"Russian Émigré Culture: Conservatism or Evolution?"
Saarbrücken, 18.-19.11.2011
Von Anna Fortunova, Hannover – 17.03.2012 | Im Mittelpunkt des interdisziplinären internationalen Symposiums "Russian Émigré Culture: Conservatism or Evolution?" standen verschiedene Aspekte der Kultur Russlands „außerhalb der Grenzen" im 20. und 21. Jahrhundert, die sowohl unter musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher, als auch kunsthistorischer Perspektive behandelt wurden.
Den drei vertretenen Disziplinen entsprechend war die Konferenz in drei Sektionen eingeteilt. Nach der Begrüßung durch die Organisatoren Christoph Flamm, Henry Keazor und Roland Marti beschäftigte sich die erste Sektion (Leitung: Roland Marti) mit der Geschichte und Literatur Russlands im Exil in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Margarita Kononova (Moskau) betonte in ihrem Vortrag die wichtige Bedeutung der emigrierten russischen Diplomaten für die Unterstützung und Bewahrung der russischen Kultur im Exil. Katharina Bauer (Gießen) beschäftigte sich mit der Stellung des Schriftstellers Aleksej N. Tolstoj zur Emigration und kam zu dem Schluss, dass Tolstoj nach seiner Rückkehr in die Heimat für Westeuropa und die Emigration keine Zukunft sah, während er dem neuen Russland gegenüber sehr positiv gestimmt war. Julia Elsky (Yale) ging der Frage der nationalen Identität russischer Emigranten jüdischer Herkunft im Paris der zwanziger und dreißiger Jahre am Beispiel der französisch schreibenden Schriftstellerin Irène Némirovsky nach und analysierte ihre Novelle L´ Enfant prodige.
Die zweite Sektion des Symposiums (Leitung: Henry Keazor) widmete sich kunsthistorischen Fragestellungen. Eines der Hauptziele der Präsentation von Luca Skansi (Venedig) war es, den Gründen für das große Interesse russischer Künstler im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts an der deutschen Kunst nachzugehen, die seinen Darlegungen zufolge u.a. mit dem Begriff „Raumkunst" zusammenhingen. Artur Kamczycki (Posen) konzentrierte sich auf jüdische Traditionen in den Werken von El Lissitzky. Elina Knorpp (Köln) zeigte ein breites Panorama des Schaffens von Natalja Gončarova im Pariser Exil und verglich es mit ihren Bildern aus der russischen Periode. Gegenstand des Referats von Jelena Mežinski Milanović (Belgrad) war die Bedeutung der russischen Emigranten der ersten Welle für die Entwicklung der Kunst und der Kulturinstitutionen in Serbien. Der letzte Vortrag dieser Sektion von Gabriella Uhl (Budapest) befasste sich mit der Frage nach Multiidentitäten der bis zu ihrem Tod in Ungarn tätigen russischen transsexuellen Künstlerin El Kazovskij und den Erscheinungsformen dieser Identitäten in ihrem Œuvre.
In der dritten und größten Sektion der Konferenz (Leitung: Christoph Flamm) wurden verschiedene Aspekte der russischen Emigration im 20. und 21. Jahrhundert aus musikwissenschaftlicher Perspektive diskutiert. Marina Lupishko (Le Havre) referierte über die Rolle der russischen Folklore in Stravinskijs Ballett Les Noces, Thomas Radecke (Saarbrücken) rückte die Frage nach der künstlerischen Heimat des Komponisten Alfred Schnittke in den Vordergrund und Katerina Levidou (Lausanne) setzte sich mit der Еurasier-Bewegung am Beispiel von Pierre Souvtchinsky und Artur Lourié auseinander, wobei sie die Verbindungen zwischen dieser Richtung und der Kultur des „Silbernen Zeitalters" verdeutlichte. Die Referentin beleuchtete gleichzeitig einige damit verbundene kritische Ansichten zur modernen Kunst in ästhetischen Positionen Souvtchinskys und Louriés.
Eine weitere Referatgruppe dieser Sektion war dem russischen Musikleben im Berlin und Paris der Zwischenkriegszeit vorbehalten. Anya Leveillé (Bern) fragte nach russischen nationalen Identitäten in Werken, die im Pariser Exil geschrieben wurden, Maria Bychkova (Hannover) betrachtete die russischen Institutionen als Netzwerk im Berlin der zwanziger Jahre und Anna Fortunova (Hannover) ging der Frage nach, inwieweit die Musik an der Konstruktion einer russischen nationalen Identität im Berlin der zwanziger Jahre Anteil hatte.
Der letzte Teil der Konferenz begann mit dem Vortrag von Patrick Zuk (Durham), der anhand zahlreicher und prägnanter Beispiele Einblicke in Prokof'evs Briefe an Mjaskovskij gewährte. In Nadežda Mosusovas (Belgrad) Beitrag wurde die im Jahr 1933 in Belgrad uraufgeführte Oper Nikolaj Čerepnins Van'ka Ključnik vorgestellt. Elena Dubinets (Seattle) rückte anhand mehrerer Interviews, die sie mit außerhalb Russlands lebenden zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten geführt hatte, den Aspekt der russischen nationalen Identität ins Blickfeld ihrer Betrachtungen. Die lebhaften und anregenden kritischen Diskussionen bildeten einen wichtigen Bestandteil des Symposiums, das für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem ertragreichen wissenschaftlichen Ereignis wurde.
Bereichert wurde die Konferenz durch Konzerte des begleitenden Festivals „Russische Musik im Exil", das in Kooperation mit der Hochschule für Musik Saar vom 6. bis 19. November stattfand. An diesem Festival waren sowohl international renommierte Künstlerinnen und Künstler (wie Gennadij Roždestvenskij) beteiligt, als auch Studierende der Hochschule für Musik Saar. Auf dem Programm stand eine Vielzahl von Werken, die in Konzerten bisher kaum jemals zu hören waren und das Festival zu einem ganz besonderen Erlebnis werden ließen. Eine Veröffentlichung der Symposiumsbeiträge ist geplant.