rocco ließ sich nachvollziehen, dass sogar sehr fehlerhafte Abschriften Teil dieses vielschichtigen Überarbeitungsprozesses wurden. Den „Überarbeitungsschichten in Max Regers Phantasie und Fuge d-moll für Orgel op. 135b und ihre[n] Deutungen" widmete sich Stefan König (Reger-Ausgabe Karlsruhe). Nicht zuletzt anhand der erhaltenen Vorabzüge wurde sichtbar, dass die Kürzungen der Druckfassung (38 von 171 Takten), anders als es ein hartnäckiger Topos der Regerforschung bis in jüngste Zeit behauptet, kaum auf Karl Straube zurückgingen, sondern bereits auf autographe Anweisungen des Komponisten selbst. Im Rahmen eines von Salome Reiser (früher Mendelssohn-Ausgabe Leipzig, jetzt Strauss-Ausgabe München) moderierten Gesprächskonzertes spielte das Hyperion-Trio (Oliver Kipp, Violine; Katharina Troe, Violoncello; Hagen Schwarzrock, Klavier) die erstmals 2009 publizierte Frühfassung von Felix Mendelssohn Bartholdys Klaviertrio d-Moll neben ausgewählten Abschnitten der späteren Druckfassung. Reiser beleuchtete zunächst die gefährdete Überlieferung der Frühfassung und stellte dann beide Werkgestalten vergleichend einander gegenüber, um Mendelssohns späte kompositorische Eingriffe zu verdeutlichen.
„Schrift und Schriftlichkeit in den Werken von Richard Strauss" war das Thema von Salome Reisers Tagungsvortrag. Vor allem das Skizzenmaterial, angefangen von ersten Notizen am Rande eines Textbuches, vermittelt greifbare Spuren des Schaffensprozesses, während die makellosen Partituren erst im Zuge der Instrumentation taktweise flüssig niedergeschrieben wurden. Zusätzlich fertigte Strauss in einigen Fällen nach Drucklegung Manuskripte populärer Werke extra für den Verkauf in Notzeiten an – Partituren also, die ihre Entstehung erst dem Autographenhandel verdanken und für den Publikationsprozess keine Rolle spielten. Dass Begriffe wie Autorschaft und Autograph im Bereich der Opernbearbeitungen samt Einlagearien unscharf werden und auf definitorische Schwierigkeiten stoßen, erörterte Christine Siegert (Berlin) anhand von Quellen des späten 18. Jahrhunderts. Ein speziell an Studierende gerichteter Workshop zum Lesen und zur Interpretation von Beethovens Autographen wurde von Jens Dufner und Julia Ronge geleitet (beide Beethoven-Ausgabe Bonn).
Die insgesamt gut besuchten und lebhaft diskutierten Vorträge mündeten in den Round Table unter weiterer Teilnahme von Jens Dufner, Johannes Kepper (Digitale Musikedition Paderborn) und Ullrich Scheideler (Berlin), wobei Armin Raab allen Mitwirkenden dankte. Der Austausch über Gewicht und Bedeutung der Autographe innerhalb und auch außerhalb konkreter Editionsprojekte erreichte durch die Darstellung jeweils spezifischer Probleme und Perspektiven eine bemerkenswerte Bandbreite. Die Publikation der Tagungsbeiträge als Sonderband der Jahrbücher des SIM ist in Vorbereitung.