Musikalische Eliten und römische Aristokratie um 1700
Rom, 24.-26.09.2012
Von Irene Lehman, Rom, und Elisabeth Probst, Graz – 19.04.2013 | Die internationale und interdisziplinäre Tagung „Musikalische Eliten und Römische Aristokratie um 1700" wurde von den Universitäten Zürich, Mainz und Graz sowie dem Österreichischen Historischen Institut in Rom (ÖHI) organisiert und hatte das Ziel, Ergebnisse des in Mainz angesiedelten Forschungsprojekts der Fritz Thyssen-Stiftung „Die Kantate als aristokratisches Ausdrucksmedium im Rom der Händelzeit" zu bündeln und in den Kontext aktueller Forschungen zur römischen Musikpflege um 1700 zu stellen.
Nach einer kurzen Begrüßung durch Richard Bösel, Laurenz Lütteken und Klaus Pietschmann wurde die Tagung mit dem Abendvortrag „La sarabanda del tempo. Metamorfosi delle arti a Roma all'inizio del Settecento" von Wolfgang Pross eröffnet. Pross betonte den bisher wenig beachteten Einfluss Italiens auf die Literaturen Europas im 17. und 18. Jahrhundert und identifizierte Rom als Zentrum des kulturellen, künstlerischen und philosophischen Wandels im Sinne der Ideale der römischen Arcadia.
Renata Ago basierte ihren Vortrag „Famiglie nobili e competizione culturale-mondana" hauptsächlich auf Konsumtheorien und zeigte die hochkompetitive Sozialstruktur des Papsthofs auf. Feste und Bankette sowie Förderung von Kultur, Kunst und Musik dienten dazu, sich standesgemäß und konkurrierend in der Öffentlichkeit, aber auch im privaten Bereich zu präsentieren. Die daraus entwickelte musikalische und kulturelle Kompetenz bestimmte wesentlich die kulturelle Szene Roms. Markus Engelhardt zeigte in seinem Vortrag „Teatro è Roma e il Campidoglio è scena: Roma tra topos storico e metafora librettistica" anhand von Beispielen aus Opern, Kantaten und der bildenden Kunst, wie Mythos und Macht des antiken Rom in den Künsten durch bestimmte topographische Topoi evoziert werden. „Tebro", „Campidoglio" und andere Topoi gehören zur gängigen Sprache der zeitgenössischen Kantaten- und Opernproduktion, sind jedoch nicht nur von romantisch-introspektiver Qualität, sondern haben politische Bedeutung.
Andrea Sommer-Mathis' Vortrag „Cantate e serenate alla corte imperiale. Tra conversazione accademica, cerimoniale cortigiano e divertimento musicale" beleuchtete, wie Kantaten in das Zeremoniell des Wiener Hofes integriert waren. Insbesondere im Kontext der Akademien am Hof scheinen Kantaten eine bedeutende Rolle gespielt und die Hofveranstaltungen rhythmisiert zu haben. Diskurse, Poesie und Musik greifen ineinander, indem akademische Themen in allen Künsten verhandelt werden. Der Vortrag von Berthold Over („Anzio un tempo festosa. La cantata nel contesto della promozione economica papale") betrachtete eine Gruppe von Kantaten, die mit dem ab 1697 erfolgten Hafenausbau von Anzio in Verbindung gebracht werden können. Im Rahmen dieses ökonomischen Projekts erfüllten Kantaten verschiedene Funktionen: Neben der Huldigung der maßgeblichen Protagonisten Innozenz XII. und Kardinal Benedetto Pamphilj, dienten sie als Sprachrohr für persönliche Ideen und Interessen sowie der Selbstinszenierung.
Sabine Ehrmann-Herfort beleuchtete in ihrem Vortrag „La cantata come campo di sperimentazione musicale in ambienti vicini all'Arcadia" die besonders von Giovanni Mario Crescimbeni formulierten theoretischen und aufführungspraktischen Grundlagen der Kantatenproduktion. Besonderes Augenmerk legte sie auf die Tatsache, dass die literarischen Ambitionen der Arkadier keineswegs repräsentative und politische Subtexte ausschlossen. Bemerkenswert ist außerdem, dass die arkadischen Kantaten Ausdruck eines neuen, französisch inspirierten Lebensstils waren. Elisabeth Oy-Marra („Concetti d'Arcadia nella pittura intorno al 1700") untersuchte den Topos Arkadien in der Malerei und zeigte, dass insbesondere die Landschaftsmalereien eines Lorrain oder Poussin Arkadien als eine zeitlich weit entfernte Ideallandschaft verstehen, die von mythischen, biblischen, pastoralen Gestalten bevölkert wird. Die Verankerung arkadischer Bilder in Rom zeigt sich in der Sammeltätigkeit römischer Familien (Colonna, Massimo). Im Vergleich zur Kantatenpoesie, die einen affektiven Zugang zu Arkadien ermöglicht, steht in der Malerei der Aspekt des verlorenen Paradieses im Vordergrund. Natalia Gozzanos Vortrag „Il mecenatismo artistico dei Colonna nel XVII secolo tra pittura, teatro e lettere" basierte auf Recherchen im Archiv der Familie Colonna. Aus kunsthistorischer Perspektive untersuchte sie das alle Kunstrichtungen (Malerei, Literatur, Musik, auch Philosophie, Astronomie usw.) umfassende Interesse von Lorenzo Onofrio Colonna und Maria Mancini. Insbesondere Theater und Oper erfreuten sich in allen möglichen Facetten und landestypischen Partikularitäten (französisch, venezianisch, spanisch) der Beliebtheit am Hofe der Colonna und schufen ein alles Leben durchziehendes Klima der Theatralität.
Luca Della Libera berichtete in seinem Vortrag „Il Fondo Bolognetti come fonte per la cantata romana" über den bisher noch recht unbekannten Bestand der Familie Bolognetti im Archivio Segreto Vaticano, der neben Reise- und Aufführungsberichten auch einige bisher unbekannte Libretti enthält. Alexandra Nigito sprach über die römische Adelsfamilie Pamphilj und ging speziell auf die Spezifika der Kantatenpoesie Kardinal Benedetto Pamphiljs und der Vertonungen im Zeitraum 1714-1730 ein („La cantata presso i Pamphilj"). Arnaldo Morelli („La musica vocale in casa Borghese fra Sei e Settecento: contesti, produzione e consumo") sprach über die Musikpflege der Familie Borghese. Anhand von Kopistenabrechnungen lässt sich der Umfang und die Ausrichtung der Musikaufführungen bei den Borghese rekonstruieren, an denen Bernardo Pasquini nicht nur als Komponist und Cembalist, sondern auch als Organisator beteiligt war. Besondere Bedeutung hatten die Aufführungen zu Weihnachten und Ostern, die im Palazzo mit umfangreichem Musikprogramm gefeiert wurden. Teresa M. Gialdroni („Nuove fonti per la cantata romana") stellte eine mehrbändige Kantatensammlung vor, die in der Abbazia di Grottaferrata aufbewahrt wird. Provenienz und Kontext der Kantaten sind noch nicht endgültig geklärt, doch lässt die Erwähnung des Ortes Sambuci darauf schließen, dass sie mit der Familie Astalli in Verbindung zu bringen sind, die im Besitz des Castello di Sambuci war.
Magdalena Boschung und Andrea Zedler beschäftigten sich mit dem Komponisten Antonio Caldara. Magdalena Boschung („Antonio Caldara's Il trionfo d'Amore and its French Elements") beleuchtete Caldaras Umfeld während seiner Anstellung bei Francesco Maria Ruspoli und leitete aus der politisch-kulturellen Orientierung Ruspolis Rückschlüsse auf die Verwendung französischer Elemente in Caldaras Kantate „Il trionfo d'Amore" ab. Andrea Zedler („The Cantatas of Antonio Caldara Between the Roman Conversazioni and the Ceremonial at the Viennese Court") arbeitete die Unterschiede in der Kantatenproduktion Caldaras für Rom und Wien heraus, die sich sowohl in Hinsicht auf die Texte als auch auf die Instrumentation ablesen lassen. Herbert Seifert untersuchte „Musical Relations between Rome and Vienna around 1700" und konnte für zahlreiche Komponisten und Sänger zeigen, dass sie eine Verbindung zwischen den Höfen Roms und Wiens bildeten, die auch den musikalischen Stil und die Instrumentierung beeinflussten. Anhand der Händel-Manuskripte in Meiningen ging Lawrence Bennett („Rome, Vienna and the Handel Manuscripts in Meiningen, Germany") der Frage nach, wie die Manuskripte der umfangreichen Sammlung römischer Kantaten dorthin gelangten. Die Reiseberichte Herzog Anton Ulrichs von Sachsen-Meiningen zeigen, dass der Herzog in Rom bei den wichtigen aristokratischen Familien verkehrte, wo er unter anderem auch Händel traf. Bennett geht davon aus, dass die Händel-Manuskripte von einem italienischen Kopisten angefertigt und während der Italienreise von Herzog Anton Ulrich erworben wurden.
Umrahmt wurde die Tagung durch einen Besuch der Galleria im Palazzo der römischen Adelsfamilie Ruspoli und von einem sehr gelungenen Konzert von Christine Streubühr (Gesang) und Alexandra Nigito (Cembalo), die ein Programm mit Cembalostücken und Kantaten um 1700 zusammengestellt hatten, das einmal mehr die kompositorische Qualität und affektive Kraft der Kantatenkompositionen um 1700 vor Augen führte. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist im Rahmen der neuen Reihe M.A.R.S. (Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento) vorgesehen.