Traum und Mu­sik­the­a­ter nach 1800

Kontinuitäten, Zäsuren, Perspektiven

Internationale Tagung

Tübingen, 18.-20.09.2024

Deadline: 31.01.2024

Die Tagung
Schlaf- und Traumszenen sind seit den Anfängen der Oper im 17. Jahrhundert ein fester Bestandteil der Gattung (Stenzl 1991: 1633). Ab 1800 lassen sich jedoch epochale Veränderungen beobachten, die gleichermaßen die Gattung selbst, wie den Traumdiskurs und allgemein den westlichen Kulturraum betreffen und bis in die Gegenwart reichen (s.u.). Die Tagung will diese Veränderungen und ihre Zusammenhänge aus einer interdisziplinären Perspektive erörtern und in ihren Auswirkungen bis in das zeitgenössische Musiktheater nachverfolgen.
Erwünscht sind Beiträge aus der Musikwissenschaft, insbesondere der Opera Studies, der Librettoforschung, der Musikethnologie und allgemein der historisch und/oder ästhetisch ausgerichteten Traumforschung, die sich mit dem Wechselverhältnis zwischen Traum und Musiktheater in den letzten 200 Jahren auseinandersetzen. Ausdrücklich willkommen sind auch kulturwissenschaftliche und philosophische Perspektiven auf das Tagungsthema sowie Beiträge, die das Spannungsverhältnis von Traum und Musiktheater außerhalb des westlichen Kulturraums hinterfragen.

Die Rationale
Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stellt einen bis heute anhaltenden Paradigmenwechsel in der europäischen Kulturgeschichte des Traums dar (Schmidt-Hannisa 2005: 177). Der Ursprungsort der Träume wurde in einen sub-rationalen Bereich im Inneren des Subjekts hineinverlagert (Engel 2010: 160) und als Stimme eines „Anderen der Vernunft“ (Böhme/Böhme 1983) gedeutet, in dem eine tieferer Wahrheit jenseits des Logos liegt. Das Traumphänomen wurde damit Teil einer Skepsis gegenüber der aufklärerischen Vernunft, die sich in der europäischen Kultur ebenfalls um 1800 abzuzeichnen begann: Die alogische Dimension des sensorischen, körperlichen oder emotionalen Erlebens wurde neu aufgewertet.
Auch der Musikdiskurs erfährt um 1800 eine tiefgreifende Wende: Die Musik wird zur „Sprache eines Unaussprechlichen“ (Hoffmann 1810: 631) und damit zum privilegierten Medium eines Anderen der Vernunft gedeutet. Seinerseits nimmt das Musiktheater  auf diese Zusammenhänge durchaus Bezug. Der für die Gattung konstitutive Mangel an Realismus wird zum Anlass genommen, die Oper häufig im Bereich des Wunderbar-Traumhaften und/oder des Unbewussten zu verorten (Stollberg 2004, 2006a u. 2006b: 243–272; Rentsch 2007: 194–266). Zahlreiche Beispiele aus der musiktheatralischen Produktion der letzten 200 Jahre belegen schließlich die Kraft des Traums, anthropologische Modelle, Subjektivitätskonzepte, mediale und gattungstypologische Konventionen sowie allgemein kulturelle Koordinaten zu hinterfragen und neu auszuhandeln, von R. Wagners Werken und theoretischen Schriften bis hin zu K. Saariahos Opern wie L’amour de loin (2000), Adriana Mater (2006) oder Only the Sound Remains (2016), von C. M. v. Weber Der Freischütz (1821), V. Bellini Il pirata (1827), G. Meyerbeer Le prophète (1849) oder A. v. Zemlinskys Der Traumgörge (1906) über F. Schrekers Der ferne Klang (1911), E. W. Korngolds Die tote Stadt (1920), B. Martinůs Juliette (1938) bis hin zu S. Sciarrinos Lohengrin (1983), L. Berios Un re in ascolto (1984), E. Rautavaaras Das Sonnenhaus (1991), A. Reimanns Das Schloss (1992), G. F. Haas‘ Koma (2015) oder O. Neuwirths Lost Highway (2003).

Mögliche Ausrichtungen und Fragestellungen

  • Untersuchungen von Zusammenhängen zwischen kulturellen, traumdiskursiven und gattungsimmanenten Veränderungen in der musiktheatralischen Produktion vom 19. bis zum 21. Jahrhundert: Inwieweit lassen sich Korrespondenzen, Kontinuitäten und/oder Asynchronizitäten zwischen den drei Bereichen feststellen?
  • Spezifische Traum- und Musikpoetiken einzelner Komponisten und Librettisten und ihre Kontextualisierung in den vorherrschenden ästhetischen und kulturellen Diskursen ihrer Zeit.
  • In welchem Verhältnis steht der Traum zum Modernismus des 20. Jahrhunderts und seinen jüngsten Erscheinungen im Bereich des Musiktheaters an der Wende zum zweiten Millennium?
  • Intermediale Perspektiven: Welche Strategien und Diskurse weisen Aspekte wie Bühnenbild, Lichtregie, Kostüm etc. in Bezug auf die Traumdarstellung auf? Und welche Rolle spielen dabei neue Medien wie Film, Live-Streaming, elektronische Klang- und Bildmanipulation?
  • Interkulturelle Dynamiken: Welche gattungstypologischen und medialen Veränderungen lassen sich beobachten, wenn das Musiktheater in Kontakt mit Kulturen tritt, die das Traumphänomen anders deuten als der westliche Raum?
  • Eine Sektion wird der kürzlich verstorbenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho gewidmet. Willkommen sind Beiträge, die die Präsenz und Funktion von Träumen in ihren musiktheatralischen Werken analysieren und kontextualisieren.

Formalia
Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch. Im Anschluss an die Tagung ist die Veröffentlichung ausgewählter Beiträge in einem Band der Reihe Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft (Tübingen: Tübingen University Press) vorgesehen.

Schicken Sie Ihren Vorschlag bitte bis zum 31.01.2024 als Exposé mit einem Umfang von maximal 3.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) in deutscher oder englischer  Sprache zusammen mit einem kurzen Lebenslauf in einer einzigen Word-Datei an: mauro-fosco.bertola@uni-tuebingen.de

 

Auswahlbibliographie

  • Bertola, Mauro Fosco: An der Schwelle von Geburt und Tod: Elsas Traum in Salvatore Sciarrinos Lohengrin (1983). In Ders.; Christiane Solte-Gresser (eds.): An den Rändern des Lebens. Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten. Paderborn: Fink 2019, 101–132.
  • Bertola, Mauro Fosco: Operatic Dreams. The Dream in Contemporary Opera. In Bernard Dieterle; Manfred Engel (eds.): Mediating the Dream / Les genres et médias du rêve. Würzburg: Könighausen & Neumann 2020, 655–668.
  • Bertola, Mauro Fosco: »Exhale – Inhale – Exhale (etc.)«. Traum, Soma und Musik in Kaija Saariahos ›From the Grammar of Dreams‹ (1988). In: Sophie Mehrbrey; Stephanie Catani (eds.): Träumen mit allen Sinnen. Sinnliche Wahrnehmung in ästhetischen Traumdarstellungen. Paderborn: Fink 2021, 303–318.
  • Bertola, Mauro Fosco: Post-Kantian Dreams. Kaija Saariaho’s operatic ontology and its dreamscapes in L’amour de loin. In: M. F. Bertola (ed.): The Sound of Žižek. Musicological Perspectives on Slavoj Žižek. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2023, 89–112.
  • Böhme, Hartmut; Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983.
  • Csobádi, Peter; Gruber, Gernot; Kühnel, Jürgen; Müller, Ulrich; Panagl, Oswald (eds.): Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004. Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2006.
  • Engel, Manfred: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. In: KulturPoetik 10/2 (2010), 153–176.
  • Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven. In: Allgemeine musikalische Zeitung 12/40 (1810), 630–642 u. 12/41 (1810), 652–659.
  • Redepenning, Dorothea: Traum und Musik: Romantische Opernträume. In: P. Oster; J. Reinstädler (eds.): Traumwelten. Interferenzen zwischen Text, Bild, Musik, Film und Wissenschaft. Paderborn: Fink 2017, 109–132.
  • Redepenning, Dorothea: Raskolnikows Traum – Literarisch und musikalisch. In: M. F. Bertola; C. Solte-Gresser (eds.): An den Rändern des Lebens. Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten. Paderborn: Fink 2019, 247–262.
  • Rentsch, Ivana: Anklänge an die Avantgarde. Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit. Stuttgart: Steiner 2007.
  • Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: »In mir ist ein Tummelplatz von Geschichten«. Traum und Brief bei Bettine von Arnim. In: P.‑A. Alt; C. Leiteritz (eds.): Traum-Diskurse der Romantik. Berlin: de Gruyter 2005, 176–194.
  • Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Die Geburt der Musik aus dem Geist des Traums. Zur Musikästhetik Richard Wagners. In: M. Guthmüller; H.-W. Schmidt-Hannisa (eds.): Das nächtliche Selbst. Traumwissen und Traumkunst im Jahrhundert der Psychologie 1 (1850–1900). Göttingen: Wallstein 2016, 310–327.
  • Stenzl, Jürgen: Traum und Musik. In: Musik-Konzepte 74 (1991), 8–102.
  • Stollberg, Arne: Durch den Traum zum Leben. Erich Wolfgang Korngolds Oper ›Die tote Stadt‹. Mainz: Are Musik-Verlag 2004.
  • Stollberg, Arne: »Ein Traum hat mir den Traum zerstört«. Phantasmagorien des Unbewussten in Erich Wolfgang Korngolds Oper ›Die tote Stadt‹. In: P. Csobádi; G. Gruber; J. Kühnel; U. Müller; O. Panagl (eds.): Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004. Anif/Salzburg: Müller Speiser 2006a, 498–509.
  • Stollberg, Arne: Ohr und Auge - Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker. Stuttgart: Steiner 2006b.
  • Stollberg, Arne: Musik und Musikwissenschaft. In: A. Krovoza; C. Walde (eds.): Traum und Schlaf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2018, 153–161.