Symposium „Musik, Netzwerke, Selbstzeugnisse: Aktuelle Forschung zu Hans Werner Henze“
Detmold/Paderborn, 19.-20.11.2022
Von Luise Adler, Anna Ricke – 07.12.2022 | Im Rahmen des von Antje Tumat geleiteten DFG-Projekts „Henze Digital – Hans Werner Henzes künstlerisches Netzwerk“ werden aktuell in Detmold Briefe des Komponisten erstmals in einer digitalen Edition aufgearbeitet und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei wird auch das vielfältige künstlerische Netzwerk Henzes aufgezeigt. Gleichzeitig konnte seine ehemalige Privatbibliothek per Schenkung als Sondersammlung in die Bibliothek des Musikwissenschaftlichen Seminars Detmold/Paderborn überführt werden, wo sie derzeit in einem von der Ernst von Siemens-Musikstiftung und der Mariann-Steegmann-Foundation finanzierten Projekt bibliothekarisch erschlossen und inventarisiert wird. Im Rahmen des Projekts fand nun das von Antje Tumat, Irmlind Capelle, Elena Minetti und Dennis Ried veranstaltete internationale und interdisziplinäre Symposium „Musik, Netzwerke, Selbstzeugnisse: Aktuelle Forschung zu Hans Werner Henze“ mit ForscherInnen und Weggefährten statt. Das eintägige Symposium mit Konzert und Lesung am folgenden Tag zeigte dabei in Vorträgen und Diskussionen, wie reich und vielfältig sich die internationalen Forschungen zu Henze darstellen.
Nach einer Begrüßung und Einführung in das Projekt durch Antje Tumat boten zunächst Irmlind Capelle, Elena Minetti und Dennis Ried einen ersten Einblick in die aktuelle Arbeit, darunter die Erschließung der Korrespondenz Henzes mit Hans Magnus Enzensberger oder Miguel Barnet sowie die daraus gewonnen Erkenntnisse über sein Wirken in verschiedenen künstlerischen wie politischen Netzwerken. Darüber hinaus wurden auch das editorische Vorgehen, Herausforderungen und Potentiale sowie erste Ergebnisse der digitalen Edition präsentiert. Eine weitere, in diesem Fall gedruckte Briefedition stellten Andreas Baumgartner und Wolfgang Rathert (München) vor, die über ihre Ausgabe der Korrespondenz mit Karl Amadeus und Elisabeth Hartmann („Offenheit, Treue, Brüderlichkeit“) berichteten. Sie gingen dabei sowohl auf inhaltliche Aspekte (u. a. auf die Beziehungen zu Luigi Nono und Pierre Boulez) als auch auf spezielle editorische Problemstellungen wie beispielsweise die adäquate Kommentierung der Briefe ein.
Die Beiträge des darauffolgenden Abschnitts befassten sich mit diversen Aspekten aus Henzes Frühwerk. Adrian Kuhl (Frankfurt a. M.) nahm in seinem Vortrag die Uraufführungsfassung von Tatjana Gsovskys und Henzes Der Idiot (1952) in den Blick. Die Untersuchung von Gsovskys tanztheatralen Konzepten und deren Zusammenwirken mit der Musik lege die Interpretation des Stücks als Ballettexperiment nahe. Zafer Özgen (Oslo) ging am Beispiel der frühen Opern – König Hirsch (1956), Der Prinz von Homburg (1959) und Die Bassariden (1965) – Aspekten der Klangsprache nach. Neben einer Analyse unterschiedlicher Mittel zur Klanggestaltung bot er ebenfalls einen Einblick in relevante künstlerische Einflüsse, Entstehungsbedingungen sowie persönliche Ereignisse in Henzes Leben. Der Vortrag Alexander Lotzows (Kiel) widmete sich Drei Tentos (1958). Er skizzierte anschaulich die Entstehung und Auskopplung der aus der Kammermusik 1958 entnommenen Sätze für Gitarre solo. Dabei arbeitete er auch den fast schon pasticcioartigen Charakter der Stücke, die für die Werkgenese wesentlichen künstlerischen Netzwerke und Kontakte sowie die Aufführungsgeschichte heraus und ging anhand von Tento I auf Details der Komposition ein.
Benedikt Leßmann (Wien) stellte im nächsten Vortragsblock Überlegungen zu Henzes Filmmusiken am Beispiel von Un Amour de Swann (1984) vor. Ausführungen zur Entstehungsgeschichte folgte die Feststellung, Henzes Filmmusik sei nicht nur von der Forschung bisher wenig beachtet, sondern auch von Henze selbst nicht im engeren Sinne als Teil seines Œuvres gesehen worden. In diesem Zusammenhang arbeitete Leßmann zunächst die Verortung gegenüber Hollywood und den Status von Filmmusik bei Komponisten der Avantgarde heraus, bevor er Un Amour de Swann in den Fokus nahm. Der für die Zeichnung der Hauptfiguren psychologisch bedeutsamen Musik komme eine zentrale Stellung im Film zu, was sich auch in der Entstehung und Arbeitsweise widerspiegele, nämlich im „Komponieren in Variationen“ Henzes und drei seiner Komponisten-Schüler (David Graham, Gerd Kühr, Marcel Wengler), wodurch die Filmmusik zu einer Produktion aus der „Werkstatt Henze“ werde. Anschließend ging Federica Marsico (Teramo) auf queere Lesarten von Duetten in Henzes Opern Venus und Adonis (1995) und den Bassariden ein. Hierfür untersuchte sie die Darstellung der Figuren Dionysus, Pentheus, Mars und Adonis in Henzes Opern, bevor sie eine Reflexion der „queer related messages“ anschloss. Anhand der ausgewählten Duette sowie der Kontextualisierung durch andere „same sex“-Duette der Operngeschichte spürte sie schließlich einem möglichen queeren Subtext in der Musik nach. Die Simultanszenen in Henzes We Come to the River (1976) – auch im Vergleich mit Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten (1965) – thematisierte Milan Schomber (Detmold/Paderborn), indem er zunächst Forschungsstand und Fachdiskurs umriss. Anschließend ging er der Begriffsgeschichte der Simultanszene nach und stellte vor diesem Hintergrund die Faktur der Libretti, die theatrale Konzeption sowie die grundsätzliche musikalische Umsetzung des Simultanen in den Opern Zimmermanns und Henzes gegenüber. Hierbei wurden nicht nur die Unterschiede bezüglich der zugrundliegenden Konzepte, sondern auch in der konkreten Gestaltung der Simultanszenen deutlich.
Der abschließende, von Antje Tumat geleitete Roundtable brachte Henzes Weggenossen Gastón Fournier-Facio (Rom) und Michael Kerstan (Nürnberg) einerseits, sowie Simon Obert (Basel) von der Paul-Sacher-Stiftung, dem Aufbewahrungsort der Sammlung „Hans Werner Henze“, und Peter Petersen (Hamburg) als Stellvertreter der frühen musikwissenschaftlichen Henze-Forschung andererseits zusammen. In den persönlichen Erinnerungen, Berichten und Gedanken wurden zahlreiche Aspekte der Henze-Forschung deutlich: Unter anderem wurden Henzes Selbstinszenierung und politische Positionierung, sein musikalisches Handeln (beispielsweise in Montepulciano), sein Nachlass und dessen Erschließungsstand diskutiert sowie viele weiterführende Forschungsfragen formuliert. Der vortrags- wie inspirationsreiche Tag, der Diskussionsmaterial für deutlich mehr Zeit geboten hätte, gab damit einen aussagekräftigen Einblick in aktuelle Forschungen zu Henze, aber auch in Desiderate und Potentiale.
Das Symposium wurde am folgenden Tag musikalisch durch ein Konzert mit Lesung unter dem Motto „‚Die Musik erinnert sich an Wörter‘ – Kompositionen Hans Werner Henzes in Worten und Musik“ abgerundet. Studierende der Hochschule für Musik Detmold boten vielfältige Auszüge aus Henzes kompositorischem Werk: Den Beginn machte ein Trio für Mandoline, Gitarre und Harfe, Carillon, Récitatif, Masque (1974), gefolgt von Auszügen aus El Cimarrón (1970) und aus der Kantate Being Beauteous (1963). Kontextualisiert wurden die musikalischen Beiträge durch Lesungen aus den im Projekt erstmals erschlossenen Briefen an und von Henze. Insgesamt zeigten die beiden Tage, wie vielfältig, ergiebig und aktiv die internationale Henze-Forschung ist, und welche Perspektiven sich damit für die kommenden Jahre bieten.