„Opera where it doesn’t exist. Von der Peripherie in die Zukunft“
Greifswald und Rügen, 15.-17.05.2024
Von Ulrike Hartung und Verena Liu – 01.07.2024 | Eine Operntagung dort zu veranstalten, wo es eigentlich keine Oper gibt – zumindest nicht in Form eines repräsentativen Opernhauses – war die vermeintlich paradoxe Ausgangsidee für die Tagung „Opera where it doesn’t exist. Von der Peripherie in die Zukunft“: eine Veranstaltung der Musikwissenschaft an der Universität Greifswald unter der Leitung von Prof. Gesa zur Nieden in Kooperation mit der HMT Rostock, der HMT Leipzig und dem Theater Vorpommern sowie unter künstlerischer Leitung der freien Musiktheatermacherinnen Anja-Christin Winkler und der Dramaturgin Ilka Seifert. Ausgehend von einem aktuell in Greifswald laufenden Forschungsprojekt zu Oper als „geteiltes“ wie „kulturelles Erbe“ im Ostseeraum, das Teil des BMBF-finanzierten Verbundprojekts „Fragmented Transformations“ des Interdisziplinären Forschungszentrums Ostseeraum IFZO der Universität Greifswald ist, stellten sich Fragen nach den Peripherien von Oper – jenseits kultureller Zentren – und ihren Transformationspotenzialen für eine resiliente Zukunftsform der Gattung wie der Institution.
Die Frage nach der Oper der Zukunft wie auch nach der Zukunft der Oper wird seit einiger Zeit immer wieder gestellt. Aktuelle Denkanstöße, Fragestellungen und Krisenphänomene als Anlass dafür gibt es genug – seien es die Implementierung von Nachhaltigkeits- und Diversitätszielen, der #MeToo-Diskurs oder die Digitalisierung. Nicht zuletzt sind die anstehenden oder laufenden zum Teil milliardenschweren Sanierungsprojekte mehrerer Häuser ein Anlass, sich grundlegende Gedanken über Oper und ihre Praxis zu machen. Unter anderem die digitale Vortragsreihe „Kulturbauten der Zukunft“ 2020/21 ebenso wie die digitale Ringvorlesung des Forschungsinstituts für Musiktheater (fimt) der Universität Bayreuth „Oper und Co. für die Zukunft?!“ 2023/24 oder auch das „Netzwerk Freies Musiktheater“ adressieren damit virulente Fragen nach Gegenwart und Zukunft von Oper.
Daran anknüpfend stellten auch die Inhalte der Tagung grundsätzliche Fragen nach einem zeitgemäßen Umgang mit dem Opernkanon, dem Kulturangebot im sogenannten ländlichen Raum sowie Verbindungen von Naturraum und Kunstprojekten. Um es nicht bei theoretischen Überlegungen zu belassen, integrierte die Tagung ein temporäres Opernlabor direkt am Nordstrand von Wittow/Rügen. Dort verbrachte die Tagungsgesellschaft aus Wissenschaftler:innen, Studierenden und Musiktheaterpraktiker:innen einen gesamten Tag, um jenseits herkömmlicher Aufführungskonventionen an einem ephemeren und peripheren Ort wie dem Strand und in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit opernpraktischen Experimenten diesen Fragestellungen nachzugehen. Anja-Christin Winkler und Ilka Seifert formulierten in ihrem Konzept: „Unsere Opernanordnung verstehen wir als eine Untersuchung an einem Gegenentwurf zu großen Opernhäusern, die sich ebenfalls direkt am Meer/Wasser befinden, wie z.B. die Oper in Oslo oder Kopenhagen. Im Gegensatz dazu ist unsere Oper temporär, sie ist ökologisch unbedenklich und lässt das geologische und biologische System unbeschadet bestehen.“
Zwei Performances am Strand experimentierten mit Oper aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln: Während die erste Aufführung sich mit zentralen Figuren des tradierten Opernkanons auseinandersetzte, beschäftigte sich die zweite mit möglichen künstlerischen Verbindungen von Musiktheater, Publikum und Aufführungsort – in diesem Fall: dem Strand. Die Auseinandersetzung mit den Opernfiguren basierte auf gestalterischen Vorgaben, die aus dem Kreis der teilnehmenden Wissenschaftler:innen hervorgingen, welche bereits Monate zuvor darum gebeten worden waren, Figuren des Kanons zu nennen, die sie für besonders resilient und „zukunftsfähig“ halten. Die Wahl fiel auf Rusalka, Don Giovanni, Isolde, Tosca, Marquis Posa, Lucia di Lammermoor und Cherubino, deren zentrale Partien am Wittower Nordstrand durch Sänger:innen zu einander in Beziehung gesetzt wurden. Das sich frei am Strand bewegende Publikum erhielt die Option auf orchestrale Begleitung zu den performten Arien wie „Deh vieni alla fenestra“ oder Isoldes Liebestod über Kopfhörer und konnte zudem zwischen den verschiedenen Begleitungen wechseln und den Livegesang neu kontextualisieren. Neben dem Strand als Aufführungsort selbst fungierte ein abstrahierter 4x4m großer Proszeniumsrahmen (Holger Stark) als Bühnenbild, das final zu einem Floß umfunktioniert den Kräften des Meeres übergeben wurde. Die Kostüme lehnten sich an die jeweilige der Uraufführung der referenzierten Oper an (zur Verfügung gestellt vom Theater Vorpommern). So hatten die Teilnehmenden mit den Füßen im Sand sinnbildlich den festen bildungsbürgerlichen Boden verlassen und ließen die sich zum Teil überschneidenden Gesangsperformances auf sich wirken, die zur optionalen Orchesterbegleitung stets vom Rauschen der Ostsee begleitet wurden. Diese szenisch formulierten Überlegungen führte bei vielen zu neuen Eindrücken und Assoziationen, wie in der anschließenden Reflektion deutlich wurde.
Studierende der Kompositionsklasse von Prof. Benjamin Lang, Rektor HMT Rostock, gestalteten den zweiten Performance-Teil, für den sie künstlerisch-assoziativ das übergeordnete Thema „Warten“ umkreisten. Unter Einbindung des Publikums und der Natur entstanden so kleine musiktheatrale Szenen, bei denen u.a. eine überdimensionierte Balkenwaage, zwei Trompeter, die Opernfiguren aus der ersten Performance und eine Akkordeonistin ihren Auftritt hatten. Konstante akustische Begleitung war die rauschende Brandung der Ostsee. Die Kompositionen waren stark von durchlaufenden Rhythmen geprägt, auch loop-artige Wiederholungen waren prominent. Die Performance steigerte sich musikalisch und endete schließlich in einer gemeinsamen Prozession am Wasser entlang. Die Teilnehmenden halfen, den einstigen Proszeniumsrahmen zum Floß umzubauen und musikalisch begleitet zu Wasser zu lassen. Auf diesem Floß der Medusa sollte eine durch die Studierenden ausgewählte und durch ihr Kostüm repräsentierte Figur in die Zukunft geschickt werden. Die Studierenden entschieden sich nach intensiver Diskussion, die zu einer einstimmigen Lösung kommen sollte, für eine Joker-Figur, die erst noch erfunden werden muss. Diese kritische Perspektive auf den Opernkanon stellten den Schlusspunkt des eintägigen Opernlabors auf Rügen dar, das von weiteren reflektierenden Formaten und Vorträgen an der Uni Greifswald theoretisch rückgebunden wurde.
Umrahmt wurde der eindrucksvolle Tag auf Rügen von zwei halben Tagen am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald, die mit Vorträgen den Fragen nach der Zukunft der Oper nachgingen. Kultur im ländlichen Raum wurde aus humangeografischer Perspektive beleuchtet (Christine Tamásy, Greifswald), zwei Präsentationen widmeten sich der Musiktheatervermittlung an neues Publikum (Vanessa Zuber, Stralsund; Christian Plank-Baldauf, München), die Vielfalt des Musiktheaters an Stadttheaterbühnen des deutschsprachigen Raums (Kai Weßler, Wien) spielte ebenso eine Rolle wie Kollaborationen als Möglichkeitsräume für zukünftiges Musiktheater (Philipp Amelungsen, Schwerin) und nicht zuletzt wurden auch Zukunftsideen bezüglich Richard Wagner (Friederike Wißmann, Rostock) besprochen. Der abschließenden Reflexion der Tagung wurde ein größerer zeitlicher Rahmen gegeben, in der das Gehörte, Diskutierte und Erlebte noch einmal weiterführend ausgetauscht werden konnte. Einige wesentliche Punkte dabei waren: 1. Es gibt ein musik(theater)wissenschaftliches Forschungsdesiderat zu Opernfiguren. – 2. Der Opernkanon wird auch in Zukunft eine Rolle spielen, vermutlich aber in stärkerer Kontextualisierung als bisher üblich. – 3. Die sogenannte Peripherie ist ein wichtiger Motor für eine kreative Musiktheaterlandschaft. 4. In der unmittelbaren Zusammenarbeit von Wissenschaft und künstlerischer Praxis steckt enormes Potenzial für beide Seiten für die jeweilige Weiterentwicklung.
Die Tagung wurde aufwendig von einem Videoteam (Holger Stark et. al.) dokumentiert, das neben fotografischer Dokumentation vor allem einen Kurzfilm erstellt. Zudem wird eine wissenschaftlich-dokumentarische Publikation die aufgekommenen Fragen und Diskussionen schriftlich aufgreifen und weiterführen.