Raubgut – Fluchtgut. Internationale Tagung zur Provenienzforschung im Bereich Streichinstrumente und die Rolle der Schweiz im Instrumentenhandel seit den 1930er-Jahren
Brienz, 4.-5.04.2022
Von Thomas Gartmann, Bern – 22.07.2022 | Bei Streichinstrumenten steht die Provenienzforschung noch weit größeren Herausforderungen gegenüber als bei Kunstwerken: Die einzelnen Objekte sind weit schwieriger zu identifizieren; als Gebrauchsgegenstände werden sie viel häufiger verändert; und weil eine Geige nicht wie ein Bild an der Wand hängt oder im Tresor liegt, sondern im Arm des Spielers, besteht auch eine besonders innige Beziehung zu ihr.
Angesichts der aktuellen Schweizer und internationalen Debatten um Raub- und Fluchtgut in der Sammlung Bührle hat sich gezeigt, dass der entsprechende Diskurs bei Musikinstrumenten noch kaum aufgenommen wurde. Die Provenienzforschung in Bezug auf geraubte Musikinstrumente ist ebenso wenig wie in anderen Feldern systematisiert. Forschende sehen sich mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert, nicht zuletzt deshalb, weil Grundlagenforschung, wie etwa die Öffnung und Erschließung einschlägiger Archive, vielerorts noch ein Desiderat ist. Darüber hinaus erfordert dieses besondere Forschungsfeld eine multidisziplinäre Expertise.
Um bisher tabuisierte oder schlicht vergessene Diskussionen in Bewegung zu bringen, haben nun die Geigenbauschule Brienz zusammen mit der Universität Bern und der Hochschule der Künste Bern HKB die Initiative ergriffen und Anfang April zu einer Tagung nach Brienz eingeladen. Eine gewinnbringende Aufarbeitung lässt sich nur mit einem interdisziplinären Ansatz erreichen. Hierfür wurden Fachleute aus den Bereichen Provenienzforschung, Geschichts- und Rechtswissenschaft, Geigenbau und Instrumentenhandel, Musik und Musikwissenschaft sowie Restaurierung und Kunsttechnologie zusammengeführt.
Zunächst wurden die historischen Hintergründe aus den drei Perspektiven der Opfer, der Täter und der Objekte skizziert: Sophie Fetthauer (Hamburg) stellte die Herausforderungen des Lexikons verfolgter jüdischen Musikerinnen und Musiker der NS Zeit (LexM) mit seinen oft abgebrochenen Biografien vor, insbesondere auch, was die Freie Szene und geografisch noch wenig erschlossene Gebiete in Europas Osten betrifft, die gerade heute wieder traurige Aktualität erlangt haben. Michael Custodis (Münster) schilderte den Sonderstab Musik beim Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg als eigentliche Agentur des Kulturgüterraubs, bei der Museen, Orchester und Wissenschaftler richtiggehend Bestellungen aufgaben, meist als Geheimsache: ein Schweigekartell, das auch in anderen Bereichen zu beobachten ist. Carla Shapreau (Berkeley) zeigte an zahlreichen Beispielen die Mechaniken dieses Massenraubs auf, dem übrigens nicht nur jüdische Menschen, sondern auch Sinti zum Opfer fielen.
Wie wichtig es bezüglich des Geigenhandels wäre, Geschäftsbücher zu öffnen und Privatarchive zugänglich zu machen, zeigte der Geigenhändler Robert Brewer Young (London) anhand der Geschäftsbeziehungen der Hill Company. Jason Price vom Auktionshaus Tarisio (New York) beleuchtete den transatlantischen Geigenhandel während des Zweiten Weltkriegs und verwies auf das Vorbild des Cozio-Archivs. Jean-Philippe Echard (Paris) stellte die Bemühungen des Pariser Musée de la Musique gegen die Verschleierung von Geschichte vor und verriet, wie man dank der Kryptographie auch in Geheimschrift festgehaltene Preise eruieren konnte. Der Geigenbauer Mark Wilhelm (Suhr) machte an Fallbeispielen aus dem „Geigenkrieg“ die Dimension der Schweiz als Umschlagsplatz deutlich, der in kriminellen Fällen auch vor Betrug, Fälschung und Hehlerei nicht zurückschreckte.
Mit detektivischem Spürsinn rekonstruierte Heike Fricke (Leipzig) Kriegsverluste der Berliner Musikinstrumentensammlung. Philipp Hosbach (Leipzig) ergänzte am Fallbeispiel der Kaiser-Reka-Sammlung die Problematik jenseits klassischer Musikinstrumente. Josef Focht (Leipzig) zeigte anhand von musiXplora, was die Digital Humanities im Zusammenführen und Identifizieren von Beständen auch für Nachbardisziplinen leisten können, wenn sie Methoden der Kriminalistik wie die Rasterfahndung aufnehmen. Der Geigenbauer und Restaurator Balthazar Soulier (Bern/Paris) nahm den Ball mit Blick auf die Forensische Materialitätsforschung auf und demonstrierte, wie das Verwischen von Spuren und der Etikettenschwindel oft wörtlich genommen wird, dank einer Untersuchung von Lacken, Zetteln, Stempeln und weiterer Indizien aber aufgedeckt werden kann. Er plädierte dabei dafür, dass Händler und Geigenbauer ihre Arbeiten im Instrument selbst vermerken müssten, um dieses später einwandfrei identifizieren zu können. Michael Baumgartner (Basel) erwies sich einmal mehr als Experte für Identifizierungen, Fehlzuschreibungen, Fälschungen und Schiebereien.
Abgerundet wurde die Tagung durch die Historikerin Pascale Bernheim (Paris) mit einer Vorstellung der Aktivitäten der von ihr mitbegründeten Association Musique et Spoliations und die Juristin Sandra Sykora (Zürich), welche ernüchtert die Grenzen einer juristischen Aufarbeitung und Restitution aufzeigte und zumindest für Deutschland und die Schweiz an die innere Haltung und Branchenethik appellieren musste.
Ergänzt wurden die Referate mit vier Gesprächsrunden und einem Solorezital der Geigerin Tiffany Tan (HKB), die Stücke von Komponisten und Komponistinnen präsentierte, die verfemt, verboten, deportiert, in den Untergrund oder in die Flucht getrieben wurden: Erwin Schulhoff, Stefan Wolpe, Grażyna Bacewicz und Paul Hindemith, wobei zwischen diese Kompositionen Tanzsätze von Johann Sebastian Bach als dem Inbegriff deutscher Kultur eingewoben wurden.
Anschließend an die Brienzer Tagung fand in Paris ein ergänzendes Symposium statt: The spoliation of musical instruments in Europe. 1933–1945.
Die von großem gegenseitigem Vertrauen geprägte und von den verschiedenen Anspruchsgruppen sehr gut besuchte Veranstaltung (nur die Musiker selbst kamen nicht) zeigte exemplarisch Wege auf, wie man in diesem komplexen Feld weitergehen muss: Netzwerke bilden, sich trauen, andere zu fragen, weitere Bestände eruieren und aufarbeiten und zur Verfügung stellen. Gerade weil sich die Bestände von Museen und Händler komplementär zueinander verhalten, braucht es eine Zusammenarbeit von Privatleuten und Institutionen, wobei auch die Interessenskonflikte thematisiert werden müssen. Wichtig ist es zudem, eine bestimmte Leichtigkeit zu entwickeln, um die Leute zu erreichen: lebendig vermitteln, Geschichten erzählen, wie es die Presse teils schon aufgenommen hatte.
Bereits angedacht ist, den Arbeitskreis Provenienzforschung um einen Arbeitskreis Musikinstrumente zu erweitern. Vorgesehen ist außerdem ein Berner Forschungsprojekt zur Schweiz.