„Poesia per musica" und römische Adelskultur um 1700: der Fall Antonio Ottoboni
Mainz, 23.-24.11.2012
Von Sabrina Calì, Mainz – 18.04.2013 | Die italienische Kantate um 1700 ist als Kunstform eng mit der zeitgenössischen Adelsgesellschaft verknüpft. Die Betrachtung dieses Phänomens stand im Mittelpunkt der zweitägigen Tagung „‚Poesia per musica' und römische Adelskultur um 1700: der Fall Antonio Ottoboni", die am 23. und 24. November 2012 im Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg Universität in Mainz stattfand und vom Forschungsprojekt der Fritz Thyssen-Stiftung „Die Kantate als aristokratisches Ausdrucksmedium der Händelzeit (ca. 1695-1715)" in Zusammenarbeit mit dem DFG-/ANR-Projekt „MUSICI. Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel (1650-1750): Musik, Identität der Nationen und kultureller Austausch" organisiert wurde. Als „Fallbeispiel" diente Antonio Ottoboni, der sowohl als Textdichter, als auch als Auftraggeber von Kantaten, Opern und Oratorien eine wichtige Rolle spielte, die bislang jedoch nur in Ansätzen untersucht worden ist. Zugleich sind die Ottoboni ein Paradigma für eine Familie, die aus dem damaligen Ausland (Republik Venedig) nach Rom (Kirchenstaat) kam und aufgrund ihres kulturellen Engagements in kürzester Zeit in den römischen Hochadel aufgestiegen ist. Das Ziel der Tagung war die Erörterung einer Vielzahl von Problemen, die mit unterschiedlichen Formen der Musikpatronage, ihren Zielsetzungen und den dazu eingesetzten Musikgattungen verknüpft sind.
Die Bedeutung der aristokratischen Musikpflege und die exemplarische Rolle Roms wurden in der Einführung von Laurenz Lütteken (Zürich) dargestellt. Die Ausbildung eines neuen Musikertypus, des Elitemusikers, sorgte im ausgehenden 17. Jahrhundert für eine entscheidende Änderung des Musikerbildes. Angela Romagnoli (Cremona, „‚A gran dama gravida in Bergamo': Vertonungen von Texten Antonio und Pietro Ottobonis außerhalb Roms") widmete sich ausführlich der Frage, ob sich Kantaten bestimmten Lebensstationen zuordnen lassen, und zeigte anhand von Vertonungen von Texten Antonio und Pietro Ottobonis die Schwierigkeiten der topographischen Lokalisation von Kantatenthemen und deren Verarbeitung auf. Das Thema der Integration in die römische Adelsgesellschaft wurde von Britta Kägler (Rom, „‚Ausländische' Adelsfamilien in Rom um 1700: Der Fall Ottoboni im Vergleich") aufgegriffen. Wie schon viele Familien zuvor verfolgten auch die aus Venedig stammenden Ottoboni verschiedene Strategien, um erfolgreich in die Adelskreise Roms aufzusteigen. Das Aufzeigen und Erklären dieser toposhaften Strategien war das Ziel des Vortrags, der aus historischer Perspektive musikalisches Mäzenatentum in das Instrumentarium des sozialen Aufstiegs einordnete.
Der Palazzo della cancelleria unter Kardinal Pietro Ottoboni stand im Mittelpunkt des Vortrags „Der Palazzo della Cancelleria unter Kardinal Pietro Ottoboni: Amtssitz, Residenz, Kirche und Kulturzentrum" von Tobias C. Weißmann (Berlin), der vor allem dessen Rolle als Kulturzentrum hervorhob. Die Cancelleria vereinte mehrere kulturelle Funktionen und stach in Rom durch ihre Konzentration und Tragweite heraus, die sich vor allem in der Vielzahl der bespielten Räume zeigt. Dem Thema der Kantatenaufführungen im akademischen Kontext widmete sich Inga Mai Groote (Zürich, „‚In dotta palestra'? – Kantate und accademia"). Kantaten wurden neben akademischen Formen wie dem Discorso oder Disput aufgeführt und dienten oftmals einer besseren Gliederung des akademischen Programms.
Magdalena Boschung (Mainz, „‚Mi tradisti, o fortuna'. Antonio Caldaras Kantaten auf Texte Antonio Ottobonis und ihr Bezug zu Francesco Maria Ruspoli") widmete sich der Frage, inwieweit sich Antonio Ottobonis Librettovorgaben in der Gestaltung der von Antonio Caldara für Francesco Maria Ruspoli komponierten Kantaten niederschlugen und wo die Gepflogenheiten bei Hofe einen Eingriff in die Textvorgabe rechtfertigten. Komische Kantatensujets standen im Mittelpunkt des Vortrags von Berthold Over (Mainz, „‚La buona comica è affatto andata in disuso'. Komik in den Kantaten Antonio Ottobonis"). Trotz der weitgehend ablehnenden Haltung der zeitgenössischen Literaturtheorie beschäftigte sich Ottoboni mit komischen Themen. Die daraus resultierenden Kantaten weisen sowohl Bezüge zu den Scene buffe der Oper als auch zum um 1700 entstehenden Intermezzo auf, wobei die bisweilen ausgeprägte Frivolität der Texte wohl ein Grund dafür ist, dass sie nicht als Vorbilder für eine „gute" komische Poesie dienen konnten, wie sie von der Literaturtheorie gefordert wurde. Die Kantaten, die im Zusammenhang mit dem Besuch des bayerischen Kurprinzen Karl Albrecht in Rom (1716) komponiert wurden, stellte Andrea Zedler (Graz, „‚Roma avvezza a gl'eroi'. Kantaten für Kurprinz Albrecht in Rom") vor. Das Komponieren für einen bestimmten Anlass ist Ursache für die Aktualität der Kantatentexte und ihren Bezug zu politischen Situationen und Konstellationen.
Die weit verbreitete Streuung von Opern zum Ziele der Netzwerkbildung war Thema von Gesa zur Nieden (Mainz), was sie am Beispiel Carlo Francesco Pollarolos verdeutlichte („‚Questa forma perfetta di servire' oder ‚Il gustar di quà di là'? Carlo Francesco Pollarolo zwischen Venedig, Ottoboni und Rom"). Als Komponist mit musikdramatischen Qualitäten und vor allem überregionalen stilistischen sowie klassizistisch-dramaturgischen Kompetenzen bewies Pollarolo interkulturelle Fähigkeiten. Ebenfalls wies sie auf die wahrscheinliche Rolle Antonio Ottobonis als Protektor Pollarolos hin, was mehrfach zu lukrativen Anstellungen des Komponisten führte.
Die besondere Rolle der Oper Il Colombo von Pietro Ottoboni stand im Fokus des Vortrags von Klaus Pietschmann (Mainz, „‚Poète détestable, mais, en revanche, un heureux cardinal'. Das Fiasko von Pietro Ottobonis Il Colombo (1691)). Das Referat befasste sich mit den autobiographischen Bezügen des ungewöhnlichen Sujets der Oper und ging den Gründen für den Mißerfolg nach. Auch das Oratorium Assalone, dem ein Libretto von Antonio Ottoboni zugrunde liegt, sollte diesen Zweck erfüllen. Christian Speck (Koblenz) widmete sich diesem und anderen Oratorienlibretti Antonios und thematisierte sowohl konzeptionelle, als auch versifikatorische Spezifika („Die Oratorienlibretti Antonio Ottobonis im römischen Kontext"). Die Oratorien von Alessandro Scarlatti auf Texte von Pietro und Antonio Ottoboni untersuchte Karl Böhmer (Mainz, „Alessandro Scarlattis Oratorien auf Texte von Pietro und Antonio Ottoboni"). Er setzte sie in Verbindung zu zeitgenössischen theologischen und religiösen Strömungen, die sich in der päpstlichen Promotion von Heiligen und des Heiligenkultus ausdrückt. Gleichzeitig stellte er die Rolle von Oratorien – ähnlich wie die Opern im Haushalt Ottobonis – als Experimentierfelder für dramaturgische und musikalische Experimente heraus.
Ergänzt wurde die Tagung durch ein Konzert der Musikhochschule Mainz mit Kantaten über Texte Antonio Ottobonis, in dem Forschung und Praxis zueinander fanden: Während Studierende der Musikwissenschaft das Aufführungsmaterial erarbeitet haben, wurden die Kantaten von Studierenden der Musikhochschule dargeboten.
Die Tagungsbeiträge haben insgesamt gezeigt, dass die Kantaten-, Opern- und Oratorienproduktion der Ottoboni nicht nur der bloßen Unterhaltung von Adligen diente, sondern bestimmte Zwecke verfolgte. Die Tagung hat viele neue Aspekte in Bezug auf die römische Musikpatronage zutage gefördert und eine Fülle weiterer im Forschungsdiskurs zu klärender Fragen und Ansätze eröffnet. Durch die intensiven Diskussionen von wissenschaftlichen Problemstellungen konnten neue Forschungserkenntnisse gewonnen und validiert werden. Eine Publikation in der Reihe M.A.R.S. (Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento) ist vorgesehen.