„Schauspielmusik im Kontext der europäischen (Musik)Theatergeschichte"
Mainz, 15.-16.06.2012
Von Benjamin Scholten, Mainz – 02.07.2012 | Im Rahmen des im letzten Jahr am Musikwissenschaftlichen Institut in Mainz neu eingerichteten Themenschwerpunkts Schauspielmusik im Kontext der europäischen (Musik)Theatergeschichte fand dort am 15. und 16. Juni 2012 ein erster Workshop statt. Dieser diente einerseits der Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Forschungslage, vermochte darüber hinaus aber auch auf vielversprechende Desiderate aufmerksam zu machen. Drei thematische Sektionen widmeten sich unterschiedlichen Epochen aus den verschiedensten Perspektiven. Dabei wurden weite Bögen gespannt, die von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart reichten. Neben Musikwissenschaftern kamen auch Theaterwissenschaftler, Germanisten, Kulturanthropologen und Musiker zu Wort.
Prof. Dr. Irmgard Scheitler (Würzburg) konnte in ihrem Referat auf umfangreiche Forschungen im Rahmen eines eigenen DFG-Projekts zur Bedeutung der Musik im Drama der frühen Neuzeit zurückblicken. Anhand exemplarischer Beispiele legte Rashid-S. Pegah die Praxis der Aneignung von Opernarien im Rahmen von Schauspielaufführungen wandernder Theatertruppen im 17. und 18. Jahrhundert dar und wies damit auf die Relevanz von Archivmaterial für die Erschließung von scheinbar verloren geglaubten theaterpraktischen Realitäten hin. Ausgehend von der Bestandsaufnahme der diversen Gattungsbezeichnungen zwischen Schauspiel und Oper diskutierte Lydia Penzel für das frühe 19. Jahrhundert die Frage der Interferenzen zwischen den Genres. Beate Agnes Schmidt problematisierte das Phänomen der Wieder-Verwendung einer präexistenten Musik in deutlich verändertem Kontext in Goethes Weimarer Theater im Sinne von Intertextualität. Die Entwicklung im Umgang mit der Schauspielmusik in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert und deren durchaus eigenständiges Profil wurden von Antje Tumat (Hannover) thematisiert. Den Wiener Bühnen und ihren überraschenden Differenzen im Umgang mit der Schauspielmusik war der anschauliche Beitrag von Gerrit Waidelich (Wien) gewidmet. Angelika Tasler gewährte einen ersten Einblick in die umfangreichen Bestände zur Schauspielmusik, die aus dem Coburger Hoftheater stammen und die die Referentin nun in einem eigenen DFG-Projekt aufzuarbeiten beginnt.
Dass auch im nicht-deutschsprachigen Theater Musik seit Jahrhunderten eine essentielle Rolle spielt, machte zunächst Stephanie Klauk (Rom) für das spanische Theater des 16. Jahrhunderts geltend. Präsentiert sich Italien für die Zeit um 1800 bezüglich des Phänomens weitestgehend als terra incognita (Martina Grempler, Wien), wartet Skandinavien mit einer erstaunlichen Fülle und Vielfalt an musikbegleiteten Schauspielen insbesondere im 19. Jahrhundert auf. Jens Hesselager (Kopenhagen) diskutierte die Bestände des Königlichen Theaters in Kopenhagen. Während sich Sabine Stölting (Freiburg) einem spezifischen Genre, dem Unterhaltungstheater in Stockholm um 1850 zuwandte, fokussierte Lilli Mittner (Hannover) institutionell das Christiania Theater Oslo und dessen breit aufgestelltes Repertoire. Auch für das englische Theater und dessen Verwendung von Musik ergeben sich zahlreiche Perspektiven für zukünftige Forschungen; Meinhard Saremba (Mannheim) hob am Beispiel von Arthur Sullivan auch die Notwendigkeit von Editionen hervor. Ausgehend von Jules Massenet verdeutlichte Herbert Schneider (Saarbrücken) an einer Vielzahl von Beispielen den außerordentlichen Stellenwert der Musik in Schauspielkontexten speziell im französischen Theater des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Die dritte, dem 20. Jahrhundert gewidmete Sektion eröffnete Benjamin Scholten (Mainz) mit Überlegungen zur schwierigen Spurensuche, die das Genre der Schauspielmusik aufgrund ihres usuellen Charakters durch die Jahrhunderte begleitet. Dem mitunter problematischen Verhältnis von künstlerischer Imagination und konkreter Realisation widmete sich Ursula Kramer (Mainz), zugleich Leiterin des Mainzer Themenschwerpunktes, am Beispiel Max Reinhardts. Eine kontextualisierte, die gesamthistorischen wie persönlichen Hintergründe ausleuchtende Analyse der Zusammenarbeit zwischen Bertolt Brecht und Hanns Eisler nahm Ingeborg Allihn (Berlin) vor. Gunther Nickel (Mainz/Darmstadt) stellte Peter Hacks und dessen Arbeiten für Hörfunk und Bühne ins Zentrum seiner Ausführungen. Anhand dreier exemplarischer Inszenierungen bzw. Installationen von 1912, 1974 und 2012 hinterfragte Constanze Schuler (Mainz) die Wechselwirkungen und das Zusammenspiel von Klang und Raum. Im Fokus der Ausführungen von Michael Bachmann (Mainz) stand der Grenzbereich zwischen Theateraufführung und Hörspiel, den er anhand aktueller Münchner Inszenierungen auslotete. Martin Zenck (Würzburg) schließlich beschäftigte sich mit Pierre Boulez als Leiter der Compagnie Renaud-Barrault und wies mit Nachdruck auf die besondere Bedeutung der Schauspielmusik für dessen (späteres) Schaffen hin.
Zencks primär auf den Fall Boulez' bezogenes Plädoyer, das Genre keinesfalls als peripher abzutun, taugte darüber hinaus als Schlusswort für einen intensiven wie anregenden zweitägigen Workshop: Das Genre der Schauspielmusik verdient eine weiterführende, grundlegende Beschäftigung. In Mainz hat die Arbeit gerade erst begonnen.