Robert Schumann – Musiktheoretische Perspektiven
Zwickau, 08.-10.04.2022
Von Martin Hecker unter Mitarbeit von Paul Zoder, beide Bremen – 19.12.2022 | Das von der Robert-Schumann-Gesellschaft Zwickau ausgerichtete Symposium fand in Kooperation mit der Hochschule für Künste Bremen unter erfreulicher Resonanz in hybrider Form im Robert-Schumann-Haus Zwickau statt. Dessen Direktor Thomas Synofzik und Florian Edler (Bremen) sprachen die Grußworte. Dabei freute sich Edler insbesondere über die Möglichkeit zur musiktheoretischen Forschung, welche in Bezug auf Schumann häufig Neuland betrete. Dessen Musik widerstrebe mitunter einer schnellen Analyse, da sie zur Mehrdeutigkeit neige.
Annegret Huber (Wien) fasste darauf das musikwissenschaftlich-philosophische Umfeld weiter, indem sie zunächst auf Metaebene theoretische Konzepte zu Analysen vorstellte, dort „plurale Welten“ untersuchte, „nach Wahrheiten in diesen Welten“ fragte, um im anschließenden Perspektivenwechsel zur „qualitativen Sozialforschung“ nach „Erprobung“ in verschiedensten Analysen zu forschen und „blinde Flecken“ der Forschung ausfindig zu machen. Gespannt wurde ein Bogen von Nelson Goodman (Ways of Worldmaking) über Marian Füssel (Praktiken historisieren), Adele Clarke (Situational Analysis), Ludwik Fleck (Denkstil & Denkkollektiv), Helen Longino (Forschen als soziale Praxis), Marion Guck (Music Theory Spectrum) und Anselm Strauss (Grounded Theory). Huber vermittelte so einen ausführlichen Überblick zur derzeitigen soziologisch-philosophischen Analyse-Forschung.
Anschließend fragte Edler in seinem Vortrag: „Taugt poetische Musik als Muster?“ Dazu zog er Schumann-Exempla in Harmonielehren seit dem 19. Jahrhundert zu Rate. So sei Musik, welche als „Ausdruck individueller Seelenzustände“ verstanden werde, nur bedingt auch als ,Muster‘ geeignet. Als zusätzliches Hemmnis für eine Schumann-Rezeption speziell in französischen Harmonielehren komme eine verbreitete antideutsche Stimmung hinzu, besonders im späten 19. Jahrhundert. Fehle der Komponist in den meisten dieser französischen Traktate vollständig, so fänden sich auch im deutschsprachigen Raum Schumann-Beispiele vermehrt erst im 20. Jahrhundert. Führe etwa Arnold Schönberg Schumann als Beispiel für eine Regelüberschreitung an, so nähmen Johannes Schreyer, Ebenezer Prout und Ernst Kurth in ihren Harmonielehren auf Schumann im Sinne einer maßgeblichen Instanz Bezug. Riemann habe ihn als Liedkomponisten gewürdigt, seinen Chorsatz aber aufgrund häufiger Oktavierungen kritisiert. In den siebziger Jahren trennten sich Diether de la Motte und andere Autoren von der Vorstellung Schumanns als eines Vorläufers Wagners und sahen in ihm eine Besonderheit sui generis.
Bodo Bischoff (Kleinmachnow) suchte in seinem Referat anhand zahlreicher Beispiele seine zu Beginn geäußerte These von Schumanns Hang zur „Atonikalität“ zu belegen. Er konnte zeigen, wie Schumann schon in seinen frühen Jugendliedern (1827/28) häufig erst im Verlauf der Kompositionen zur Grundtonart findet. Auch die Tonartencharakteristik sei für Schumann von Bedeutung. Bischoff zeigte anhand von Beethovens Klaviertrio B-Dur op. 97 die Verwendung von Zirkelmodulation in der formalen Anlage. Im Weiteren wurden ähnliche Verfahren anhand von Schumanns Klaviersonaten op. 11 und 14 sowie seiner Novellette op. 21 Nr. 1 angeführt.
Den zweiten Tag des Treffens, welcher sich zunächst Aspekten des Kontrapunkts bei Schumann widmete, eröffnete Maria Teresa Arfini (Rom). Sie untersuchte Schumanns Klavierkammermusik der Jahre 1842–1847 auf kontrapunktische Strukturen wie Imitation, Bicinium, Kanon, Fuge und Umkehrungstechniken und stellte fest, dass solche Techniken in reichem Maße Anwendung finden, oft jedoch in nicht schulgemäßer Form – etwa wenn Schumann mitunter Passagen in verschiedenen Instrumenten verdoppele und sie gegeneinander verschiebe („heterophonic doubling/displacement“), um eine „Kontrapunkt-Illusion“ entstehen zu lassen.
Patrick Boenke (Wien) stellte darauf „Technische und ästhetische Aspekte der Fugenkomposition Schumanns“ vor. Er dokumentierte die Entwicklung des Komponisten, die in der Lehrzeit bei Heinrich Dorn zunächst mit einer Abneigung gegenüber der Fugenkomposition begann, um 1845 aber zu einer „Fugenpassion“ führte. So habe sich Schumann gemeinsam mit Clara Schumann auch mit Lehrwerken Marpurgs und Cherubinis auseinandergesetzt. Für Erstaunen bei den anwesenden Theoretiker*innen sorgte Schumanns in seinen frühen Fugenstudien auffällige Vorliebe, Themen auf leiterfremden Tönen (z. B. auf Gis in G-Dur) einsetzen zu lassen. Auch die Sechs Fugen über B-A-C-H op. 60, die Fugen op. 72 sowie die Klavierstücke in Fugettenform op. 126 kamen zur Sprache. Die Spaltung zweier Linien aus einem Ton heraus in Thema und Kontrapunkt oder der Verzicht auf strenge kontrapunktische Behandlung zugunsten von Akzentverschiebungen wurden als typische Merkmale der Fugenkomposition Schumanns gesehen.
Den statistischen Fokus Arfinis und die kompositionstechnische Perspektive Boenkes ergänzte Timo Evers (Göttingen) aus biographischem Blickwinkel mit einem Vortrag über Schumanns Beschäftigung mit Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhandlung von der Fuge (1753/54), der sich vor allem auf Schumanns unpubliziertes Manuskript Fugengeschichten stützte, das sich im Robert-Schumann-Haus Zwickau befindet. Auch Schumanns sechs Fugen aus dem Studienbuch IV bieten Einblicke in seine kritische Auseinandersetzung mit Marpurgs Lehrbuch.
Armin Koch (Leipzig) rückte anschließend mit Schumanns musikschriftstellerischer Tätigkeit im Rahmen der Neuen Zeitschrift für Musik ein ganz anderes Arbeitsgebiet in den Blick und untersuchte dessen Rezensionen von Oratorien-Publikationen Carl Loewes, Ferdinand Hillers und Eduard Sobolewskis aus den Jahren 1841/42 unter dem Aspekt der dahinterstehenden Oratorien-Theorie. Schumanns Kritiken, die außer bei Hiller auf Klavierauszügen basieren, bieten Nacherzählungen der Handlung, Bewertungen, Ratschläge und Besprechungen der jeweiligen Dramaturgie und sind aufschlussreich für die Wandlung der Genrewahrnehmung.
Eine Randerscheinung für die Aufführungspraxis wählte Lukas-Fabian Moser (Salzburg) zum Thema, nämlich Schumanns Klavierbegleitung zu J. S. Bachs Suite Nr. 3 für Violoncello solo BWV 1009 (Clara Schumann hatte nach Schumanns Tod alle Klavierbegleitungen der übrigen Cellosuiten vernichtet). Dabei thematisierte Moser nicht nur die Visualisierung des immanent Mehrstimmigen, sondern auch ein Ergänzen und Umdeuten, wobei er durch Konfrontation etwa mit den parallelen Klavierbegleitungen von Wilhelm Stade die spezifischen Intentionen Schumanns herausarbeiten konnte.
Synofzik ging mit der Wahl seines Themas aus der Editionspraxis auf die speziell musiktheoretische Ausrichtung des Symposiums ein und referierte über Unterschiede zwischen Alter und Neuer Gesamtausgabe von Schumanns Klaviermusik. Dabei bezog er sich auf die zwischen 1881 und 1886 veröffentlichte Neuedition durch Clara Schumann (unter Mitwirkung von Johannes Brahms und anderen) und die seit 1990 erscheinende Neuausgabe der Düsseldorfer Schumann-Forschungsstelle. Überraschenderweise war Clara Schumann meist zurückhaltender mit Emendationen als heutige Editoren. In Briefen begründete sie Beibehaltung oder Abänderung von Akzidentiensetzung oder stimmtechnischen Details teilweise mit Äußerungen Schumanns. Die an solchen Stellen in einer heutigen Gesamtausgabe zu treffenden Entscheidungen erfordern nicht zuletzt eine satztechnische Expertise, wie sie Musiktheoretiker*innen mitbringen.
Ariane Jeßulat (Berlin) zeigte in ihrem Vortrag unterschiedliche Varianten der „inneren Stimme“ in Schumanns Klaviersatz auf. Sie untersuchte zunächst Vorschläge, Unschärfen (analog zum „heterophonic displacement“ bei Arfini) und Appogiaturen in der Humoreske op. 20 (Takt 1–6), den Zwischen- und Nachspielen im siebten Lied des Liederkreises op. 24, den Fantasiestücken op. 12 (Nr. 4 „In der Nacht“, Takt 69–83) und im Liederkreis op. 39 (Nr. 10 „Zwielicht“, Takt 43–47). Anschließend öffnete sie das Thema und konfrontierte Schumanns Denkmodelle mit jenen von John Cage und Dieter Schnebel, insbesondere in dessen „Epilogo“ aus Auguri (1993). Beim Vergleich von John Cages Winter Music (1957) mit Schumanns Kreisleriana Nr. 2, Takt 25–37 verwies Jeßulat auf Streckungen von Akkorden, welche im Notentext durch bewusst zu groß bemessene Intervalle bei der Ausführung zu unsichtbaren Appoggiaturen gerieten.
Harald Krebs (Victoria/Kanada) setzte sich sodann mit der Deklamation in Schumanns Faust-Szenen auseinander. Dafür beleuchtete er zunächst den Einfluss Richard Wagners, der in seiner kunsttheoretischen Schrift Oper und Drama unter anderem behauptet, die Wahl „zu melodischer Verse“ – zum Beispiel von Goethe – ließen auf „Skrupel beim Vertonen schließen“. Mit kritischem Bezug auf diese These untersuchte Krebs anhand der Szene „Gretchen vor dem Bild der Mater dolorosa“ (Erste Abteilung, Nr. 2) das Verhältnis von Prosa und musikalischer Umsetzung. Er verdeutlichte, dass Schumanns Musik dem Versmaß nicht genau folge, sondern den Gedichttext mit individuellem Rhythmus versehe. So nutze Schumann Pausenunterschlagung und Tempowechsel für klangmalerische oder textdeutende Wirkungen.
Martin Skamletz (Bern) gab eine differenzierte Einführung in Schumanns Verwendung von Natur- und Ventilhörnern sowie -trompeten im Orchester. Besonders instruktiv war dabei die Gegenüberstellung der Horn- und Trompetenstimmen in Schumanns Klavierkonzert op. 54 (1841-45) und dem in derselben Tonart stehenden Cellokonzert op. 129 (1850) – im ersteren Fall Partien für Naturinstrumente, im zweiten Fall für Ventilinstrumente. In Werken wie dem Adventlied op. 71 (1848) oder der Festouvertüre mit Gesang über das Rheinweinlied op. 123 (1853) setzte Schumann beide Instrumente zum Teil sogar nebeneinander ein. Somit verlief der Übergang vom Natur- zum Ventilhorn fließend, brachte jedoch einen neuen und veränderten kompositorischen Umgang mit sich.
Mit dem Beitrag von Jan Philipp Sprick (Hamburg), der sich der Struktur und Hermeneutik in Schumanns Lied „Er, der Herrlichste von allen“ (Frauenliebe und Leben op. 42, Nr. 2) widmete, entstand eine Gegenthese zu der am Vortag herausgestellten Tendenz Schumanns zur Musterverschleierung. Sprick nahm auf Edlers eröffnenden Vortrag zu Schumanns Mustertauglichkeit Bezug und stellte fest, dass Schumann selbst zum Teil durchaus modellhaft vorging. Er demonstrierte eine klare Liedform: A-A-B-A’C-C-A’’, 4-3-/9-8-Vorhalte als Startpunkt für eine steigende Sequenz in Teil B, chromatische Rückung zur Textausdeutung in Teil A’ sowie Quintfall in Teil A’’. Ein Wechsel von der anfänglichen traditionellen „kontrapunktischen Tonalität“ zu einem Ausblick auf „neue, flächige Harmonik“ charakterisiere die Form des Stücks.
Gesine Schröder (Leipzig/Wien) legte ihr besonderes Augenmerk in ihrem Beitrag „Zur Textur in Schumanns Andersen-Liedern op. 40“ auf die schnelle Niederschrift im Zeitintervall vom 16. bis 18. Juli 1840. Zur Rekonstruktion des Kompositionsprozesses zog Schröder Carl Czernys Schriften über das Fantasieren hinzu. In den ausnahmslos durchkomponierten Liedern dominiert zumeist ein kontinuierlich anzutreffendes individuelles Bewegungsmodell. Allerdings widersprechen vorläufige Skizzen Schumanns zur Melodiestruktur der Automatismus-These Schröders in Bezug auf den hypothetisch angenommenen nachtwandlerischen Schaffensprozess, worauf in der anschließenden Diskussion hingewiesen wurde.
Der dritte Tag des Symposiums widmete sich Schumanns Instrumentalwerken. Kilian Sprau (Berlin) untersuchte in seinem Referat das erste Stück der Gesänge der Frühe op. 133. Die dort zu beobachtende Intensivierung innerhalb des Formprozesses hinsichtlich der Dynamik, des Ambitus’, der Satz- und Abschnittsdichte bei fünfmaliger Wiederholung des Ausgangsmaterials setzte er in Beziehung zu Ernst Kurths energetischem Formmodell, welches zuerst an Anton Bruckner entwickelt wurde und als zentrales Konzept die „symphonische Welle“ beinhaltet, um den durch An- und Abschwellen bewirkten Spannungsverlauf innerhalb eines Satzes zu beschreiben.
Ullrich Scheideler (Berlin) betrachtete Schumanns Umgang mit Satzmodellen. Am Beispiel von Nr. 1 der Kreisleriana zeigte er, wie das zugrundeliegende Oktavregel-Modell durch rhythmische Verrückungen zwischen linker und rechter Hand verschleiert wird. Bei den chromatisch absteigenden Bass-Modellen kann, so Scheideler, zwischen dem „Lamento mit immanentem Quintfall“ (Davidsbündlertänze, Nr. 7) und dem „Lamento mit Fauxbourdon“ differenziert werden. Dabei erfüllen die Modelle eine Doppelfunktion sowohl als Träger der Formdramaturgie wie auch als Ausdrucksträger im Sinne von Topoi. Der Reiz bei Schumann besteht auch hier im gleichzeitigen Überlagern, Variieren und Ausdehnen von Modellen.
Birger Petersen (Mainz) referierte über modulares Komponieren und Satzmodelle in Schumanns Orgelkompositionen, welche ursprünglich für Pedalflügel konzipiert waren. Als Ausgangspunkt diente die These Bernhard R. Appels, Schumann habe im Frühwerk nur austauschbare Modelle aneinandergereiht und taktweise vorwärts komponiert (von Appel mit dem Fehlen von überlieferten Verlaufsskizzen bis op. 10 begründet) und Schwierigkeiten mit der ,großen Form‘ gehabt. Am Beispiel von op. 58 Nr. 1 führte Petersen hingegen aus, inwiefern die Kompositionen für Pedalflügel eine abgeschlossene Form und Zyklizität aufweisen. Die Skizze op. 58 Nr. 1 verfolge als Grundidee die metrische Brechung des 3/4-Taktes. Das Werk sei kontrapunktisch organisiert und falle in die Zeit der Marpurg-Studien Schumanns. Petersen resümierte, man könne von einer Komposition aus ineinandergreifenden Satzmodellen sprechen.
Während des Symposiums kamen nahezu alle wichtigen Bereiche der kompositorischen, redaktionellen und schriftstellerischen Produktion Schumanns zur Sprache. In Bezug auf die Organisation und Koordinierung sei an dieser Stelle nochmals Florian Edler und Thomas Synofzik gedankt, ohne deren immense Vorarbeit die Tagung nicht hätte stattfinden können. Sie wurde abgerundet mit einer Führung Synofziks durch die Dauerausstellung des Robert-Schumann-Hauses sowie einen Klavierabend mit Heejoo Yoon und ein Kammerkonzert, in dem Studierende der Hochschule für Künste Bremen Schumannsche Raritäten zu Gehör brachten. So erklangen Schumanns Andante und Variationen für 2 Klaviere, 2 Celli und Horn in originaler Besetzung, welchen als Uraufführung Paul Zoders Komposition alternativen für die gleiche Besetzung gegenübergestellt wurde.