TOSC@ Bayreuth 2022
Bayreuth, 23.–26.06.2022
Von Felisa Mesuere, Hannover – 18.06.2023 | Seit 2015 findet im zweijährlichen Rhythmus die Transnational Opera Studies Conference mit dem einprägsamen Akronym TOSC@ statt, wobei sich das @ auf die jeweils gastgebende Stadt bezieht. Nachdem TOSC@ Bologna 2015 die Tagungsreihe ins Leben gerufen hatte, folgten 2017 TOSC@ Bern sowie 2019 TOSC@ Paris. Für 2021 war die Wahl auf Bayreuth gefallen, nicht zuletzt aufgrund der opernträchtigen Stadtgeschichte. Wie viele andere internationale Tagungen musste jedoch auch diese pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden. In drei parallel laufenden Panel-Sessions waren über drei Tage hinweg insgesamt 85 international besetzte Vorträge, darunter drei Roundtables und zwei Keynotes, zu hören.
Die Diversität der Teilnehmenden zeigte sich auch in der thematischen Gruppierung der Beiträge. So trugen allein vier Panels den Titel „Global Perspectives“ mit jeweils unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten, ergänzt durch ein eigenes Panel mit Fokus auf „PoC and/in Opera“. Neben dieser transnationalen Perspektive fungierte eine eher konventionelle, zeithistorische Einordnung als zentrales Gliederungsmerkmal. Nennenswert hinsichtlich der Epochengewichtung ist, dass das 21. Jahrhundert mit drei Panels gleich stark vertreten war wie das 19. und 20. Jahrhundert, im Gegensatz zum 17. und 18. Jahrhundert, das zusammengenommen mit zwei Panels weniger Raum einnahm. Hierin wird die zunehmende Auseinandersetzung mit Aspekten des zeitgenössischen Musiktheaters sichtbar. Populäre Formen des Musiktheaters fanden ihre Darstellung in zwei weiteren Panels, ebenso wie die „Glyndebourne Émigrés“ und „Oper im europäischen Fernsehen“ in jeweils eigenen „Themed Sessions“. Die Hauptbeiträge – zwei Keynotes (Tag 1 und 3) sowie die TOSC@-Award Winner’s Address (Tag 2) – bildeten den thematischen Rahmen der Konferenz.
Unter dem Titel „Collaboration makes us One, or is it Won? Principles to consider in producing global opera in an asymmetrical world“ eröffnete der Komponist Neo Muyanga (Kapstadt) die Tagung. In seiner Keynote lieferte er eine Bestandsaufnahme globaler Opernkollaborationen mit Blick auf Beziehungsgeflechte und Machtrelationen zwischen ungleichen Partnern. Dabei fungierten die Perspektive der „opera-maker“ aus dem globalen Süden und Beobachtungen aus der eigenen Praxis als Ausgangspunkte für seine Überlegungen. Neben Beschreibungen von Machtdynamiken und -gefällen fragte Muyanga explizit auch nach Möglichkeiten für eine, wie er es ausdrückte, „interessantere“ Gestaltung dieser Opernkollaborationen im 21. Jahrhundert. Seine Keynote regte die Diskussion zum ersten Tagungsschwerpunkt rund um „global opera“ an, die in den Panels “PoC and/in Opera” und „Global Perspectives“ I bis IV weitergeführt und vertieft wurde.
Den Höhepunkt dabei bildete der Roundtable „What is Black Opera?“ unter der Beteiligung von vier Mitgliedern des Black Opera Research Networks (BORN). Ausgehend von Naomi Andrés Konzeptualisierung der Black opera kreiste der Roundtable um deren globale Herausforderungen für die Opernforschung. In den Positionspapieren wurde das Phänomen aus vier unterschiedlichen geopolitischen und methodologischen Perspektiven beleuchtet. Auf Grundlage von Archivforschung führte Kirsten M. Turner (North Carolina State University) die radikale Aussage H. Lawrence Freemans weiter, dass Oper die geeignetste Gattung sei, um Schwarze Musik und Geschichten zu repräsentieren. Allison Smith (Boston University) wendete den Blick nach Südafrika und argumentierte, basierend auf langjähriger Feldforschung, dass dort sowohl das Aufführen als auch die Ausbildung im Opernbereich zwischen auf PoC gerichteter Pädagogik und eurozentristischen Praktiken changiere. Joshua Tolulope David (University of Toronto) setzte sich kritisch mit dem Konzept der vermeintlich „authentischen afrikanischen Stimme“ in Opernproduktionen auf dem afrikanischen Kontinent auseinander. Hilde Roos (Stellenbosch University, Südafrika) untersuchte eine mit europäischer Tradition zusammenhängende Terminologie in der Opernpraxis auf dem afrikanischen Kontinent.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt wurde im Zusammenhang mit der Keynote Monika Woitas’ (Ruhr-Universität Bochum) am letzten Konferenztag deutlich. Unter dem Titel „Opera as Performance Art“ argumentierte sie für den Schlüsselcharakter des Performativitäts- und Aufführungsbegriffs in der Theaterwissenschaft und Opernforschung der letzten Jahrzehnte. Dabei verwies sie auf Carolyn Abbates Aufsatz Music - Drastic or Gnostic? von 2004 als Ausgangspunkt des „performative turn“ innerhalb der Musiktheaterforschung. Die Bedeutung des Aufführungsmoments im Musiktheater zeigte sie anhand einiger zeitgenössischer Inszenierungen von Repertoirewerken, um zu verdeutlichen, wie das Performative von der Aufklärung bis zur Postmoderne stets einen konstituierenden Teil der Oper gebildet hat. Performance bzw. Aufführung versteht sie dabei als ambivalenten Text mit mehreren Ebenen, der mittels der Präsenz von Körpern sowie des Zusammenspiels diverser theatralischer Mittel die Wahrnehmung des Publikums herausfordere. Woitas schloss mit der Überlegung, dass ein performativer Perspektivwechsel dazu beitragen könne, Oper nicht länger als „klingendes Museum“ wahrzunehmen, sondern als lebendige Form zeitgenössischen Theaters.
Wie „die performativen Eigenschaften von Oper“ laut Woitas methodologisch überhaupt untersucht werden können, diskutierten die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des Forschungsinstituts für Musiktheater (fimt Bayreuth) im Rahmen des Roundtables „Oper und/als Performance: Multiperspektiven“. In einem ersten Teil legten Sid Wolters-Tiedge und Christine Stein die Grundannahmen und Methoden eines performativen Ansatzes für die Opernforschung dar. Den Ausgangspunkt hierfür bilde ein Verständnis von Oper als Werk, das der Aufführung bedürfe, um sein gänzliches Potenzial zu entfalten und wesentliche Elemente nicht im Verborgenen zu lassen. Mit Verweis auf Performativitätstheorien leiteten Wolters-Tiedge und Stein schließlich mehrere methodologische Ansätze zur Erforschung von Oper als Performance ab, u.a. artistic research, historisch informierte Aufführungsanalyse, Probenethnographie, aufführungsspezifische Partituranalyse und Publikumsbefragung. Diese wurden wiederum in einem zweiten Teil von Dominik Frank anhand eines konkreten Forschungsprojektes des fimt illustriert. Er berichtete von der iterativen, künstlerisch forschenden Annäherung an Wagner-Gesang im 21. Jahrhundert, die der Fragestellung folge, wie zeitgenössische Sänger*innen entsprechend historischer Aufführungspraxis singen und schauspielern können. Das methodische Vorgehen sei dabei zyklisch angesetzt: auf die quellenbasierte, historische Forschung folgt eine Phase, in der diese Erkenntnisse mit Sänger*innen im Probenkontext zur Anwendung gebracht werden, um die Ergebnisse in konzertanter Form als Reenactment aufzuführen. Die Reflexionsphase im Anschluss zeichnet sich durch Methoden qualitativer Sozialforschung aus und fungiert zugleich wieder als Ausganspunkt für neue, forschungsrelevante Fragestellungen.
Den dritten Hauptbeitrag neben den beiden Keynotes bildete die „TOSC@-Award Winner’s Address“ des*der letzten Preisträger*in. Der TOSC@-Award wird im zweijährigen Turnus an eine*n Nachwuchswissenschaftler*in für einen eingereichten Aufsatz vergeben. Neben einem Preisgeld kommt dem*der Gewinner*in die Aufgabe zu, bei der nächsten Tagung einen 45‑minütigen Vortrag mit anschließender Diskussion – ähnlich einer Keynote – zu geben. Unter dem Titel „What does ‚global opera‘ sound like? Aquinas Ried’s Telésfora (1846) and the idea of transnational opera“ hielt José Manuel Izquierdo (Pontificia Universidad Católica de Chile) sein Preisträger-Referat. Gegenstand war die Oper Telésfora des chilenischen Komponisten Aquinas Ried und die Umstände ihrer gescheiterten Uraufführung durch eine italienische Opernkompanie. Neben Parallelen zur italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts – Vicenzo Bellinis Norma fungierte als Inspirationsquelle – zeichnet sich Telésfora dramaturgisch dadurch aus, dass sie die Perspektive der Mapuche, Chiles indigener Bevölkerung, ins Zentrum rückt. In seiner Auseinandersetzung ging es Izquierdo weniger um die Rekonstruktion chilenischer Geschichte als darum, eine dezidiert transnationale Forschungsperspektive auf einen transnationalen Operngegenstand zu werfen. Dabei musste er sich auf eine recht schmale Quellenlage stützen, bestehend aus dem Opernlibretto, einigen wenigen Briefen und den Tagebüchern Rieds. Mit seiner These, Telésfora sei als Inbegriff einer transnationalen Oper zu verstehen, die möglicherweise zu transnational war, „to speak to anyone at all“, wagte der Preisträger wie wenig andere eine konkrete Annäherung an den Kernbegriff der Tagung.
Der Roundtable mit dem Titel „Grenzen der Zivilisation: Risse in der Rezeption italienischer Oper in Lateinamerika im 19. Jahrhundert“ bot am Folgetag Gelegenheit, die von Izquierdo aufgebrachte Thematik anhand von vier Fallstudien ausführlicher zu diskutieren. Bei allen vier Diskutierenden handelte es sich um Musikwissenschaftler*innen, die auf dem südamerikanischen Kontinent tätig sind. In ihren Beiträgen setzten sie sich kritisch mit dem vorhandenen Diskurs zur Relevanz der Operngattung als zivilisatorische Maßnahme aus Perspektive der lokalen, lateinamerikanischen Eliten im 19. Jahrhundert auseinander. Dabei fragten sie vielmehr nach den Grenzen der Einsatzmöglichkeiten von Opern für zivilisatorische Zwecke und somit nach den Rissen innerhalb dieses Diskurses. Am Beispiel der Konzertreise Henriette Sontags durch Mexiko zeigte Yael Bitrán Goren (CENIDIM-INBA, Mexiko) die Herausforderungen und Grenzen für Opernkompanien bei der Zirkulation europäischer virtuosi während der Cholera‑Epidemie von 1854 auf. Ähnlich diskutierte José Izquierdo die Auswirkungen der Gelbfieber‑Epidemie von 1842 in Guayaquil (Ecuador) auf die ersten Opernaufführungen in der Stadt sowie auf die Entwicklung einer lokalen Opernszene. Mit Blick auf Brasilien legte Paulo Kühl (Universität von Campinas, Brasilien) den Fokus auf die Diskrepanz zwischen den lokalen Publikumserwartungen angesichts der Ankunft ausländischer Opernsänger:innen und deren tatsächlichen Darbietungen. Vor dem Hintergrund einer kolumbianischen Anstandsgesellschaft, die besonderen Wert auf Selbstbeherrschung legt, analysierte Rondy Torres (Universidad de los Andes, Bogotá) Pressemitteilungen zu Opernaufführungen in Bogotá auf die Verwendung des Wortes „sublim“ hin.
Der letzte Konferenztag endete mit der Verleihung des TOSC@-Awards 2022 an Parkorn Wangpaiboonkit, Doktorand an der University of California, Berkeley. In seinem Dissertationsprojekt „Sounding Civilization: Race and Sovereignty in the Imperial Opera of Siam“ untersucht er, wie sich eine in einer Krise befindende Monarchie der Nachahmung europäischer Musik und Klangpraxen als Mittel kolonialen Überlebens zuwandte. Ähnlich wie die lateinamerikanischen Wissenschaftler*innen legte auch Wangpaiboonkit in seinem Aufsatz einen Schwerpunkt auf die Verhandlung kolonialer Begegnungen im Opernkontext, und zwar seitens lokaler Eliten im Königreich Siam, wo europäische Gesangskunst mit Tierlauten verglichen wurde. Zuletzt sei noch ein Blick auf das opernkulturelle Rahmenprogramm geworfen, das aufgrund seiner Vielfalt und guten Organisation einen eigenen Abschnitt verdient. Die Auftaktveranstaltung bildete ein Podiumsgespräch mit dem Titel „Aktuelle Wagnerforschung in Bayreuth“ in der Villa Wahnfried (Richard Wagner Museum) am Vorabend des Tagungsbeginns. In diesem Rahmen präsentierten Dr. des. Meihui Yu (Institut für Germanistische Mediävistik), Prof. Dr. Anno Mungen (Forschungsinstitut für Musiktheater) und Dr. María Josefina Irurzun (Gastwissenschaftlerin aus Buenos Aires am Lehrstuhl für Musikwissenschaft) ihre laufenden Forschungsprojekte mit unterschiedlicher, Wagner‑bezogener thematischer Ausrichtung. Moderiert wurde der Abend, an dem sich die Universität Bayreuth als zentraler Standort für Opern- und speziell Wagnerforschung präsentieren konnte, von Prof. Dr. Kordula Knaus (Bayreuth).
Den gesangsästhetischen Höhenpunkte des Rahmenprogramms bildete am ersten Abend ein Konzert mit dem Countertenor Kai Wessel, der Sopranistin Julia Kirchner und dem für historische Aufführungspraxis bekannten Ensemble Musica Alta Ripa im Markgräfischen Opernhaus. Auf dem Programm standen außergewöhnliche, selten gehörte Arien, Duette und Szenen von Opernkomponisten, die in Verbindung zu den fränkischen Höfen in Ansbach und Bayreuth stehen: Johann Rosenmüller (1619–1684), Pietro Antonio Cesti (1623–1669), Johann Wolfgang Franck (1644–ca. 1710), Pietro Torri (1650–1709), Giuseppe Torelli (1658–1709) und Francesco Antonio M. Pistocchi (1659–1726). Der Empfang im Iwalewahaus (Afrikazentrum, Universität Bayreuth) im Anschluss an das Konzert bot Raum für Vernetzung und informellen Austausch. Abgerundet wurde das Rahmenprogramm am Sonntag mit Führungen durch das Markgräfliche Opernhaus, das Richard Wagner Museum (Villa Wahnfried) und das Bayreuther Festspielhaus.
Dem besonderen Bedürfnis nach Austauschmöglichkeiten zweieinhalb Jahre nach Pandemiebeginn wurde TOSC@ Bayreuth 2022 damit gänzlich gerecht. Die Vorzüge einer Präsenztagung mit zusätzlichen, weniger formellen Begegnungsräumen wurden deutlich. Eine vielversprechende Tagungsfortsetzung ist bereits in Aussicht: Anfang August 2022 wurde der Call for Papers für die nächste TOSC@-Tagung veröffentlicht. Diese soll, um den ursprünglichen, zweijährlichen Rhythmus wieder aufzunehmen, bereits 2023 in Lissabon stattfinden. Neben der für TOSC@ üblichen, breiten thematischen Ausrichtung, soll ein Schwerpunkt auf dem portugiesischen Sprach- und Kulturraum liegen. Auch das 100-jährige Jubiläum der spanischen Opernsängerin Maria Callas sowie ihr Besuch in Lissabon vor 65 Jahren werden zum Anlass genommen, karrierebezogene, gesangsperformative und rezeptionsbedingte Aspekte der Opernikone in den Blick zu nehmen.