Musikalische Regionalgeschichte
Arbeitstagung
Salzburg, 09.–10.11.2023
Von Johanna Jastrinsky, Hamburg – 25.04.2024 | Seitdem es schriftliche Aufzeichnungen über Musik in Salzburg gibt, zeigt sich eine deutliche Konstante: Die Region Salzburg zeichnet sich durch dynamische Interaktionen und Übergänge von lokalen, glokalen, globalen sowie europäischen Verflechtungsmechanismen aus. Diese Sonderstellung ist u. a. dem Umstand geschuldet, dass die Stadt eine Schlüsselfunktion als kultureller Knotenpunkt einnimmt, etwa als Grenzgebiet zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturräumen oder aus ökonomischen Gründen. Dies verdeutlichte jetzt auch die zweitägige Arbeitstagung Musikalische Regionalgeschichte, die am 9. und 10. November 2023 am Haus der Volkskulturen in Salzburg stattfand und durch den Arbeitsschwerpunkt Salzburger Musikgeschichte (Department Musikwissenschaft an der Universität Mozarteum Salzburg) in Kooperation mit dem Referat Volkskultur, kulturelles Erbe und Museen der Salzburger Landesregierung organisiert wurde.
Besonders inspirierend waren jene methodischen Ansätze, die im Spannungsfeld von Regional- und Globalforschung angesetzt waren. Im Laufe der Tagung wurden mögliche Wechselwirkungen und gegenseitige Potenzierung zwischen beiden Analyseebenen immer wieder in den Blick genommen und thematisiert sowie auf die jeweiligen Unterthemen und Fallstudien angewendet. So wurde mithilfe diverser regionalgeschichtlicher Ansätze und einer Vielzahl an Beispielen der Bogen zu einer „musikalischen Regionalgeschichte“ gespannt: Elf Vorträge deckten dabei ein breites Forschungsspektrum ab. Neben Martin Knoll (Salzburg), der die Arbeitstagung mit einer Keynote zur Regionalgeschichtsforschung als Perspektive, Methode und Gegenstand einleitete, waren zehn weitere namhafte Forscher*innen aus Salzburg, Graz, Wien u. a. als Vortragende eingeladen. Während der Tagung wurde an mehreren Stellen die Kernfrage nach der Maßstabssetzung für Regionalität aufgeworfen.
Bereits in seiner Keynote fasste Knoll Regionalität als ein Abgrenzen kleiner Räume von größeren Kontexten, wobei insbesondere Wege, Distanzen, Beziehungen und Vernetzungen zwischen regionalen Akteur*innen einen zentralen Aspekt bilden. Im Sinne eines „doing region“ müsste die Regionalgeschichte – etwa im direkten Vergleich mit landesgeschichtlichen Ansätzen – immer wieder „ihre Grenzen selbst“ neu finden und bestimmen.
Alexander Prenninger (Salzburg) zeigte in seinem Vortrag das Potenzial und die Grenzen der quantitativen Forschungsmethoden am Beispiel der historischen Netzwerkanalyse für die (musikalische) Regionalgeschichtsschreibung auf. Er spannte dabei einen Bogen über die vielseitige Verwendung des Terminus „Netzwerk“ als Metapher oder Modewort, als Form sowie als Methode und widmete sich insbesondere Letzterem, indem die Frage aufgeworfen wurde, inwiefern historische Netzwerke mithilfe quantitativ-empirischer Forschungsansätze darstellbar sind.
Auch Susanne Kogler (Graz) wies auf die mannigfachen allgemeinen Verbindungen zwischen Regional- und Globalgeschichte hin, welche sie im Kontext der musikhistorischen Forschung konkretisierte. Sie fasste die globalgeschichtlichen Bezüge der Musikgeschichtsschreibung als „Advokat*innen“ der Peripherie und das regional-global-verwobene Spannungsfeld bildlich im Sinne eines rhizomatischen Wurzelgeflechts. So entstehe Biographieforschung in erster Linie aus einem Gemenge von national-, regional-, lokal- und globalgeschichtlichen Gegebenheiten. Regionalität selbst interpretierte die Vortragende als Zuschreibungsprozess.
Ein weiteres Feld eröffnete der anschließende Vortrag von Elisabeth Hilscher (Wien), die die regionalgeschichtliche und überregionale Bedeutung des Wiener Stephansdoms im Sinne einer Milieuforschung untersuchte, wobei insbesondere institutionelle Beziehungen ins Blickfeld gerückt wurden. Dabei wurde etwa die Fragestellung aufgeworfen, wer die dort tätigen Musiker*innen finanzierte und welchen Stellenwert Repertoireaustausch und Repertoirebildung eingenommen haben.
Der erste Tagungstag wurde mit einem Referat von Wolfgang Gratzer (Salzburg) beschlossen. Anlass seiner Ausführungen war der kürzlich erschienene Sammelband Musik und Migration. Mit „homo migrans“ beschrieb Gratzer die für den Menschen charakteristische Eigenschaft des Raumwechsels. Auch seine Thesen waren von der Idee bestimmt, dass Lokal-, Regional-, National- und Globalgeschichten sich durch eine stete Gleichzeitigkeit auszeichnen – gerade auch im Kontext von Migrationsgeschichte(n). Er betonte dabei besonders das „doing“ jener Konstruktionsprozesse.
Einblicke in die regionale Geschlechterforschung bot Sabine Veits-Falk (Salzburg), die mit ihrem Vortrag zugleich den zweiten Tagungstag einleitete. Die Vortragende thematisierte dabei vor allem die Handlungsspielräume von Frauen in der Vergangenheit im Sinne eines „doing gender“. Die Kollektivbiografie diente ihr als methodischer Ansatz, um individuelle Lebensverläufe im kollektiven Kontext abzugleichen. Veits-Falk wies auf die Potenziale und Grenzen des Forschungsansatzes hin: So seien dadurch die Wirkmacht von Normen und strukturelle Hindernisse darstellbar, gleichzeitig bestehe die Gefahr, Geschlechterstereotype etwa durch Analogiesetzung zu reproduzieren.
Armin Brinzing (Salzburg) reflektierte in seinem Vortrag den Stellenwert der Provenienzforschung musikalischer Quellen für die musikalische Regionalgeschichte, wobei seiner Ansicht nach diese als Impulsgeberin der Regionalforschung fungiere, da sie versucht, historische Einheiten zu rekonstruieren. Überdies war es Brinzing ein besonderes Anliegen hervorzuheben, dass die Provenienzforschung über die bloße Katalogisierung hinausgehe und v. a. die Erschließung der Kontexte historischer Quellen beinhaltet.
Im Anschluss daran stellten Wolfgang Dreier-Andres und Hieronymus Bitschnau (beide Salzburg) den Institutionalisierungsprozess der Salzburger Volkskultur und des Volkslieds im Zuge einer an der Paris Lodron Universität Salzburg abgehaltenen Vorlesungstrilogie vor. Dabei wurden unterschiedliche thematische Schwerpunkte seit der Gründung des Österreichischen Volksliedunternehmens 1904 (als Vorgänger des heutigen Österreichischen Volksliedwerks) und der Salzburger Entwicklungen ab 1908 angeschnitten. Neben Metadaten und der online verfügbaren, teils digitalisierten Datenbanken katalog-salzburgervolkskultur.at und volksmusikdatenbank.at wurden ergänzend neue archivalische Fundstücke für die Konzeption der Vorlesungstrilogie herangezogen.
Der Leiter des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde, Michael Greger (Salzburg), stellte u. a. die Frage in den Raum, inwiefern und wann „Volkskultur“ als authentisch oder als historisch betrachtet werden könne. Grundsätzlich fasste er Identität als ein sozial, regional und zeitlich geformtes Selbstverständnis, das in steter Wechselwirkung mit Selbst- und Fremdbildern stehe. Neben Verweisen zur Konzeption von „mental maps“ forderte Greger dazu auf, volkskulturelle Stereotypisierungen zu hinterfragen und deren Durchlässigkeit wahrzunehmen.
Der vorletzte Vortrag thematisierte die Musikregion und Musiktraditionen Vorarlbergs. Silvia Thurner (Feldkirch) berichtete dabei praxisnah über ihre Arbeitsprozesse am Projekt der Musikdokumentationsstelle des Landes Vorarlberg. Insbesondere Interviews mit Künstler*innen nutzt Thurner, um die „Musiklandschaft“ zu dokumentieren. Ausdrücklich verwies sie darauf, dass nur jenes Material veröffentlicht werde, was von den Interviewpartner*innen abgesegnet wurde. Indem die Kooperation mit Künstler*innen aufgrund individueller Präferenzen und Eigenheiten jeweils anders verlaufe, handle es sich um einen vielfältigen Tätigkeitsbereich, der Geschick im Gespräch erfordert und Konflikte durchaus nicht ausschließt.
Zum Abschluss des Symposions gab Manfred Mittermayer (Salzburg), Leiter des Literaturarchivs Salzburg (LAS), einen Einblick in den dort auffindbaren Quellenfundus. Neben der Befassung mit Thomas Bernhard und anderen namhaften Autor*innen diene das LAS heute insbesondere als Kompetenzzentrum für Stefan Zweig. Speziell für den größeren Kontext der Tagung wurde zuletzt hier die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Langzeitarchivierung und Vermittlung aufgeworfen, weswegen auch dieser Beitrag eine große Schnittmenge zu den übrigen Vorträgen bot.
In Summa präsentierte die Arbeitstagung eine breite Palette an sowohl praxisnahen als auch theoriegeleiteten Forschungsmethoden, Perspektivierungen und Ansätzen und ermöglichte einen regen Austausch verschiedener Institutionen und Forscher*innen. Dabei wurde deutlich, dass das Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung einer Region nicht nur mit naturräumlichen Gegebenheiten und geographischen Skalen zusammenhängen, sondern auch mit konkreten kulturellen, sozialen und musikalischen Praktiken, die unter dem Stichwort „doing region“ auch die performative Dimension einer Region als identitätsstiftendes Konzept immer wieder auf faszinierende Weise in den Vordergrund rückten.
johanna.jastrinsky@hfmt-hamburg.de