Cas­trato Sing­ers in Op­era: The Cur­rent State of Re­search

Loveno di Menaggio, 21.-24.10.2021

Von Heidrun Eberl, Weimar - 25.03.2022 | Mythen über den Kastratengesang dekonstruieren, neue Quellen erschließen, Kontexte erhellen, die Rezeption und Bedeutung des Kastraten-Phänomens interpretieren und reflektieren – mit diesen Stoßrichtungen gab die international angelegte Konferenz ein vielschichtiges Forschungsprogramm vor, worin die historischen Voraussetzungen seines Gegenstands genauso thematisiert wurden wie Aspekte seiner heutigen Aktualität.

Ausgehend von der Feststellung, dass Kastratenforschung in unterschiedlichen Disziplinen seit Jahren Konjunktur hat, wurde die Konferenz von Valentina Anzani (Bologna/Madrid) und Arnold Jacobshagen (Köln) mit der Absicht initiiert, Austausch über Forschungsprojekte zu fördern und möglichen Kooperationen den Weg zu ebnen, und fand – ursprünglich geplant für 2020 – im vergangenen Herbst am Deutsch-Italienischen Zentrum für den Europäischen Dialog in der Villa Vigoni am Comer See in Italien hybrid statt. Ein zentraler Programmpunkt der Konferenz war die Gründung eines interdisziplinären Forschungsnetzwerks (https://www.castratostudies.com/).

Von den Teilnehmenden wurden Vorträge und laufende oder geplante Forschungsprojekte präsentiert. Mehr und weniger explizit thematisierten viele die Notwendigkeit, in Populärkultur und Forschung hartnäckig kursierende Kastraten-Mythen auf den Boden von (dokumentarischen) Tatsachen zu stellen. Besonders in Bezug auf ihre Stimmen: „atemberaubende Agilität und Virtuosität, übermenschlicher Ambitus, unermesslich langer Atem“ – solche und ähnliche Zuschreibungen, so forderte Stefano Aresi (Alkmaar), sollten an Notenmaterialien und Paratexten sowie musikpraktisch-performativ überprüft werden. Er selbst exemplifizierte am Fall der legendären „bomba di Marchesi“, dass schwärmerische Imagination und historische Aufführungspraxis weit auseinanderliegen können. Auch Marco Beghelli (Bologna) plädierte für mehr Realismus: Aus Sicht der Vokaltechnik könne man heute den Kastraten als hohen Tenor bezeichnen und müsse seine Stimme, die dank der Hormonproduktion der Nebennierenrinde ja nicht vollkommen testosteronlos gewesen sei, vor allem als Effekt eines extensiven Trainings betrachten. Mit der Erinnerung an ‚note baritone‘ und Kastraten, die ganze Arien und Rezitative in Tenorlage gesungen hätten, stellte er auch die Aufnahme eines 24jährigen Skopzen zur Diskussion, der als Knabe kastriert worden sei, aber über eine verhältnismäßig tiefe Sprechstimme verfügt habe.

Andere vermeintliche Gewissheiten wurden durch das Zusammentragen neuer Quellenbefunde in Frage gestellt. So schilderte Valentina Anzani unter Bezugnahme auf notarielle Akten einerseits die gemeinhin bekannten, diskriminierenden Folgen einer Kastration (Ausschluss von der Ehe, somit aus der Erbfolge, juristische Unmündigkeit), aber andererseits auch die Möglichkeiten und Wege der Betroffenen, diesen zu begegnen: durch Adoptionen, Kohabitationen ohne kirchlichen Segen oder das Aufsetzen von Urkunden zum Nachweis ihrer Integrität. Der Annahme, Kastraten hätten in der Opera buffa keine Rolle gespielt, konnte Valeria La Grotta (Neapel) beachtliche Statistiken entgegensetzen. Kordula Knaus (Bayreuth) kontextualisierte diese mit Überlegungen zu wechselseitigen Abhängigkeiten von Theaterensembles und den Besetzungskonventionen der Repertoires, wobei sie mangelnde Synergieeffekte zwischen Seria- und Buffa-Personal vermutete.

Weitere Beiträge thematisierten landläufige Mythen in Form einer reflexiven Hinwendung zur Rezeptionsgeschichte. Jene des wohl berühmtesten aller Kastraten, Farinelli, nahm sich Daniel Martìn Saez (Granada) vor und zeigte, wie sehr bereits die zeitgenössische Presse und Popkultur zur Legendenbildung um dessen Spanienaufenthalt beigetragen und den Blick der Forschung bis heute beeinflusst haben. Als neuartigen Zugriff auf den zeitgenössischen Starkult schlug Gesa zur Nieden (Greifswald) vor, das Korpus der in John Walsh’s Favourite Songs (1721-1765) verewigten Arien berühmter Kastraten zu erforschen, welche nach ihren Interpreten, nicht etwa den Komponisten zusammengestellt wurden. Auch die aktuelle und populäre Rezeption des Kastratenphänomens wurde thematisiert. So befragte Corinna Herr (Bochum) Youtube nach den Kastraten und bekam mit einer Mixtur aus Farinelli-Szenen – also Ausschnitten aus dem Film von Gérard Corbiau von 1994 –, Aufnahmen von Alessandro Moreschi und Videos von Countertenören typisch undifferenzierte Antworten. Anhand letzterer thematisierte sie Strategien des Selbstmarketings junger Musiker, denen eine gewisse mythische Aura des Kastratengesangs offenbar zupasskommt.

Mit der kulturellen, sozialgeschichtlichen und weiteren musikhistorischen Kontextualisierung befasste sich ein weiterer inhaltlicher Block. Thomas Seedorf (Karlsruhe) und Melania Bucciarelli (Trondheim) brachen eine Lanze für die Forschung zu Sängerinnen im Zusammenhang mit Kastratensängern. Seedorf widmete seine Projektvorstellung besonders den Sängerinnen ‚en travesti‘ in primo-uomo-Rollen und Fragen wie jener nach einem spezifisch weiblichen Heldengesang, während Bucciarelli das interdisziplinäre, internationale Forschungsprojekt „Women, Opera and the Public Stage in Eighteenth-Century Venice“ (WoVen, 2021-2026) vorstellte.

Sozioökonomische und politische Umstände des Kastratengesangs forderte Helen Berry (Newcastle) einzubeziehen. Sie referierte die ausschweifenden Geburtstagsfeierlichkeiten zum 21. Geburtstag des William Beckford in Neapel. Die engagierten prominenten Kastraten seien das Aushängeschild für das kulturelle Kapital und den Reichtum der Familie gewesen – welchen diese aus Zuckerplantagen auf Jamaika, dank Kolonialismus und Sklaverei erwirtschaftet hätte. Anne Desler (Edinburgh) brachte in Hinblick auf die Kritik an Kastratengesang mit dem Beispiel Englands die nicht zu unterschätzenden kulturellen Prägungen und Fronten ins Spiel, die Religionszugehörigkeiten bedeuteten. Während Bonnie Gordon (Virginia) die Querverbindungen zwischen der Geschichte der Chirurgie und der Entwicklung einer ‚instrumentalen‘ Gesangstechnik zu Beginn der Kastraten-Ära thematisch fruchtbar machte, beschäftigte sich Norbert Fintzsch (Köln) aus Sicht der Geschlechtergeschichte mit dem Niedergang des Kastratensängertums. Zwar hätten Kastraten in der Frühen Neuzeit zunächst soziale Grenzräume besetzen können, jedoch habe ein Prozess des ‚somatic othering‘ zum Niedergang der nicht-binärgeschlechtlichen, nicht-reproduktiven Sexualitäten geführt.

In der Keynote nutzte Martha Feldman (Chicago) einen Vergleich der frühneuzeitlichen Kastratensänger mit heutigen Trans-Künstler*innen als Ausganspunkt für poststrukturalistisch und genderwissenschaftlich fundierte kulturphilosophische Überlegungen. Zwar regten beide in ähnlicher Weise dazu an, über Dichotomien wie geschlechtliche Tatsachen vs. Zuschreibungen, Repräsentationen des Seins vs. des Werdens nachzudenken; während Trans-Sänger*innen jedoch die Transitivität lebten – und teils auch in aktuellen Inszenierungen darstellten – und sich Klassifikationen des Seins entzögen, hätten die Kastraten stets in geschlechtsnormative Richtung tendieren müssen. Ebenfalls metareflexiv lud im Abschlussvortrag Jessica Peritz (Yale) dazu ein, Kastraten als historiographische Symbolfiguren und Ausgangspunkte für eine ‚kulturelle Archäologie‘ im Sinne Johann Joachim Winckelmanns zu betrachten. Am Beispiel von Gaspare Pacchierotti erörterte sie die von ihm ‚verkörperten‘, beziehungsweise von Autoren auf ihn projizierten Gefühle. Die seiner Gesangsweise eigene besondere Sentimentalität habe ihn dazu prädestiniert, als Projektionsfläche für Vorstellungen einer Versöhnung von Materialität und Vergänglichkeit, Natur und Kultur, Klassizismus und Frühromantik zu dienen.

Damit stand die Frage im Raum: Was verraten Repräsentationen von Kastraten als Siglen kultureller, gesellschaftlicher, historiographischer Haltungen? Die Diskussion über die jeweiligen Standorte der Forschenden sowie der unterschiedlichen theoretischen und methodischen Zugänge wurde als Desiderat benannt und die Suche nach den Grundlegungen einer multidisziplinären Kastraten-Forschung als mögliches Schwerpunkt-Thema für eine nächste Tagung anvisiert.