„The Musical Culture of Silesia before 1742. New Contexts – New Perspectives / Muzyczna Kultura Śląska do 1742 Roku. Nowe Konteksty – Nowe Perspektywy“
Wrocław/Breslau, 08.-10.09.2011
Von Bernhold Schmid, München – 24.01.2012 | In den Jahren 2010 und 2011 führten die Polnische Akademie der Wissenschaften sowie die musikwissenschaftlichen Institute der Prager Karls-Universität und der Universität Breslau ein Forschungsprojekt zur Musikgeschichte Schlesiens aus der Sicht Polens und Tschechiens durch, in dessen Rahmen auch die von den genannten Institutionen in Verbindung mit dem Festival „Wratislavia Cantans“ organisierte Tagung stattfand.
Das Vortragsprogramm des international besetzten Symposiums eröffnete Veronika Mráčková (Praha): „The Silesian Tradition of Hymns to Czech Saints“; im Zentrum des Vortrags standen Hymnen-Kompositionen aus dem Codex Strahov. Jan Ciglbauer (Praha) sprach über „Two ‚Alleluias‘ in Nicolaus Cosel’s Manuscript: the Creation of New Liturgical Music in 15th-Century Central Europe”; die Handschrift I Q 466 der Universitätsbibliothek Breslau aus dem Besitz Cosels enthält einige wenige Musikalien, neben den Alleluia-Melodien auch zwei Credos im Cantus fractus-Stil. Vladimír Mañas (Brno) stellte „The Musical Culture of Opava/Troppau in Upper Silesia, ca 1550-1750“ vor, ein Thema, das den Forscher angesichts großer Quellenverluste aufgrund der Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg und schließlich durch den Zweiten Weltkrieg vor Probleme stellt. Allerdings existieren verschiedentlich Inventare, über die sich Vorstellungen vom ursprünglich Vorhandenen gewinnen lassen. „The Role of Silesia in the Development of Musical Culture in the Towns of Spiš and Šariš“ war Gegenstand von Janka Petöczovás (Bratislava) Referat. Beide heute in der Slowakei liegenden Städte waren von Schlesien musikalisch beeinflusst. Thomas Napp (Görlitz), „Der Meistergesang zwischen Görlitz und Breslau im ausgehenden 16. Jahrhundert“ zeigte am Beispiel Adam Puschmanns (eines Schülers von Hans Sachs), dass der Meistergesang nicht ausschließlich lokal positioniert war, sondern durchaus überregional transferiert werden konnte. Paweł Gancarczyk (Warszawa) sprach über „A New Fragment of 15th-Century Polyphony in Silesia and the Tradition of the Central-European Repertory“ (Ms. XV Q 1066 der Breslauer Universitätsbibliothek), das als Einbandmaterial in einer Inkunabel drei Sätze fragmentarisch überliefert. Lenka Hlávková-Mráčková (Praha), „Das Glogauer Liederbuch und die Traditionen des polyphonen Liedes in Mitteleuropa“, trug methodisch ausgerichtete Überlegungen zu Überlieferungsfragen vor. Jaap van Benthem (Utrecht), „Das Glogauer Liederbuch: eine unbeachtete Quelle für Johannes Tourout?“ untersuchte anonyme Sätze aus dieser Quelle auf eine mögliche Autorschaft Tourouts, der in der Mitte des 15. Jahrhunderts in der kaiserlichen Hofkapelle tätig war. Jacobijn Kiel (Houten / Heřmánkovice) stellte „Two Anonymous ,Salve‘ Settings in the Wrocław Codex (Warszawa, Biblioteka Uniwersytecka, RM 5892)“ vor, die beide aus frankoflämischem Umfeld stammen dürften. Christian Thomas Leitmeir (Bangor) behandelte „Lutheran Propers for Breslau/Wrocław: the ,Cantus Choralis‘ (1575) of Johannes Knöfel“; er charakterisierte die einerseits auf den Choral zurückgreifenden, andererseits aber immer wieder Chromatik aufweisenden Sätze als Brücke zwischen „past and future“. Marc Desmet (St-Étienne) und Bernhold Schmid (München) beschäftigten sich mit der vorzüglich bestückten Bibliothek des Gymnasiums in Brzeg. Desmet gab einen Überblick über „Handl’s Music in the Brieg Collection“: Handl ist dort mit insgesamt 16 Stücken in sieben Handschriften vertreten. Schmid stellte „,Nach dir, Herr Christe, thut mein hertz verlangen‘. Ein unbekanntes Kontrafakt zu Jacob Regnarts ,Tutto lo giorno‘ aus der Bibliothek des Gymnasiums in Brzeg“ vor. Grzegorz Joachimiak (Wrocław), „Lutenists from Silesia and Bohemia in the Circle of Count Losy von Losinthal (ca 1650-1721)“, machte mit der Tradition der offenbar weiter verbreiteten „Part of smith“-Stücke bekannt, in denen der Lärm aus der Werkstatt eines Hufschmieds musikalisch eingefangen wird. „Ein Schlesier aus Oppeln in Prag: Franz Ludwig Poppe (1671-1730) und seine Werke in tschechischen Sammlungen“ war Thema des Vortrags von Remigiusz Pośpiech. Poppe hat ein circa 160 Stücke umfassendes, zum guten Teil verlorenes Werk hinterlassen, das stilistisch in etwa Caldara nahesteht. Ludmiła Sawicka (Warszawa) sprach über „Die Besonderheit der Kirchenkantaten von Johann Georg Clement (ca 1710-1794)“, die nicht zuletzt darin besteht,dass der Komponist Charakteristika der evangelischen Kantate, so die deutsche Sprache, in den katholischen Gebrauch integrierte. Barbara Przybyszewska-Jarmińska (Warszawa) machte mit zwei katholischen Komponisten bekannt: „Marcin Mielczewski (d. 1651) and Alberik Mazák (1609-1661): a Silesian Perspective“. Tomasz Jeż (Warszawa), „The Jesuit Melodrama in the Baroque Glatz/Kłodzko“ konnte über 200 einschlägige Werke nachweisen; bei Aufführungen war u.a. der von Ludmiła Sawicka vorgestellte Johann Georg Clement als Sänger beteiligt. Paulina Halamska (Warszawa) sprach über „Protestant Elite Milieu in the 17th-Century County of Glatz as Exemplified by the Family of Breslau Organist Tobias Zeutschner“; dieser entstammte einer hochgelehrten Familie, die eine Reihe von Pastoren hervorgebracht hatte. Jiří Kroupa (Praha), „A Czech Version of the Song ,Omni die dic Mariae‘ in the Hymnbook of Jiřík Hlohovský (Olomouc 1622): a Polish Subject as an Instrument of Catholic Reformation in the Bohemian Lands“, gab mit dem vorgestellten Lied ein Beispiel aus dem Pisně Katholické, dem ersten Gesangbuch im Dienst der Rekatholisierung nach der Schlacht am am Weißen Berg. Agnieszka Drożdżewska (Wrocław), „Czech Musicians in the Theatrical Life of Silesia“, gab einen Überblick über die reiche Theaterlandschaft in Schlesien, wobei die Förderung durch Adelige wie die Familie Schaffgotsch eine große Rolle spielte. Václav Kapsa (Praha), „On the Way from Prague to Wrocław: Sacred Music by Early 18th-Century Prague Composers in Silesia“, beschäftigte sich mit Komponisten wie dem in St. Nikolaus in der Prager Altstadt tätigen Wenzel Gunther Jacob oder Jan Josef Ignác Brentner, deren Werke in Schlesien belegt sind. Dem musikalischen Transfer zwischen Böhmen und Schlesien waren zwei weitere Referate gewidmet: Stanislav Bohadlo (Hradec Králové), „Ivo Anton OFMC (1664-after 1709). Between Wrocław and Prague. Organist and Teacher of B. M. Černohorský“ und Marc Niubó (Praha), „B. Artopheus and B. M. Černohorský – the Last Traces of Music by Friars Minor Conventual in Wrocław“ machten jeweils deutlich, dass innerhalb der Orden, aber auch über die Ordensgrenzen hinweg ein reicher Austausch stattfand. Das Symposium abschließend schnitt Dominika Grabiec (Warszawa) einen Themenbereich aus der Musikikonographie an („The Motif ,deafening with trumpets‘ in Central European Iconography of the XV and XVI Centuries, the Religious Renewal Movement ,devotio moderna‘ and Reform of the Begging Monastic Orders“). Abbildungen von Szenen aus der Passion Christi, bei der Trompeten eine Rolle spielen, sind auf die Franzikaner und Dominikaner beschränkt.
Für das Programm zeichneten Remigiusz Pośpiech, Lenka Hlávková-Mráčková und Paweł Gancarczyk verantwortlich; die Organisation vor Ort ist dem Institutsleiter Remigiusz Pośpiech zu verdanken, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des musikwissenschaftlichen Instituts Wrocław, für die stellvertretend Agnieszka Drożdżewska genannt sei. Sie alle sorgten für einen harmonischen Verlauf des Symposiums, das Begegnungen und Austausch in denkbar angenehmer Atmosphäre zuließ. Aufgrund der thematisch breitgefächerten Vortragsfolge war es möglich, Einblicke in weite Bereiche der schlesischen Musikgeschichte zu gewinnen; eine meist lebhafte Diskussion sorgte für zusätzliche Erkenntnise und Austausch. Bei der Schlussdiskussion war man sich einig, dass die Erforschung der Musikgeschichte Schlesiens dringend fortgesetzt werden muss.