Tradycje śląskiej kultury muzycznej / Traditions of Silesian Musical Culture
Wrocław / Breslau, 08.-09.03.2023
Von Stephan Lewandowski, Cottbus-Senftenberg, und Gesine Schröder, Leipzig / Wien – 05.04.2023 | Anna Granat-Janki, die Inhaberin des Lehrstuhls für Musiktheorie und schlesische Musikkultur an der Musikakademie „Karol Lipiński“ Wrocław / Breslau, hatte – wie seit der Jahrtausendwende – auch die 16. Ausgabe einer an der Akademie seit 1980 existierenden Konferenzserie zu Traditionen schlesischer Musikkultur konzipiert und verantwortete diese inhaltlich. Organisatorisch wurde sie diesmal unterstützt von Miłosz Kula. Zu hören waren Vorträge von Forscher:innen aus der Slowakei (1), Tschechien (3), Deutschland (4) und Polen (18), wobei letztere außer einer Vortragenden aus Kraków / Krakau sämtlich schlesischen Institutionen affiliiert sind: neben der Musikakademie und der Universität Breslau der Universität Opole / Oppeln sowie der Musikakademie und der Universität Katowice / Kattowitz einschließlich deren Filiale in Cieszyn / Teschen.
Eröffnet und beschlossen wurde die Konferenz mit zwei Forschungsberichten. Helmut Loos (Leipzig) gab einen Überblick über in den letzten drei Jahrzehnten veröffentlichte deutschsprachige Studien zu Musik und Musikkulturen aus und in Schlesien. Er gestattete sich dabei einen Abstecher zur Lage der Breslauer Musikwissenschaft vor 1945, als Arnold Schmitz, dessen Wirken Loos schon vor zwei Jahrzehnten eine eigene Untersuchung gewidmet hat, an der Breslauer Universität lehrte. Der die Konferenz beschließende Forschungsbericht war veranlasst von dem 50-jährigen Bestehen der Musiktherapie-Abteilung an der Breslauer Musikakademie. Deren Leiter Paweł Cylulko (Breslau) fasste zusammen, welche Forschungen in seiner Abteilung, der ältesten polnischen auf diesem Gebiet, getätigt und publiziert worden sind.
Mehrere Vorträge der Konferenz waren Musikinstrumenten und deren Gebrauch gewidmet.
Wie Grzegorz Joachimiak (Breslau) zeigte, legt die Notensammlung der früheren Breslauer Stadtbibliothek nahe, dass Basso continuo-Stimmen zu Ensemblemusik an schlesischen Höfen im 17. Jahrhundert vorzugsweise auf Zupfinstrumenten – auf der Theorbe, der Erzlaute oder einer Chitarrone, womöglich sogar auf zweien – ausgeführt wurden und eher nicht auf einem Tasteninstrument, wohl in erster Linie wegen der lokalen Verfügbarkeit herausragender Instrumentalisten. Thomas Ertelt (Berlin) vollzog anhand von Manuskripten von Arnold Schönbergs Herzgewächse[n] (1912) nach, dass die Harmoniumstimme dieser Komposition von jenem speziellen Instrumententypus her erfunden und für die Aufführung detailliert eingerichtet war, der aus der im niederschlesischen Lwówek Śląski / Löwenberg ansässigen Werkstatt des Instrumentenbauers Johannes Titz stammte. Forschungen zu in Schlesien für traditionelle Musik gebrauchten Sackpfeifen präsentierte Zbigniew Jerzy Przerembski (Breslau). Er hatte untersucht, um welche Sorten des Instruments es sich speziell bei jenen handelt, auf denen schlesische Bergmänner in Ensembles mit anderen Instrumenten ein Repertoire nicht aufgeschriebener Musik spielen. Mit anderen ortsspezifischen Zusammenstellungen von Instrumenten zu Ensembles befasste sich Magdalena Szyndler (Teschen). Sie führte Musik aus den schlesischen Beskiden vor, die unter anderem mit einem Kuhhorn und wohl einer Okarina gespielt wird, dazu auch mit Geige, Bratsche, Kontrabass und Bassklarinette, hinzu kommt oft Gesang. Material für künftige musikethnologische Studien präsentierte Mariusz Pucia (Opole / Oppeln) mit einer aus den drei Jahrzehnten ab 1950 stammenden Sammlung des Volksmusikforschers Stanisław Śmiełowski: Aufnahmen der Oppelner Bezirksstation des Polnischen Rundfunks. Eine weitere Regionalstudie bot Bożena Muszkalska (Breslau) über Sounds des Terrors, eine anhand von Befragungen Überlebender durchgeführte Rekonstruktion von Musikaktivitäten im niederschlesischen Konzentrationslager Groß-Rosen und dessen Außenlagern. Zur Musikethnologie gehörte in gewisser Weise auch Daniela Střílkovás (Ostrava / Ostrau) Studie über einen modern zubereiteten, szenisch dargebotenen Chorsatz, zugleich ein Beispiel für die Vertonung eines Textes in einer fast ausgestorbenen nordmährischen Mischsprache. Mehr oder weniger gelungenen und infolge politischer Ereignisse oft unterbrochenen, manchmal auch abgebrochenen Kulturdialogen waren die Vorträge von Magdalena Dziadek (Krakau), Janka Petőczová (Bratislava) und Remigiusz Pośpiech (Breslau) gewidmet. Ausgehend von einer Chronik der Aufführungen von Beethovens Neunter und der Missa Solemnis sprach Dziadek über den oberschlesischen Beethovenkult in den Jahrzehnten zwischen 1900 und dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939. Petőczová thematisierte frühneuzeitliche, oft durch Religionszugehörigkeit veranlasste Musikermigrationen in den an Schlesien grenzenden Landschaften Zips, Scharosch sowie im südlicheren Komitat Gemer und Kleinhont, die zu vielfältigen Kontakten von Musikern dieser Gegenden mit solchen aus lutherischen Gebieten wie Görlitz oder – im Fall eines Kežmaroker / Käsmarker Musikers – sogar Flensburg geführt hatten. Pośpiech machte einen Streifzug durch die Schlesien-Aufenthalte berühmter Musiker:innen des 19. Jahrhunderts, darunter Beethoven und Liszt. Solche Aufenthalte wirkten sich nicht selten auf das spätere Musikleben vor Ort aus.
Auch das traditionell monografische, dem Werk (oft mehr noch dem Leben) eines Komponisten oder einer Komponistin gewidmete Format gab es. Zu solchen Vorträgen zählten fünf über Komponisten vor 1900 sowie vier über Kattowitzer und fünf über Breslauer Komponist:innen.
Die Vorträge über Komponisten vor 1900 befassten sich mit Heinrich Aloys Brückner (Mitte des 17. Jahrhunderts, genaue Lebensdaten unbekannt), Gottlob Benedict Bierey (1772–1840), Adolph Friedrich Hesse (1809–1863) und zweimal mit Carl Ditters von Dittersdorf (1739–1799). Das Schaffen Brückners, der aus dem schlesischen Lubomierz / Liebenthal stammte und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Kapellmeister der Prager Kathedrale war, sowie dessen enge professionelle Netzwerke nach Schlesien hatte Václav Kapsa (Praha / Prag) untersucht. Ditters, der über ein Vierteljahrhundert lang an mehreren schlesischen Orten gewirkt hatte und sein Lebensende an einem südböhmischen Ort zubrachte, war offenbar ein geschäftstüchtiger Musiker, weshalb er etliche seiner Stücke kontrafazierte: Opernarien wurden beispielsweise für geistliche Werke neu lateinisch textiert. Jana Spáćilová (Olomouc / Olmütz) berichtete von einem der Erkundung solcher Kontrafakturen gewidmeten Langzeitprojekt an ihrer Universität, in dessen Kontext auch Ditters’ Werkverzeichnis ergänzt und korrigiert wird. Der zugleich als Dirigent tätige Ditters-Forscher Kula (Breslau) untersuchte die Eigenart des Komponisten, in seinen zahlreichen Sinfonien bisweilen zwei Bratschenstimmen vorzusehen. Der doppelte Bratschenpart gebe einen spezifischen vollen Klang im mittleren Register, und wo solche Bratschenteilungen in Ditters’ 12 Sinfonien nach Ovids Metamorphosen, von denen sich sechs erhalten haben, auftreten, seien diese wohl auch tonmalerisch motiviert. Wegbereitend für eine Erkundung, welche Relevanz die Themenfelder ‚Wald – Schauder – das Unheimliche – Exotisches‘ für das frühromantische Komponieren in Schlesien hatten, dürften Agnieszka Drożdżewskas (Breslau) Studien über Bierey sein, denn sie verwies auf nur handschriftlich in der Breslauer Universitätsbibliothek aufbewahrte Manuskripte von Opern Biereys, der in die Geschichte der musikalischen Bearbeitung u. a. dadurch einging, dass er nach dem Adagio der ‚Mondscheinsonate‘ für Chor und Orchester ein Kyrie gesetzt hatte. Mit zwei Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen kompositorischen Bezugnahmen auf Carl Heinrich Grauns Oratorium Der Tod Jesu durch den Breslauer Organisten Hesse befasste sich Stephan Lewandowski (Cottbus-Senftenberg). Für Orgel schrieb Hesse eine Einleitung zu Grauns Oratorium sowie ein Präludium über zwei Themen einer einzelnen Nummer daraus. Grundlage für Lewandowskis analytische Untersuchungen zu diesen Kompositionen waren musiktheoretische Lehrwerke der Jahre um 1800, u. a. John Wall Callcotts Musical Grammar.
Eine Sektion zu Kattowitzer Komponisten galt Werken von Bolesław Szabelski (1896–1979), Andrzej Krzanowski (1951–1990), Aleksander Lasoń (*1951) und Alexander Nowak (*1979). Sie gab Gelegenheit, eine spezifische oberschlesische Komponiertradition der Jahre ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts kennenzulernen. Tomasz Kienek (Breslau) behandelte insbesondere Szabelskis Aforyzmy ‚9‘ (1962), eine späte avantgardistische Kammermusik, expressiv-abstrakt und dramaturgisch rätselhaft. Über den Szabelski-Schüler Henryk Górecki kam dessen Schüler Krzanowski aus derselben Tradition; u. a. mit Lasoń wird er üblicherweise zur Komponistengruppe der „Generation ’51“ gezählt. Magdalena Stochniol (Kattowitz) charakterisierte Krzanowskis Orchesterstück Canti di Wratislavia (1976) als gelungene Kollision kalkulierter kompositorischer Elemente mit spontan, intuitiv Niedergeschriebenem; Anflüge von Sonorismus tauchten nicht mehr auf, und umgekehrt restituierte Krzanowski hier noch keine alten Formen. Für Lasońs Komponieren spielen, wie Bogumiła Mika (Kattowitz) anhand von dessen konzertanter 5. Sinfonie Tao (2015–16) zeigte, die Kategorien ‚Zeit‘ und ‚Natur‘ eine Rolle; er setze sie mit breiteren und schmaleren Glissandobändern, verschwommenen und stark ornamentierten polyrhythmischen Flächen und immer wieder mit unvorhersehbaren Klangwucherungen um. Über die erste von mittlerweile vier Koproduktionen des Lasoń-Schülers Nowak mit seinem Librettisten Szczepan Twardoch sprach Gesine Schröder (Leipzig / Wien). Nowaks dramma per musica Drach (2019) setze die im Stück thematische ewige Wiederkehr um, indem der Komponist sowohl auf frühe Exempla des dramma per musica – bei Francesco Cavalli – rekurriere als auch an jüngere, beispielsweise durch polyphone Streichertexturen gekennzeichnete Klangflächenkompositionen oberschlesischer Komponisten anknüpfe.
Die Vorträge über Breslauer Komponist:innen galten Grażyna Pstrokońska-Nawratil (*1947), Zbigniew Karnecki (*1947), Rafał Augustyn (*1951), Agata Zubel (*1978) und Katarzyna Dziewiątkowska. In der Breslauer Konferenzserie zur schlesischen Musikkultur wird regelmäßig über das Werk von Pstrokońska-Nawratil gesprochen. Zahlreiche ihrer Werke wurden entweder von der Stadt Breslau beauftragt, oder die Komponistin hatte sie Breslauer Freunden geschenkt. Diese Werkreihe lässt sich als musikalische Chronik der Stadt lesen, wie Katarzyna Bartos (Breslau) aufzeigen konnte. Gleich alt wie Pstrokońska-Nawratil ist Karnecki. Seine Musik zu Filmen von Waldemar Krystek hatte Katarzyna Dziewiątkowska (Breslau) untersucht. Krysteks zumeist in Legnica / Liegnitz spielende Filme, darunter Mała Moskwa / Klein-Moskau (2008), unterlegte Karnecki mit modernen Klängen, dazu arrangierte er ein von der unglücklichen Protagonistin des Films gesungenes, zum Hit gewordenes Chanson als eine Art russischen Walzer. Dem Usus folgend, dass Musikolog:innen die Produktionen ihrer derselben Akademie angehörigen komponierenden Kolleg:innen beforschen, stellte Aleksandra Pijarowska (Breslau) den von Dziewiątkowska stammenden Stilmix im ersten Teil einer MiniOpera vor. Wer sich ein spätromantisches Revival zutraut, dessen Orchestration sollte virtuos sein: Anhand von Ausschnitten aus Augustyns stark besetzter und anspielungsreicher Symfonia hymnów wies Aleksandra Ferenc (Breslau) auf inter-, trans- und architextuelle Bezüge u. a. zu Gustav Mahler hin. Drei experimentelle Werke zu Texten von Samuel Beckett hat Zubel in den Jahren 2007, 2010 und 2012 komponiert. Diese von der Vokalperformance ihrer Erfinderin lebenden Stücke untersuchte Granat-Janki (Breslau) semiologisch, ein in Polen verbreiteter Analysezugang. Die musikalische Transformation des emotionalen Gehalts von Becketts Texten bleibe vage, die Stücke eröffneten indes Wege zu einer trans-semiologischen Lesart, die die Körperlichkeit der Interpretin mitbedenkt.
Als Beiprogramm der Tagung war am ersten Tag, dem internationalen Frauentag, ein Orgelkonzert zu hören. Piotr Rojek spielte auf der barocken Orgel der St. Elisabethkirche im Zentrum Breslaus ein Programm mit Stücken von Bach, Buxtehude sowie Improvisationen in verschiedenen Stilen, die der Organist „den Frauen“ gewidmet hatte: Auf ein polyphones Stück, das im Klanggewand von Musik etwa Mitte des 18. Jahrhunderts daherkam, folgte ein weiteres, das auf Musik des frühen 20. Jahrhunderts Bezug nahm und mit seinen Akkordrückungen und Skalen teils impressionistischen Charakter besaß. Es blieb der Eindruck einer risikofreudigen Musikkultur an einem Ort, der den anhaltenden künstlerischen und wissenschaftlichen Austausch lohnt.