Aufbruch und Erinnerung. Die Komponisten Paul Ben-Haim und Stefan Wolpe
München, 17.-19.11.2022
Von Julin Lee, München – 05.04.2023 | Die internationale Tagung „Aufbruch und Erinnerung. Die Komponisten Paul Ben-Haim und Stefan Wolpe“ fand vor Ort und online am Musikwissenschaftlichen Institut der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) statt. Die auf Deutsch und Englisch abgehaltene Tagung wurde in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Paul Sacher Stiftung Basel durchgeführt. Das Programm umfasste eine Reihe von Vorträgen mit geladenen Gästen aus Israel, den USA, Deutschland und der Schweiz. Zwei öffentliche Konzerte mit Studierenden der HMTM, bei denen ausgewählte Werke der beiden Komponisten („Aufbruch“, am 17.11.) und ihrer Schüler*innen („Erinnerung“, am 18.11) erklangen, rundeten die Tagung ab.
In Anbetracht ihrer gemeinsamen Erfahrung von Verfolgung und Flucht aufgrund ihrer jüdischen Herkunft mag es zunächst naheliegend erscheinen, diese beiden Komponisten als Mittelpunkt der Konferenz zusammenzubringen. Doch ein Blick auf ihr künstlerisches Schaffen zeigt, wie sehr sich ihre ästhetischen Positionen auseinanderentwickelten: Ben-Haim war eher traditionell orientiert, während Wolpe der Avantgarde zuzuordnen ist. Dennoch teilten sie die Neigung, ihre frühen, durch die europäische Musik geprägten Werke mit ihren nach der Emigration entwickelten neuen Kompositionsstilen zu vereinen. Ihre Werke zeigen, auf welch vielfältige Weise sich die Erfahrungen von Exil im künstlerischen Schaffen niederschlagen können.
Zum Auftakt erläuterte Brigid Cohen (New York University), wie sich Ben-Haim und Wolpe als Flüchtlinge an das Leben im Mandatsgebiet Palästina in den 1930er Jahren anpassten und durch ihre Freundschaft und Zusammenarbeit mit jemenitisch-jüdischen Musiker*innen neue kompositorische Methoden entwickelten, die zu Werken führten, die für die nationale israelische Kunstmusik und damit auch für die israelische Staatsbildung grundlegend waren. Sie untersuchte diese Zusammenarbeit vor dem Hintergrund der sozial-hierarchischen Spannungen zwischen Jischuw und Mizrachim-Juden im Vorfeld der israelischen Staatsgründung.
Cohens vergleichender Ansatz wurde durch die drei folgenden Beiträge ergänzt, die sich jeweils mit Einzelstudien zu den Werken von Ben-Haim und Wolpe befassten. Yuval Shaked (University of Haifa) und Larson Powell (University of Missouri, Kansas City) widmeten sich Wolpes Werken gleich nach seiner Emigration aus Palästina 1938. Auf Basis einer gründlichen Analyse von Wolpes Music for Any Instruments (1944–1949) hob Shaked die experimentellen Züge der Komposition hervor und demonstrierte, dass sich das Stück einer geradlinigen analytischen Erklärung entzieht. Somit zeugt die Komposition von Wolpes Streben nach einer neuen musikalischen Sprache, die seiner Lebens- und Schaffenssituation entsprach. Powell hingegen untersuchte Wolpes Drei Lieder von Bertolt Brecht (1943), die nur wenige Jahre nach Wolpes Ankunft in New York komponiert wurden. Er verortete sie sowohl in Wolpes Œuvre als auch im musikalisch-politischen Kontext der New Yorker Nachkriegszeit. Dabei zog er Parallelen zwischen der Entwicklung von Wolpe in seinen Exiljahren und der von Hanns Eisler sowie Paul Dessau, die ebenfalls Brechts Svendborger Gedichte vertonten. Neben diesem Vergleich und Überlegungen zum intendierten Publikum griffen Powells Erläuterungen weiter auf die Vermittlung zwischen Musik und Politik aus und luden dazu ein, über die Nützlichkeit aktuellerer theoretischer Perspektiven zu politischer Musik nachzudenken.
Mit Irit Youngermans (University of Haifa) Beitrag zu den beiden Sinfonien Ben-Haims aus der Kriegszeit kehrte das Programm nach Palästina zurück. In der Literatur wurden Ben-Haims Sinfonien in der Regel als Experimente bei der Entwicklung eines neuen Nationalstils angesehen. Betrachtet man sie jedoch im unmittelbaren historischen Kontext sowie im breiteren internationalen Kontext der antifaschistischen Bewegungen, tritt der oppositionelle Aspekt der Sinfonien in den Vordergrund. Youngerman plädierte überzeugend für eine entsprechende Kontextualisierung der Sinfonien und zeigte, dass die „Aufbruchstimmung“, die Ben-Haims Kriegssinfonien kennzeichnete, eine Form des Widerstands war, die eng mit dem wichtigsten Ereignis im Musikleben des Jischuw verbunden war: die Gründung des Palestine Orchestra 1936.
Der Prozess des Zitierens von Volksmelodien in westlicher Kunstmusik ist nicht neu. Gila Flam (National Library of Israel, Jerusalem) widmete sich der Frage, inwieweit Ben-Haim Volksmusik als Prätext verwendete, um einen neuen israelischen Musikstil zu schaffen. Ausgehend von ihrer umfangreichen Erfahrung mit und Kenntnis von Archivmaterial zu Ben-Haim argumentierte sie, dass er keine Synthese von „Ost und West“ vollzog, sondern ein „westlicher“ Komponist für das Konzertsaalpublikum blieb. Er wurde demnach nicht wegen seiner Musik zum israelischen Nationalkomponisten, sondern aufgrund seiner Selbstdarstellung sowie der Darstellung durch Musikwissenschaftler*innen und Musikkritiker*innen. Beim Thema der Historiografie verblieb Assaf Shelleg (Hebrew University of Jerusalem) und hinterfragte den monolithischen Begriff der Kunstmusik in der jüdischen Gemeinde Palästinas. Er kritisierte die von territorialen und religiösen Topoi geprägten teleologischen Darstellungen, in denen mehrere ineinandergreifende Faktoren übersehen werden. Er versuchte, die vielschichtigen Elemente – unter anderem Bibliozentrismus, Territorialismus und Westlichkeit –, welche die Diskussionen um Bedeutung der israelischen Kunstmusik bis heute prägen, zu dekonstruieren.
Das Thema des Zitierens wurde durch den Beitrag von Liran Gurkiewicz (Tel Aviv) wieder aufgegriffen, der die Selbstreferenz mit Blick auf Ben-Haims noch in München entstandenes Oratorium Joram (1933) untersuchte. Welche Bedeutungen und Funktionen hatten zahlreiche Joram-Zitate in den späteren, in Israel komponierten und aufgeführten Werken, wenn man bedenkt, dass das Joram-Oratorium erst 1979 in Israel öffentlich aufgeführt wurde? Wenn Ben-Haim also mit diesen Bezügen kein nach außen gerichtetes kommunikatives Ziel verfolgte, können die zitierten Motive als Ausdruck seiner Erinnerung an die Vergangenheit und Reaktion auf neuere Lebenserfahrungen verstanden werden, wie zum Beispiel die Identifikation mit dem Protagonisten des Oratoriums durch das Zitat des „Heimkehrmotivs“ in seiner ersten Sinfonie.
Das Thema der Erinnerung wurde in Friedrich Geigers (Hochschule für Musik und Theater München) Beitrag zum Thema „Stefan Wolpe und der Jazz“ erneut angesprochen, der den Abschluss des ersten Vortragstages bildete. Zunächst erläuterte Geiger, wie sich Wolpe mit den musikalischen Merkmalen sowie der gesellschaftlichen Bedeutung des Jazz im Berlin der 1920er Jahre auseinandersetzte und stellte dar, wie Wolpes Jazzrezeption mit seinem politischen Engagement einherging. Anschließend zeigte Geiger anhand von Wolpes Quartet for Trumpet, Tenor Saxophone, Percussion, and Piano (1950, rev. 1954), dass seine erneute Auseinandersetzung mit Jazz in Amerika nicht bloß eine Fortsetzung der Verbindung von Jazz und Politik bildete, sondern gar die Synthese seines künstlerisch-biografischen Weges darstellte, der sich von Berlin über eine Station in Wien (und Anton Webern) bis in die USA erstreckte.
Am nächsten Tag setzte Heidy Zimmermann (Paul Sacher Stiftung Basel) das Programm fort, indem sie Wolpes Zeit in Palästina beleuchtete. Im Zentrum ihres Beitrages standen seine Vokalkompositionen zwischen 1934 und 1938, von denen die meisten unveröffentlicht und daher weitestgehend unerforscht geblieben sind. Sie führte exemplarisch Beobachtungen zu Wolpes Einlassung auf die hebräische Sprache, seinen Strategien bei der Adaption von Prätexten sowie seiner Auseinandersetzung mit musikalischen Elementen der Umgebung vor. Dabei stellte sie heraus, wie er seine Erfahrung als Avantgarde-Komponist nutzte, aber auch lokale Musiktraditionen integrierte. So rief sie in Erinnerung, dass kompositorische Aktivitäten von interpretatorischer Praxis, von Möglichkeiten der Realisierung und ihrer Rezeption bestimmt werden.
Martin Brody (Wellesley College, Massachusetts) beschäftigte sich mit der Frage der Unbestimmtheit des Kompositionsprozesses in den hebräischen Liedern von Wolpe. Auf der Grundlage eingehender Analysen von Wolpes Art der Liedvertonung in Verbindung mit der kritischen Lektüre seiner Schriften und Gespräche schlug Brody vor, sie als ein Laboratorium für die Erforschung eines unbestimmten musikalischen Raums zu betrachten. Er erläuterte, wie die produktive Spannung zwischen der Aufrechterhaltung der kompositorischen Souveränität und dem Einfluss der musikalischen Klänge, die Wolpe in Palästina hörte, zu einer Wechselwirkung führte: Verschmelzungen in struktureller und kultureller Hinsicht und die Entwicklung neuer stilistischer Bereiche. Tobias Reichard (Hochschule für Musik und Theater München) untersuchte die Bedeutung der Gattung Lied für Ben-Haim, indem er seine Auseinandersetzung mit ihr durch sein gesamtes Œuvre verfolgte. Reichard eröffnete ein weites Spektrum von Einflüssen auf Ben-Haims Schaffen und stellte die These auf, dass die Lieder eine wichtige Rolle in seiner kompositorischen Entwicklung spielten, indem sie als Grundlage für die Genese von musikalischen Ideen dienten, die er später auf seine Instrumentalwerke übertrug.
Die beiden letzten Vorträge der Konferenz befassten sich mit dem Vermächtnis der beiden Komponisten, vor allem als Lehrer. Ronit Seter (Jewish Music Research Centre, Fairfax, Virginia) untersuchte Ben-Haims bedeutenden Einfluss auf die Komponist*innen der israelischen Kunstmusik bis in die Gegenwart und konzentrierte sich dabei auf dessen Schüler Tzvi Avni (geboren 1927 in Saarbrücken). Sie thematisierte Avnis Identität als (deutsch-)israelischer Exilkomponist sowie seine zwiespältige Sicht auf seine Vergangenheit. Am Beispiel von The Ship of Hours (1999) argumentierte Seter, dass Avnis doppelte europäische und israelische Identität in dieser Komposition verkörpert sei, was seine Darstellung als eindeutig israelischer Komponist erschwert. Zum Abschluss des Programms zeichnete Wolfgang Rathert (Ludwig-Maximilians-Universität München) ein anschauliches Bild der Lehrerpersönlichkeit Wolpe, wobei er hervorhob, wie die Ausstrahlung einer unglaublichen Energie immer wieder in den Erinnerungen seiner Schüler*innen auftauchte. Wolpes einzigartiges Unterrichtskonzept stieß auf Bewunderung, aber auch auf Widerstand, und Rathert veranschaulichte dies anhand zweier seiner wichtigsten Schüler*innen, Ralph Shapey und Ursula Mamlok. Während Shapey durch die Transformation von Werkzeugen und Strategien, die ihm Wolpe an die Hand gab, immer wieder zu seinem Lehrer zurückkehrte, emanzipierte Mamlok sich von ihm, jedoch nicht ohne anzuerkennen, dass ihre Erfahrung mit Wolpe für ihre kompositorische Entwicklung wichtig war, wenn auch auf paradoxe Weise. Zum Abschluss der Tagung erklangen Mamloks Variations for Flute Solo (1961), die während ihrer kurzen aber andauernden Zeit als Schülerin Wolpes entstanden sind, aufgeführt von Pierre Hurbli (Hochschule für Musik und Theater München) nach einführenden Worten von Bettina Brand (Dwight und Ursula Mamlok-Stiftung Berlin).
Die produktive Gegenüberstellung dieser beiden faszinierenden Komponisten, Paul Ben-Haim und Stefan Wolpe, mit ihrer gemeinsamen Erfahrung der Vertreibung, aber unterschiedlichen Reaktionen darauf auf ihrem Lebensweg und bei der Entwicklung des kompositorischen Stils, warf ein neues Licht auf die Verbindung von Musik und Exil sowie Politik im weiteren Sinne. Die regen Fragerunden und lebhaften Diskussionen zeigten, dass die Erforschung von Themen wie persönlicher und künstlerischer Identität sowie den damit verbundenen stilistischen Kontinuitäten und Brüchen noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Tagung trug ihren Namen zu Recht: als „Aufbruch“ zu breiteren Ansätzen und Perspektiven im Panorama der Exilmusikforschung und als respektvolle „Erinnerung“ an Künstler*innen und ihre erstaunlichen Leistungen angesichts unfassbar schwieriger Herausforderungen.